27. Juni 1992, südlich von
Szczecin
Lebus, Polen
»Du bist ein elender Träumer!« Ion hieb mit der flachen Hand auf das Lenkrad. »Deine Silvia hat doch längst einen anderen im Bett. Glaub mir, die lässt nichts anbrennen.« Dann fuhr er rechts ran, um sich bei einem Stand eine Flasche Wodka zu kaufen. Er fragte nicht mal, ob Nicu auch was trinken wollte.
Die ganze Zeit hackte Ion auf Silvia herum. Das ging schon seit Tagen so. Sein Bruder wollte nicht glauben, dass Silvia sich einen wie Nicu ausgesucht hatte. Kein Wunder. Nicu glaubte es ja selbst kaum. Er drehte sich um, der Rücksitz war schon voller leerer Flaschen. Er hatte aufgehört, die Tage und Nächte zu zählen. Zweimal war das Auto kaputtgegangen, sie mussten herumfragen und warten, bis sie einen fanden, der den alten Dacia reparierte. Stundenlang standen sie in langen Schlangen an Grenzen herum, zwischen Ländern, die er nur dem Namen nach kannte: Ukraine, Weißrussland. Im Moment fuhren sie durch Polen.
»Wir fahren hintenrum«, hatte Ion verkündet, als Braşov gerade hinter ihnen lag. »Ich bin der Ältere, und ich bestimme, wo es langgeht. Wenn wir in Deutschland sind, kannst du dich wieder einschleimen und so tun, als ob du mich nicht kennst. Solange machst du, was ich sage.« Vielleicht hätte er da schon aussteigen sollen. Jetzt war es zu spät.
Ion hatte sich verändert. Im letzten Sommer war es Abenteuerlust gewesen, die ihn von seiner nörgelnden Frau und dem mickrigen Hof an der Autobahn nach Bucureşti fortgetrieben hatte. Nicus Fabrik machte dicht, wie so viele Staatsbetriebe. Silvia wollte dauernd neue Sachen für die Kinder kaufen. Also war Nicu mit Ion nach Deutschland aufgebrochen. Es fühlte sich an wie ein Spiel, bei dem sie nur gewinnen konnten. Sie fuhren bis Tschechien, dort stieg einer zu, der sie durch den Wald führte, und schon waren sie über die Grenze. In der Nähe von Stuttgart, so lautete der Tipp von Ions Nachbar, gab es einen Ort, wo man gute Arbeit fand. Die Stadt hieß Wüstenrot, obwohl es dort weder roten Sand noch überhaupt eine Wüste gab. Nicu gefiel der Name. Sie beantragten Asyl und bekamen ein Zimmer zugewiesen in einem einstöckigen weiß gekalkten Haus mit Blumenkästen vor den Fenstern. Am nächsten Morgen gingen sie zu der Fabrik, die Fenster herstellte und einbaute. Eine Stunde später fingen sie mit der Arbeit an.
Die Leute in Deutschland wohnten in großen Häusern mit vielen Fenstern. Nicu montierte Dachfenster, Schiebefenster, französische Fenster, Panoramafenster. Er merkte schnell, dass die Leute in den Häusern so taten, als sei er nicht da. Für sie war er unsichtbar. Er begann sie zu beobachten, prägte sich ihre Gesten ein, ihre Art zu gehen und zu sprechen.
Ion ging abends mit den anderen Männern aus seinem Dorf zum Kiosk um die Ecke, um zu trinken. Nicu übte vor dem Spiegel im Heim, nicht mehr aufzufallen. Die Kollegen aus der Firma mochten ihn, weil er nie widersprach und tat, was man ihm sagte. Einer lud ihn zum Grillen in den Garten ein. Dass er kein Deutsch konnte, machte er damit wett, dass er wusste, wann das Fleisch durch war. Kurz danach fragte ihn derselbe Mann, Winfried, ob er abends und am Wochenende beschäftigt sei. Nicu half mit, Winfrieds Haus zu bauen, dann das seines Nachbarn, eine Garage gegenüber, ein Keller wurde ausgebaut, später ein Dachboden. Dieses Geld gab es bar auf die Hand.
Die Monate in Wüstenrot vergingen wie Tage. Nur die Sehnsucht nach Silvia brachte ihn fast um. Bei jedem Anruf aus der gelben Telefonzelle hinter dem Heim machte sie ihm die Hölle heiß. Er versuchte sie zu überreden, mit den Kindern nachzukommen. Er bat, er bettelte. Silvia wollte nichts davon wissen. Sie warf ihm vor, dass er sie allein ließ. Sie wollte nicht herumsitzen und auf sein Geld warten. Sie wollte ihn. Eines Tages machte sich einer aus dem Heim mit einer Ladung Altkleider auf den Weg nach Braşov. Nicu nahm sein Bargeld, kaufte einen großen Fernseher und eine Waschmaschine und fuhr mit. Er war entschlossen, seine Frau nach Wüstenrot zu holen, koste es, was es wolle. Aber sobald er zu Hause war, wurde er zu Butter in ihren Händen. Ein russischer Investor kaufte die Fabrik, und Nicu stand wieder an seiner Maschine.
Ion kam nicht freiwillig zurück. Und er kam mit leeren Händen, nur ein paar Wochen nach Nicu. Asylantrag abgelehnt, untergetaucht, aufgegriffen, abgeschoben. Das ganze Geld futsch für die Zwangsrückführung. Das alles bellte er ins Telefon, heiser vor Wut und Erniedrigung. Nicu nahm zwei Tage frei und fuhr zu ihm in sein Dorf. Ion saß in seinem Garten und trank. Er machte ihm Vorwürfe, er habe sich mit den Scheiß-Deutschen verbündet, und hetzte gegen Silvia. Seine Frau verlangte Geld dafür, dass Ion Nicu den Job in Wüstenrot vermittelt hatte. Nicu gab ihr, was er dabeihatte, und fuhr nach Hause.
Die zuklappende Fahrertür schreckte ihn aus seinen Tagträumen hoch. Ion hielt ihm die Flasche hin. Er winkte ab. »Soll ich fahren?«
»Meinst du etwa, ich kann nicht fahren, kleiner Bruder?«
Ion gab Gas, der Dacia schlingerte zurück auf die Landstraße. Immer dieses Aufbrausen, so war er früher nicht gewesen. Nicu entschied, besser das Thema zu wechseln. »Sind wir bald in Tschechien?«
Blitzschnell zog Ion ihn mit dem rechten Arm zu sich heran. Sein Atem stank nach Wodka. »Tschechien? Du armer Irrer!«, keuchte er. Alkoholtropfen regneten Nicu ins Gesicht. »Tschechien ist dicht, Ungarn ist dicht, die rüsten die Grenze auf, zack: Schon hast du Kameras überall, Nachtsichtgeräte, Radar, was weiß ich. Siehst du den Fluss da? Sieh hin, kleiner Bruder!« Nicu verrenkte seinen Hals und sah hin. Ein breiter Fluss. An seinen Ufern standen Weiden und hohes Gras. »Todesfluss!«, brüllte Ion und ließ auch mit der linken Hand das Lenkrad los, um zu trinken. »Da sind unsere Leute zu Hunderten drin krepiert. Das haben sich deine deutschen Freunde ausgedacht. Du hast doch keine Ahnung!«
Plötzlich lautes Hupen. Nicu schloss die Augen und bekreuzigte sich. Selbst Ion ernüchterte der Anblick des Lkws, der sie nur um Zentimeter verfehlte. Jedenfalls ließ er los. Nicu richtete sich auf und rieb sich den Nacken.
»Du hast keine Ahnung«, murmelte Ion noch einmal. »Aber ich bring dich heil rüber, Bruder. Weiter oben, da kriegst du nicht mal nasse Füße.«