29. Juni 1992, Gemeinde Peltzow
Für einen Moment schoss ihm die Vorstellung durch den Kopf, wie es wäre, wenn er die Leiter umstieße. Uwe stand unten und versuchte den absurden Gedanken zu vertreiben. Im ersten Licht des neuen Tages sah er, wie Hajo sich schwankend aus dem engen Hochsitz schob und sein Gewicht auf die Leiter verlegte. Sie war nur angelehnt.
Jetzt oder nie. Hajo hatte den ganzen Flachmann leergemacht. Er könnte hinterher immer noch sagen, der Mann wäre betrunken gewesen.
»Verflucht, kannst du das wackelige Ding nicht anständig festhalten!«, erklang es von oben. Reflexartig griff er nach der Leiter und hielt sie ruhig. Keuchend kam der Mann auf dem Boden an. »Müssen wir euch auch noch die grundlegenden Sicherheitsstandards beibringen?«
Uwe schluckte. Wie viele Antworten war er dem Westler schuldig geblieben in den letzten Stunden? Er wusste es nicht mehr.
Nicht mal die Ohren eines Hasen hatten sie entdeckt. Die Lichtung war wie leergefegt. Er ging schnell zum Iltis, den er auf dem Weg zum Hochsitz geparkt hatte, öffnete die Tür und stieg ein. Kurz darauf ließ sich sein Jagdgast auf den Beifahrersitz fallen.
»Und?«, tönte es herausfordernd. »Hattest du genug Zeit, um dir zu überlegen, wo man hier jagen kann?« Uwe drehte den Zündschlüssel und knallte den Gang rein. Hajo hielt sich fest und hob die Stimme, um das Geräusch des Motors zu übertönen. »Ich sag dir nämlich eins. Hast du die Anzeige überhaupt mal gesehen, die Wedemeier geschaltet hat?«
Wieder antwortete er nicht. Warum sollte er dem Mann auf die Nase binden, dass er sich Wild und Hund nicht leisten konnte? Der redete sowieso schon weiter, ohne Punkt und Komma.
»Wedemeier muss mir das Geld zurückzahlen, wenn ich hier nichts schieße in seinem tollen Jagdgebiet. Vierhundert Mark, bar auf die Hand, plus die Reisekosten. Der wird sich freuen.« Er rieb sich die Hände, fast vermutete Uwe, in Vorfreude.
Hatte Hajo tatsächlich vergessen, dass er in der Nacht zuvor einen Rehbock verfehlt hatte, der fünfundzwanzig Meter vor ihm stand? Doch wem würde Wedemeier wohl glauben? Seinem neuen Jagdpächter oder dem Kunden, dem er nicht nur Jagdreisen, sondern auch Häuser verkaufte. Für den spielt es keine Rolle, ob unsereins seine Arbeit verliert, dachte Uwe.
Hajo sah auf seine silberne Rolex, die er anscheinend nicht oft genug zu Gesicht bekam. »Du hast noch genau drei Stunden«, brummte er. »Dann muss ich in Kollwitz in den Wagen steigen.« Er betätigte den Hebel, und seine Rückenlehne klappte nach hinten. »Weck mich, wenn es was zu schießen gibt. Ansonsten lass mich in Ruhe.« Er schloss die Augen.
Uwe setzte den Blinker und bog rechts auf die Versorgungsstraße zwischen zwei Feldern ein. Langsam ließ er den Iltis mit eingeschaltetem Fernlicht über den Sand rollen. Hier hatte er vor zwei Tagen die Leute im Graben gesehen. Bestimmt waren die längst über alle Berge und machten es sich auf seine Kosten im Asylbewerberheim gemütlich. Ihm blieb nur noch eins, um das Schlimmste zu verhindern: Er musste die Feldwege abfahren, bis es hell wurde. Neben ihm begann Hajo leise zu schnarchen.