23. Juni 2012, Braşov
Völlig anders als Turnu Severin. Keine Paläste. Kein Bollywood. Dieses Viertel erinnert Mattie eher an das andere Bombay, wo man die Blocks der Mittelklasse verlässt und unvermittelt in den dörflichen Strukturen einer Hüttensiedlung landet. Das Reich von Prinzessin Mattie liegt auf einem anderen Planeten.
Die kleine Frau mit den Smaragdaugen hat mehr Kraft, als man denkt. Energisch zieht sie Mattie durch einen dunklen Gang aus festgetretener Erde in einen Hof, an den auf der rechten Seite ein fragiles Etwas aus Holz und Mörtel grenzt.
Silvia Lăcătuş schlägt einen Vorhang aus orangefarbenem Stoff zur Seite. Das Wohnzimmer ist wie bei Paula ein Refugium voller Erinnerungsstücke und Fotos ihrer Kinder und Enkel.
»Setzen Sie sich!« Das Mädchen in Tanktop und Trainingshose ist hinter ihr ins Haus getreten.
Mattie setzt sich auf das Sofa und beobachtet einen kurzen Wortwechsel zwischen Mutter und Tochter. Die starke Persönlichkeit der Mutter überstrahlt alles, sogar die Armut.
»Leider haben wir keinen Kaffee, aber möchten Sie vielleicht einen Saft oder eine Cola?«
»Nein, danke. Ich habe bei Bogdan und Paula Kaffee getrunken. Ein Glas Wasser, wenn möglich.« Sie hat das Gefühl, dass in diesem Haus jeder Leu umgedreht wird. Saft und Cola sind in Rumänien fast so teuer wie in Deutschland, das weiß sie mittlerweile.
Das Mädchen verschwindet nach nebenan. Silvia zieht einen Sessel heran und setzt sich Mattie gegenüber. Ihr intensiver Blick ist voller Erwartung.
Mattie lächelt.
Silvia lächelt zurück.
Endlich kommt Nadina zurück und reicht ihr ein Glas Wasser. Sie setzt sich auf die Sessellehne ihrer Mutter. Die Geste hat etwas Kindliches, weniger Hip-Hop.
Schließlich greift Silvia in die oberste Schublade der Kommode und zieht einen Karton heraus. Sie reicht ihr erst ein Foto hinüber, dann noch eines.
Matties Hand zuckt. Auf beiden Bildern sieht man eine schwarze Form, der zur Unkenntlichkeit verkohlte Kopf eines Menschen.
»So hat sie ihn zurückbekommen«, übersetzt Nadina den leisen Kommentar ihrer Mutter. Und nach einem kurzen Seitenblick setzt sie hinzu: »Sergiu hat die Fotos gefunden, als er in ihren Sachen gewühlt hat. Sie wollte sie vor uns verstecken.«
Mattie schweigt. Es gibt nichts zu sagen.
»Und die hatte er im Jahr davor aus Deutschland mitgebracht.« Weitere Fotos, darauf ist Nicu noch lebendig. Er posiert vor dem Rohbau eines Einfamilienhauses. Nicu mit Bauhelm. Ein Grillfest.
»Sie sehen ihm sehr ähnlich.« Mattie sieht von dem Foto hoch zu Nadina.
»Das sagen alle.« Das Mädchen fasst nach der Hand ihrer Mutter. »Ich hab ihn ja nicht mehr zu Gesicht bekommen. Als ich geboren wurde, war er schon tot.«
Also ist sie heute neunzehn. »Wo sind diese Fotos entstanden?« Mattie versucht Einzelheiten zu erkennen. Die Häuser, die Landschaft. Könnte irgendwo in Süddeutschland sein.
Silvia spricht schnell und unterstreicht das Gesagte mit den Händen.
»Er war in einem Ort namens Wüstenrot. Mit Ion, seinem Bruder. Sie sagt, Onkel Ion ist ein Nichtsnutz. Er hat Papa überredet, ein zweites Mal nach Deutschland zu gehen. Und dann konnte er nicht mal bis zur Grenze auf ihn aufpassen. Dabei ist er der Ältere.«
Silvia weint.
»Sie sagt, wenn sie mit ihm gegangen wäre, wäre alles anders gekommen«, übersetzt Nadina.
Mattie nickt. Vielleicht. Aber mit lauter kleinen Kindern illegal über die Grenze? »Wussten Sie oder Ihre Mutter, dass noch ein zweiter Mann erschossen wurde damals?«
Nadina übersetzt. Silvias Überraschung ist echt. »Wir wissen gar nichts. Nur dass er erschossen wurde. Ein Mann von der Behörde am Flughafen hat ihr den Bericht des Arztes vorgelesen.«
Mattie berichtet, so gut sie kann, was sie über den damaligen Fall und seine aktuellen Folgen weiß. Als Nadina zu Uwe Jahns Tod und Adrianas Verhaftung kommt, klatscht Silvia in die Hände.
»Eine mutige Frau, sagt meine Mutter.«
Mattie erklärt, dass Adriana ihre Unschuld beteuert. Dann schildert sie ihren Besuch bei Familie Voinescu in Turnu Severin und deren Wunsch, den alten Fall wieder aufzurollen. Während sie spricht, merkt sie, dass Silvias Aufmerksamkeit ihr entgleitet. Es ist, als würde ein Schatten über ihr Gesicht ziehen.
Nadina beginnt zu übersetzen. Nach einer Weile unterbricht Silvia sie und feuert eine Salve kurzer schroffer Sätze ab. Nadina widerspricht, wird aber sofort zurechtgewiesen.
»Meine Mutter sagt, sie will natürlich, dass ihrem Mann Gerechtigkeit widerfährt. Aber ein Prozess und eine mögliche Entschädigung in der Zukunft nützen uns nichts. Wir brauchen jetzt sofort Geld.«
Mattie ist überrumpelt von dieser direkten Ansage.
Nadina sieht sie herausfordernd an. »So ist es nun mal. Denken Sie, was Sie wollen.«
»Ich denke gar nichts«, sagt Mattie, obwohl das nicht stimmt. Was erwarten diese beiden Frauen? Dass sie hier mit den Taschen voller Geld aufkreuzt?
»Wie viel brauchen Sie denn?« Das Gespräch nimmt eine Wendung, die ihr nicht behagt.
»Zweitausendvierhundert Euro«, antwortet Nadina sofort.
Silvias Augen funkeln. Wortreiche Erklärungen.
»Papa hat ihr gesagt, er hätte noch Geld in Deutschland. Sie glaubt nicht, dass er es Ion gegeben hat.« Nadina wirft ihrer Mutter einen Blick zu, der ›voll peinlich‹ bedeutet, egal in welcher Sprache. Trotzdem übersetzt sie weiter. »Sie glaubt, er hatte eine andere Frau. In Deutschland. Vorhin dachte sie, Sie wären das. Mama will, dass Sie nach Wüstenrot fahren und diese Frau suchen. Wir brauchen das Geld von ihr.«
Großartige Idee. Sie soll nach Wüstenrot fahren und dort nach zwanzig Jahren eine mögliche Geliebte finden, die dann freiwillig mal eben zwei Mille rausrückt? Die spinnen doch.
»Gibt es irgendwelche Unterlagen?«
Silvia überlegt, dann reicht sie ihr kurzerhand den ganzen Karton. Noch mehr Fotos? Mattie sieht hinein. Vergilbte Papiere. Ein Ordner mit Kontoauszügen. Moment mal, das Logo. Raiffeisenbank Wüstenrot.
Ruhig, Mattie. Erst mal die Papiere.
Datev-Bögen.
Das sieht nach einer Lohnabrechnung aus. Arbeitgeber war eine Fensterfabrik. Durften Asylbewerber damals arbeiten? In Wüstenrot offensichtlich schon. Nicu hat sogar Steuern und Solidaritätszuschlag gezahlt.
Dann schlägt sie den Pappdeckel über den Kontoauszügen auf. »Wann genau ist Nicu zurückgekommen?«
Nadina hat jede ihrer Bewegungen verfolgt und übersetzt wie aus der Pistole geschossen. Silvia überlegt und rechnet mit Hilfe ihrer Finger nach.
»Es war ein Sonntag im November 1991.«
Mattie blättert noch einmal durch. Dann holt sie ihr Handy aus der Tasche und ruft die Telefonnummer an, die hinten auf dem Ordner steht.
»Raiffeisenbank Wüstenrot, leider rufen Sie außerhalb unserer Öffnungszeiten an …« Verdammt, es ist Samstag.
Diese Augen! Kann die Frau nicht mal woandershin gucken?
»… in dringenden Fällen wenden Sie sich bitte an unsere 24-Stunden-Hotline unter 0800 …«
Mattie reißt einen Stift aus ihrer Tasche und kritzelt die Nummer hinten auf den Pappordner. Ohne weitere Erklärungen abzugeben, wählt sie noch mal.
»Guten Tag, mein Name ist Gabriele Thornow, was kann ich für Sie tun?«
Klingt eher nach Magdeburg als nach Schwabenland. Seufzend macht Mattie sich an die lange Erklärung der Umstände für ihren Anruf.
Die Antwort fällt wie erwartet genauso lang aus. Sie muss verstehen, dass man außerhalb der regulären Öffnungszeiten nur Notfälle bearbeite wie Verlust der Kreditkarte …
»Dies ist ein Notfall!«, schreit Mattie ins Telefon. »Glauben Sie mir!«
… und ohne Vollmacht gibt es keine Möglichkeit, vertrauliche Bankinformationen einfach so am Telefon …
»Können Sie mir denn nicht wenigstens sagen, ob dieses Konto existiert und das Geld noch drauf ist? Ja oder nein?«
Stille. Was macht die denn da? Kaffee trinken gehen?
»Wie war noch einmal die Kontonummer?«
Mattie liest die Nummer vor.
Sie hört das Geräusch langer Fingernägel auf der Computertastatur.
»Ja, auf beide Fragen. Auf Wiedersehen.«
Mattie starrt ungläubig auf ihr Handy.
Ein Toter hat seit zwanzig Jahren ein Konto, auf dem über dreitausend Euro liegen.