15. Juni 2012, Hansestadt
Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
Adriana drückt den Mopp im Sieb des Plastikeimers aus, so fest sie kann. Nicht zu nass wischen. Sonst rutschen die Leute aus. Das hat Darek ihr mehrmals gesagt, ansonsten war er zufrieden.
Sie muss jeden Tag ein anderes Treppenhaus putzen, so kommt sie nach und nach in alle drei Flügel. Heute ist es Haus Seeschwalbe. Seltsame Namen: Möwe. Austernfischer. Über jedem Eingang ein Bild des Vogels. Seeschwalbe ist das letzte Treppenhaus im linken Seitenflügel, die Fenster in Richtung der Garagen. Auf jedem Absatz bleibt sie stehen, hält sich kurz den Rücken, als müsse sie ausruhen, ein schneller Blick nach draußen. Dann kommen die Namensschilder an die Reihe. Jede Tür, vier auf einem Stockwerk. Manche sind mit der Hand geschrieben, und Adriana kann die Schrift nicht entziffern. Das macht nichts. Gestern nach der Arbeit hat sie den ganzen Nachmittag gewartet, doch der Wagen kam nicht zurück. Sie saß im Schatten einer Birke und hat Sonnenblumenkerne gegessen. Auf der Lauer. Sie gibt nicht auf. Jetzt nicht mehr.
Nächstes Stockwerk. Blick aus dem Fenster. Da kommt der Pritschenwagen! Er fährt direkt zu der Garage, die sie schon kennt. Adriana sieht von oben zu, wie der Mann aussteigt und das Tor öffnet, dann steigt er wieder ins Auto. Der Mörder. Ganz klein von hier oben. Sie könnte ihn zerquetschen. Ohne Eile räumt sie ihre Putzsachen zusammen und geht die Treppen hinunter. Sie wird später hier weitermachen. Wenn sie es hinter sich hat.
Ohne das geschlossene Garagentor zu beachten, geht sie in die Putzkammer, stellt den Eimer ins Regal. Den Kittel behält sie an. Dann stellt sie sich hinter die Tür und wartet.
Nach zehn Minuten kommt er raus. Er trägt ein in durchsichtige Plastikfolie gewickeltes Stück Fleisch. Der Größe nach ein Kaninchen. Adriana verspürt zum ersten Mal seit Tagen Hunger. Langsam geht sie hinter ihm her, hält sich im Schatten der Durchgänge. Er geht an Haus Seeschwalbe vorbei. Auf dem Parkplatz wäscht ein Mann sein Auto. Er ruft dem Mörder einen Gruß zu. Der grüßt zurück, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. Er geht schnell. Schnell und mit gesenktem Blick. Weiter und weiter. Auf die rechte Seite. Da müsste Adriana noch lange putzen, bis sie dort ankommt.
Endlich verschwindet er in einem Hauseingang. Adriana steht vor der Tür. Wieder ein Vogel. Er ist schwarz. Haus Kormoran.
Adriana bekreuzigt sich. Dann öffnet sie die Tür. Er steht vor den Aufzügen. Geht hinein. Dreht sich um. Er sieht sie an.
Und sieht sie doch nicht. Adriana trägt noch den Kittel, ein Kopftuch. Eine Putzfrau. Unsichtbar. Sie nimmt ihren Mut zusammen und tritt in den Fahrstuhl. Er rückt ein Stück zur Seite, kein Blick zu ihr. »Wie weit wollen Sie?«
»Sieben.« Die acht leuchtet schon. Sie starrt auf die rote Anzeige. Zählt leise mit. Bei sieben öffnet sich die Tür. Wortlos tritt sie auf den Flur. Wartet, bis sich die Tür wieder schließt. Ihr Herz rast. Sie greift mit der rechten Hand in den linken Stiefel. Das Messer ist da, an seinem Platz. Sie zieht es heraus. Es ist warm. Jetzt weiter. Die Stiefel tragen sie nach oben. Als sie den achten Stock erreicht, hat er gerade den Schlüssel ins Schloss gesteckt.
Alles geht sehr schnell jetzt. Sie drängt sich hinter ihm in die Wohnung. Er wehrt sich, versucht sie aus der Tür zu schieben. »Hilfe! Polizei!«
Aber sie ist größer. Sie hält ihm das Messer an die Kehle. Schließt die Tür hinter sich. Es ist nichts passiert.
»Geh!« Sie berührt ihn mit dem Messer. Er geht langsam rückwärts. Erst als sie in ein Zimmer mit einem großen Fenster kommen, kann sie ihn richtig sehen. Und er sie. Überraschung. Die Putzfrau.
»Setz dich da hin.« Sie stößt ihn in den Sessel am Fenster. Es macht ihr Spaß. Sie fühlt das Blut in ihren Adern fließen. Endlich! Endlich Rache!
»Wenn Sie Geld wollen – dahinten in der Schublade ist mein Portemonnaie. Es ist nicht viel drin.«
»Geld!« Sie spuckt vor ihm aus. Reißt sich das Kopftuch ab. Löst den Knoten, so dass die Haare lang über ihren Rücken fallen. »Erkennst du mich nicht?«
Sie haben sich nur einen Moment lang gesehen, damals, als der Jeep vorbeiraste. Er saß am Steuer. Er hat sich nicht sehr verändert. Sie schon.
Er schüttelt den Kopf. »Ein Missverständnis –«
Aber sie kann zusehen, wie aus seiner Vermutung Gewissheit wird. Sein Kopf sackt auf die Brust.
»Ich wusste, eines Tages kommen sie.«
»Wer kommt?« Sie berührt ihn wieder mit dem Messer, damit er den Kopf hebt.
»Die Zigeuner.« Er versucht, hinter sie zu sehen, als wären da noch mehr Leute.
»Du hast meinen Vater erschossen. Wie das Tier da. Ich bin gekommen, um dich zu töten.«
Plötzlich macht er einen Satz aus dem Sessel auf sie zu. Sie hebt das Messer, um sich zu verteidigen. Er fällt auf die Knie.
»Bitte! Es hätte nicht passieren dürfen, ich weiß! Wir hatten beide dieselbe Munition an dem Tag. Ich habe sie morgens noch ausgetauscht –«
Was brabbelt der Mann da? Adriana versteht ihn nicht. »Sprich langsam!«, sagt sie und tritt nach ihm. Er soll sie nicht anfassen.
Er spricht einfach weiter. »Verstehen Sie? Ich habe nächtelang darüber nachgedacht. Ich habe doch absichtlich danebengeschossen. Ich war es nicht!«
Der deutsche Satz bildet eine Bedeutung in ihrem Kopf. Sie verbindet sich mit Vaters Worten aus ihrem Traum. Ich bin es nicht!
Sein Gesicht sieht aus wie eine Maske, verzerrt. Er kniet vor ihr.
Adriana wird unsicher. Ist es nicht das, was Vater will? Dass sie den Mann dort tötet? Sie hat kein Mitleid mit ihm. »Feigling!« Sie spuckt wieder aus, diesmal in sein Gesicht. »Meine Mutter – sie ist beinahe gestorben vor Schmerz. Du hast sie nicht um Verzeihung gebeten. Du hast ihr nichts angeboten als« – sie sucht nach dem richtigen Wort – »als Ersatz für das Leben meines Vaters.«
»Ich bitte Sie um Verzeihung.« Er greift nach ihrer Hand, sie ekelt sich vor diesem Mann. »Wenn Sie mich töten wollen, töten Sie mich.«
Nein. Vater hätte das nicht gewollt. Wonach er gesucht hat, war eine Zukunft. Glück. Für seine Familie. Vielleicht wären sie in Deutschland geblieben. Vielleicht wäre sie weiter zur Schule gegangen. Vielleicht wäre Mutter wieder gesund geworden. Für jedes Vielleicht soll er zahlen. Ihre Familie wird nicht mehr vom Pech verfolgt sein. Auch wenn sie, Adriana die Stille, nachhelfen muss. Wie viel ist ein Jahr Zukunft ohne Vater wert? Tausend Euro? Viele Tausend?
»Vierzigtausend Euro.« Sie hat nicht lange darüber nachgedacht. Zehntausend für die Mutter. Zehntausend für jedes der drei Kinder.
Verzweiflung auf dem Gesicht des alten Mannes. »So viel Geld habe ich nicht.«
»Du kannst es dir leihen. Eine Bank überfallen. Ist mir egal.«
Sie geht ein paar Schritte rückwärts, prägt sich die ganze Szene ein. Hinter ihm der Balkon, man sieht das Meer. Es hat weiße Schaumkronen. Vier gewinnt.
»Du hast drei Tage Zeit. Und keine Polizei. Wenn du nicht bezahlst, kommen am vierten Tag die Brüder. Die kennen keine Gnade.«
Sie sieht ihm in die Augen, bis er den Kopf abwendet. »Ich arbeite hier jeden Tag. Ich warte auf deine Nachricht.«
Ohne ihn aus den Augen zu lassen, dreht sie ihr Haar zu einem festen Knoten, hebt ihr Kopftuch auf, bindet es zu.
Dann geht sie. Was bleibt, ist der Hall ihrer Stiefel.