29. Juni 2012, Frankfurt
am Main
Hessen, Deutschland
Nick parkt den Car-Sharing-Wagen in der Tiefgarage. Matties Bus haben sie in Berlin gelassen. Sie hat sich schwergetan einzugestehen, dass ihr alter roter Kumpel bis Frankfurt drei Tage brauchen würde. Und Nicks Zeit läuft ab. Adios, amigo!
»Wir sind da.«
Mattie reibt sich die Augen. »Wo?« Sieht sich um. Sieht ihn an. »Nick?« Er kann nicht anders. Ein schneller Kuss, bevor sie richtig wach ist. Die Antwort ist ein angedeuteter Schlag in die Magengrube. Vorsicht, Nick. Sonst musst du wie Quincy im Auto warten.
Frankfurter Innenstadt. Richtige Hochhäuser. Restaurants, indisch, chinesisch, pakistanisch. Nick gefällt Frankfurt. Es fühlt sich an wie eine Stadt. Nicht wie Berlin. Eher wie Bombay. Seine Hassliebe zu der sumpfigen Megastadt auf den sieben Inseln tendiert in diesem Moment zum Positiven. Aus der Ferne lässt Bombay sich leichter lieben. Zwei indisch aussehende junge Banker in Maßanzügen schieben sich zwischen ihnen durch, ohne ihr Gespräch zu unterbrechen.
»Vermisst du Cal nie?«
Nick zuckt zusammen. Kann Mattie ebenfalls Gedanken lesen? Wenn ja, hat sie es bisher vermieden, ihn damit zu erschrecken. »Hast du mit ihm gesprochen?«
Sie bleibt stehen. Ein schlechtes Zeichen.
»Nick!« Noch schlechter. »Natürlich spreche ich mit ihm. Er ist mein Freund. Und deiner auch. Freunde schmeißt man nicht einfach über Bord.«
»Und was ist mit Kamal? Telefoniert ihr jeden Tag?« Als Nick in Kiel war, hat Kamal sie nicht ein einziges Mal erwähnt. Gerade das hat ihm bestätigt, wie sehr sie ihm fehlt.
»Das ist was anderes!«
»Ach so!«
Schweigend laufen sie nebeneinander her.
Die Adresse stimmt. Maybury & Partners heißt die Kanzlei. Das Haus sieht nach New York aus, heller sandgestrahlter Stein. Innen alles aus Marmor. Ein Concierge schickt sie in den vierzehnten Stock. Hinter einem cremefarbenen Tresen vor einer perfekten Aussicht auf das Bankenviertel sitzt eine perfekte junge Frau. Nick nennt seinen Namen. Die Frau geht auf Pumps vor ihnen her, ohne umzuknicken. Ein Konferenzraum. Getränke auf dem Tisch. »Oder darf es ein Espresso sein?«
»Ja, gern«, sagt Nick und lächelt die Frau an.
»Nein, danke«, sagt Mattie und setzt sich mit dem Rücken zur Aussicht. Als die Tür zu ist, atmet sie laut aus.
Nick grinst. »Schon wieder auf Krawall gebürstet?«
»Du redest.« Mattie schlägt die Beine übereinander und guckt ihn an wie eine Supervisorin. Ach du Schreck. Nick auf dem Weg zu seinem Comeback. Casting-Show mit Mattie Klum.
Der Espresso kommt.
Mattie nimmt sich eine Cola.
Nick guckt aus dem Fenster.
Mattie gähnt.
Die Tür geht auf. Herein tritt ein Mann um die sechzig, schlank. Graue halblange Locken, silbriger Anzug. Erfolgsverwöhnte Augen in heller Farbe. Nick zieht sich in Gedanken schon mal warm an.
Vorstellungsrunde. Leiffert, Seniorpartner. Schnellanalyse: eitel, mediengeil und – Nick fällt nur ein veraltetes Wort dafür ein – halbseiden. So lange auf der Gewinnerseite mächtiger Gesetzesbrecher, dass der kalte Glamour auf ihn abgefärbt hat. Inklusive des weißen Pulvers vermutlich.
Mattie interessiert ihn nicht. Sie hat keinen Presseausweis. Ein Duell also.
Leiffert zieht als Erster. »Sie wissen vermutlich, dass ich ohne Einverständnis meiner Mandanten nichts sagen kann, was nicht im ohnehin veröffentlichten Urteil steht.« Demonstrativer Blick auf die Uhr. Beweise, dass du keine Zeitverschwendung bist.
»Sie haben beide Angeklagten vertreten? Ist das nicht ungewöhnlich?« Nick spricht betont ruhig, als hätte er alle Zeit der Welt. Dabei stimmt das nicht. Adios, amigo!
»Nicht unbedingt. Welchen Zweck verfolgen Sie eigentlich mit Ihrem Artikel? Der Prozess endete mit einem Freispruch.«
»Meine Kanzlei will den Fall wieder aufrollen.« Das kommt von Mattie.
Aha, seine Augen blitzen. Er wittert Medieninteresse. »Name?«
»Meerbach & Wiese.«
»Ah ja. Mit denen hatten wir bereits zu tun. Interessant.«
Mattie schickt einen Blick rüber. Entschuldigend. Mach du weiter.
Nick lächelt. »Wer hat Sie denn eigentlich damals engagiert? Ich meine, Sie sind ja nicht irgendeine Kanzlei aus den Gelben Seiten.«
»Sind wir nicht.« Er ist billig zu haben. Selbstgefällig. »Ich gebe Ihnen einen Tipp. Der Angeklagte Walther hat uns persönlich kontaktiert. Der andere nicht.«
»Jahn hätte sich Ihre Vertretung gar nicht leisten können.«
»Stimmt genau. Wer springt denn in so einem Fall ein?«
Hallo? Der spielt ein Spielchen mit ihm. Na gut. Wenn es zu etwas führt. Nick überlegt. »Der Arbeitgeber.«
»Das ist üblich in solchen Fällen. Und wer war das?«
»Eine sogenannte Agentur für Jagdreisen.«
Leiffert scheint das Ganze Spaß zu machen. Er winkt ab. »So stand es in den Zeitungen. Dabei waren die Jagdreisen ein reines Nebengeschäft. Die gab es sozusagen obendrauf. Womit wurde damals richtiges Geld verdient?«
1992. Zwei Jahre nach der Wende. Die dicksten Treuhand-Brocken waren schon über den Tisch gegangen. »Immobilien?« Plötzlich fällt ihm etwas auf. »Warum eigentlich eine Kanzlei aus Frankfurt am Main? Hat Hans-Jürgen Walther Sie zuerst kontaktiert?«
»Bingo. Hat er nicht.« Er zwinkert Mattie zu, als sei sie der Schiedsrichter bei diesem Spiel.
Also der andere. Der Arbeitgeber. Nick versucht sich zu erinnern, ob dazu etwas in den Akten stand. Ein Arbeitgeber mit Verbindungen nach Frankfurt. Immobilien. »Ein Frankfurter Makler, der nach der Wende im Osten aktiv wurde?« Er sieht zu Mattie.
Bei der ist die Flipperkugel auch angekommen. »Nordhaus Immobilien.«
Leiffert springt auf. Der hat ganz schöne Energiereserven. Nick kann sich vorstellen, was für eine Show der Anwalt im Gerichtssaal abzieht. »Wenn Sie ohne meine Genehmigung oder die meiner Mandanten Namen nennen, sehen wir uns vor Gericht. Unsere Kanzlei und meinen Namen hingegen dürfen Sie gerne erwähnen. Das wär’s dann wohl?«
Wieder unten auf der Straße.
»Wir brauchen WLAN.« Mattie zeigt auf eine Starbucks-Filiale. Nick hasst diese Läden, in denen es keinen Namen für einen normalen Kaffee gibt. Dafür umso mehr falsche Gemütlichkeit. Egal jetzt.
»Hier ist es.« Er hat eine Website gefunden. Das Logo kommt ihm vage bekannt vor. Weiße Kompassrose auf grünem Grund.
»Guck mal, die Ostseeterrassen.« Mattie schlürft ihren geliebten Macchiato mit Schoko, Zimt und wer weiß was da noch alles drin rumschwimmt.
Nick öffnet die Impressums-Seite. Geschäftsinhaber des Konsortiums ist Jochen Wedemeier. Geschäftsführer des Frankfurter Büros: Frank Wedemeier. Beim Googeln stößt er auf zwei Privatadressen. Ein Eintrag für Jochen Wedemeier auf einem Gut in Vorpommern, ein anderer für den Sohn im Hochtaunus.
»Das Kaff heißt Nordhausen. Daher der Firmenname. Hat gar nichts mit dem Norden zu tun.«
»Kann ich mal? Irgendwas klingelt da bei mir.« Mattie zieht den Laptop zu sich herüber. Nick lehnt sich zurück und beobachtet sie. Eine steile Falte steht auf ihrer Stirn. Wenn man sie küsst, geht sie weg. Nick schließt die Augen.
»Nicht einschlafen, Nick! Hier. Der zweite Jäger, Hans-Jürgen Walther, wohnt im selben Dorf. Kein Zufall.« Sie guckt ihn an. Nicht nötig, die Frage laut zu stellen.
»Auf geht’s, Mattie. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir das noch.« Nick steht auf.
Nicht an die Zukunft denken. Nicht an die Vergangenheit. Was gerade passiert, fühlt sich gut an. Das reicht.