24. Juni 2012,
Kreuzberg
Berlin, Deutschland
Er hat die Augen geschlossen und lauscht dem Kampf zwischen Wind und Strom. Nick hat sich in sein Arbeitszimmer verkrochen. Es ist heiß. Das Schwitzen tut gut. Es erinnert ihn an produktive Zeiten in Bombay. Er öffnet die Augen und beginnt zu schreiben.
»Nikolaus!« Sie hat ihm die Kopfhörer abgenommen, nicht brutal, doch mit der ihr eigenen Autorität. »Was machst du denn hier oben?«
»Ich arbeite.« Er zieht sich sein T-Shirt über. »Sieht man das nicht?«
Jasmin hat Azim auf dem Arm. Sie setzt ihn vorsichtig auf den Boden. Der Hund liegt in einer Ecke in seinem Korb und hechelt. Azim krabbelt zu ihm hin und zieht sich an dem Korb hoch. Er weiß schon, dass er größer sein muss als der Hund, um den Kampf um Status zu gewinnen. Nick könnte ihm stundenlang dabei zugucken.
»Kannst du mal fünf Minuten mit mir kommunizieren?«
»Klar.«
Sie hockt sich ebenfalls auf den Boden, was Nick das Gefühl gibt, er sei ein ungelenkiger ignoranter König, der über den Köpfen seines Volkes thront.
»Heute ist Sonntag.«
»Hmm. Ja, kann sein.«
»Wir wollten doch wegfahren. Meinst du nicht, wir sollten mal darüber sprechen? Ich meine, man müsste ja vielleicht was buchen.«
König Nick überlegt, wie er es ihr sagen soll. »Eigentlich passt es gerade nicht so gut für mich.«
»Was heißt das denn jetzt? Du weißt genau, dass ich extra die zwei Wochen Urlaub eingeplant habe.«
»Hmmm. Ja, das mit dem Urlaub ist gut. Dann kannst du Azim nehmen. Ich würde gern noch was zu Ende bringen hier.« Er deutet auf den Laptop.
»Du schreibst?« Ihre Stimme klingt alarmiert. Angespannt. Nicht nett jedenfalls. »Machst du jetzt doch den Artikel zu Bombay fertig?«
»Nein.« Warum fällt es ihm bloß so schwer? Als würde er etwas Verbotenes tun. »Volker und Bettina haben mich gebeten –«
»Volker und Bettina? Du schiebst die beiden vor? Wie billig, Nikolaus.« Ihre Stimme wird scharf. Azim plumpst wieder auf den Hintern. »Du und Mattie, ihr habt den Fall doch überhaupt erst angeschleppt. Bettina hat mich gestern angerufen und mir gesagt, wie toll sie es findet, dass du mit im Boot bist. Und ich wusste nicht mal was davon!«
Nick ist ruhiger, jetzt wo es raus ist. »Ich wollte es dir heute sagen.«
»Und unser Urlaub? Ist dir egal?«
»Nein, Jasmin. Ich dachte, wir könnten vielleicht gucken, ob wir in Kollwitz ein Ferienhaus oder so was finden. Dann könnt ihr an den Strand, und ich kann trotzdem arbeiten. Gibt auch ein Delfinarium da.«
»Ich gehe prinzipiell in keinen Zoo, das weißt du.« Stimmt ja, sie mag keine eingesperrten Tiere. Der arme Azim wird lange warten müssen, bis er seinen ersten Elefanten in freier Wildbahn sieht. »Und Kollwitz ist echt der allerletzte Ort, wo ich gerade Ferien machen will. Liest du keine Zeitung? Da ist Wahlkampf. Die NPD geht los und rekrutiert Kinder vor einem Supermarkt!«
»Na ja, Azim ist vielleicht noch ein bisschen klein für so was.«
»Und was ist mit der radioaktiven Reststrahlung? Dafür ist er nicht zu klein.«
Nick muss lachen. Jasmin würde jedes Argument heranziehen, um nicht in den ehemaligen Osten zu müssen. »Hat deine Partei nicht immer gesagt, Atomkraft sei sicher?«
»Du erpresst mich, Nikolaus: entweder Kollwitz oder gar kein Urlaub.« Sie steht auf und geht zu Azim, der gerade ein paar Schritte geschafft hat. Schon hängt er wieder in der Luft. Scheiß-Leben. »Und ich lasse mich nicht gern erpressen. Azim und ich fahren mit dem nächsten Zug nach Kiel zu meinem Vater. Er möchte seinen Enkel kennenlernen.«
Er kann nichts mehr sagen, so schnell ist sie draußen. Zwanzig Minuten später hört er die Wohnungstür.
Nick starrt auf den Bildschirm. Seine Gedanken fahren Karussell. Wenn er sich nicht bewegt, wird die Gravitation zu stark.
Druck im Kopf.
Er hat noch die Car-Sharing-Karte. Der Wagen steht da, wo er ihn gestern abgestellt hat.
Gas geben. Die Stadt hinter sich lassen. Es zieht ihn zurück zum Tatort.
Ein Gedanke, in seinem Hinterkopf gestern. Kurz vor dem Gemetzel auf dem Feld. Die Rehe. Umschalten.
Richtig. Das neue Spritzenhaus ist ihm aufgefallen. Gleich am Ortseingang von Peltzow, an dem kleinen See. Löschwasser.
Er stellt den Wagen neben die anderen und geht hinten am Haus vorbei. Ein Tisch mit Holzbänken, direkt am Wasser.
Bier und Cola. Räucherfisch. Brot.
Männer und Frauen in Feuerwehr-Kluft sitzen entspannt auf den Bänken oder auf Strohballen. Nick klopft auf den Tisch. »Moin!«
Der Gruß kommt verhalten zurück. Eine Frau mit blondem Pferdeschwanz nähert sich von rechts.
»Guten Tag. Ich bin die Wehrführerin, Freiwillige Feuerwehr Peltzow. Dies ist ein Privatgrundstück, keine Badestelle.«
Nick sieht an sich hinunter und lacht. »Sehe ich aus, als wollte ich baden?«
Die Frau lächelt. Sie ist mindestens so groß wie er selbst. »Nein.«
Er öffnet seinen Rucksack und stellt ein paar Flaschen Bier auf den Tisch. Das wird mit Holzklopfen und zustimmendem Gebrumm quittiert, vor allem von den älteren Männern. Und so war es auch gedacht.
Jemand rückt zur Seite und macht Platz für Nick. Die Blonde setzt sich direkt gegenüber und lässt ihn nicht aus den Augen. Nick entschließt sich, lieber gleich zur Sache zu kommen.
»War jemand von Ihnen dabei, als 1992 das Feld hinten brannte?«
Sie wissen sofort, wovon er spricht. Zögernd heben sich zwei, nein, drei Hände. Doch sie sagen nichts, warten ab.
»Ich hab gestern mit Helmut gesprochen, der die beiden Toten gefunden hat. Oder eher den einen Toten …« Er lässt das mal im Raum stehen und nimmt sich ein Bier.
»War nicht in Ordnung damals, dass die den Jahn und den anderen freigesprochen haben. Wusste man doch, dass die geschossen haben.« Der kleine Dicke neben ihm sieht kritisch zu, wie er den Verschluss der Sternburg-Flasche mit seinem Feuerzeug aufhebelt.
»Glauben Sie denn auch, dass der Mähdrescher den Brand verursacht hat?«
Sein Nachbar wirft einen Blick in die Runde. »Na ja, kann schon mal passieren.«
Nick kann das Unwohlsein der Männer beinahe physisch erfassen, so dick hängt es über dem Tisch. Die Wehrführerin hat sich zurückgelehnt und beobachtet ihn schweigend.
Er greift nach einem fettigen Stück Papier, in das wahrscheinlich die Räucherforellen eingewickelt waren. Holt einen Stift aus der Tasche. »Okay, dies ist das Feld.« Ein langgestrecktes Dreieck, an zwei Seiten begrenzt durch die Autobahn und die Allee. Hinten der Knick, der sich bis zur Autobahn zieht, kurz vor dem Grenzübergang. »Hier stand der Mähdrescher, sagt Helmut.« Er macht ein Kreuz. »Und wo lagen die beiden Männer?«
»Schieb mal rüber.« Das kommt von ganz hinten, brauner Bürstenhaarschnitt, breites Gesicht. Er betrachtet die Zeichnung, macht ein Kreuz. »Hier lagen die.«
»Und das Feuer? Kann mal jemand das schraffieren, von wo nach wo das über das Feld ging?«
Allgemeines Gemurmel. Man weiß nicht mehr genau. Woher kam der Wind? Lass uns mal von hinten anfangen. Die Autobahn musste gesperrt werden, weil der Rauch da rüberzog.
Nick nimmt einen Schluck Bier und lässt sie machen. War das gerade ein Nicken von der Blonden? Er lächelt vorsichtshalber zurück.
Sein gezeichnetes Feld wird etwa zur Hälfte ausgemalt. An den Häusern ist es ja Gott sei Dank vorbeigezogen. Das Haus der alten Wittig hätte es beinahe erwischt. Meinst du die mit dem Hund?
Am Ende hat er eine ziemlich genaue Vorstellung davon, welchen Weg das Feuer durch das Feld genommen hat.
»Ich bin ja kein Fachmann.« Allgemeines Nicken. »Aber wenn der Mähdrescher hier oben stand, dann muss das Feuer ja weiter unten angefangen haben, also ungefähr hier.« Er deutet auf einen Punkt zwischen der Allee und den beiden Toten.
Die Wehrführerin beugt sich vor. »Sieht so aus, ja.«
»Als wir gelöscht haben, da standen lauter Leute am Straßenrand. Könnt ihr euch noch erinnern?« Das ist wieder der Dicke. Zustimmendes Brummen. »Und wisst ihr noch, wer genau hier stand? Hab ich immer noch vor Augen.« Wieder diese unbestimmte Zurückhaltung. »Der Jahn. Hat zugeguckt, wie wir uns abrackern.«
Schweigen. Es ist Zeit, das Thema zu wechseln. Nick nimmt das Räucherpapier und faltet es vorsichtig zusammen. »Und die beiden Toten?«
»Als wir fertig waren, kamen der Arzt und die Notfallrettung. Den einen haben sie gleich liegen lassen. Den anderen haben sie noch mal reingenommen. Hat aber nichts mehr gebracht.«
Nick denkt daran, was der Staatsanwalt gesagt hat. Wegen unterlassener Hilfeleistung kann man nur angeklagt werden, wenn man weiß, dass man jemanden verletzt hat. Und die Aussagen vor Gericht konnten das nicht einwandfrei belegen. »Hat Sie denn die Polizei damals vernommen?«, fragt er in die Runde.
»Uns? Nöö.« Blicke schießen hin und her. »Uns hat keiner gefragt.«
»Und warum haben Sie sich nicht freiwillig gemeldet?« Muss man denen denn alles aus der Nase ziehen?
»Kommen Sie mal mit.« Die Blonde nickt zum See hin.
Nick steht auf und geht hinter ihr her bis auf den Steg, außer Hörweite.
»Wer sind Sie überhaupt?«
Er reicht ihr seinen Presseausweis, den sie lange studiert.
»Aber Sie sind nicht hier aus der Gegend, oder?«
»Berlin.«
»Hab ich mir gedacht.« Sie stützt sich mit den Ellenbogen auf das Geländer und guckt über den See. Am anderen Ufer lagert eine Kolonie Graugänse.
»Dann erklären Sie mir doch, was hier los ist.« Nick lehnt mit dem Rücken am warmen Holz und hält sein Gesicht in die Abendsonne.
»Ich war damals ja erst fünfzehn.« Sie spricht leise. »Die Leute waren ganz schön wütend, dass der Jahn und der Wessi einfach so davonkamen. Bei allen Stimmen, die dagegen waren, dass hier immer mehr aus dem Osten nachts über die Grenze gingen. Das können Sie mir glauben. Wir sind kein Dorf voller Nazis.«
»Das hat ja auch keiner behauptet«, sagt Nick. »Aber wovor haben Ihre Leute heute Angst?«
Sie schüttelt unwillig den Kopf. »Angst. Ist doch übertrieben. Die wollen einfach keine alten Geschichten wieder aufwärmen. Das gibt nur Ärger.«
Nick weiß immer noch nicht, worauf sie hinauswill. »Ärger? Mit wem?«
Sie dreht sich abrupt um. »Wissen Sie, was unser Problem ist? Die Feuerwehren sterben aus. Wer will denn heute noch am Wochenende freiwillig Dienst für die Gemeinschaft schieben? Und sich dann noch vom Chef ’ne Abmahnung holen, wenn er die halbe Nacht gelöscht hat und montags zu spät zum Dienst kommt?«
»Wusste ich nicht.«
»Das weiß niemand.« Sie ist jetzt richtig in Fahrt. »Weil sich niemand mehr Gedanken darüber macht, wie eigentlich eine Solidargemeinschaft funktioniert.«
»Stimmt.« Er sagt das nicht nur so. Sie hat recht.
»Die NPD unterwandert ganz bewusst die Wehren hier im Umkreis. Da haben sie Zugriff auf die Jugend. Da können sie ihr Gedankengut verbreiten.«
Er nickt. Langsam wird ihm klar, worum es geht.
»In Koblentz drüben hatten sie bei der letzten Wahl schon über dreißig Prozent. Das ist jeder dritte Wähler. Keiner will sich mit denen anlegen.«
Das Gespräch ist beendet. Sie geht wieder voraus und setzt sich zu ihren Leuten auf die Bank.
Nick wirft einen Blick in die Runde. Der junge Typ dahinten auf dem Strohballen. Oder die Frau mit den kurzen Haaren am Tisch. Jeder könnte es sein. Kein schönes Gefühl.