5. August 1992,
Harmsdorf
Schleswig-Holstein, Deutschland
Madita Junghans schloss das hölzerne Garagentor. Die Enttäuschung steckte ihr noch wie ein dicker Brocken im Hals. Von wegen Geschenk zum Abitur. Ein Trip nach London, der dann nur den Zweck hatte, dass Tim mit seinen Kumpels das Freundschaftsspiel gegen England sehen konnte. Als hätten sie nicht den halben Sommer vor dem Fernseher verbracht. Europameisterschaft. »Madita, könntest du noch mal ein Bier – danke, Schatz!«
Auf dem Campingplatz Schlägereien zwischen deutschen und englischen Fans. Mittendrin ihr Freund, besoffen, grölend. »Man wird ja wohl mal die Sau rauslassen dürfen!« Er war ihr vorgekommen wie ein total Fremder. Ein fremder Idiot.
Tim lenkte den VW-Bus langsam rückwärts in den Carport, den er letzten Winter gebaut hatte. Obwohl sie von hinten nicht in den Wagen hineinsehen konnte, wusste Madita genau, wie er das machte: ein Blick in den linken Außenspiegel, dann in den rechten, dann einen halben Meter zurück, die rechte Hand am Steuer. Endlich war er fertig, sie öffnete die Schiebetür des Busses, schnappte sich die nächstbeste Tasche und ging wortlos vor ins Haus. Betrat das gemeinsame Wohnzimmer, alles Holz, die Möbel natürlich selbstgebaut – »wir fahren nie, niemals zu Ikea« –, dazwischen helle Baumwolle, naturgebleicht. War das wirklich ihr Zuhause?
Das große Fenster des Bootshauses ging raus auf den See, strahlend blauer Himmel, Boote, eine leichte Brise. Harmsdorf am See. Besuchen Sie uns bald wieder im Luftkurort.
Madita ließ die Tasche fallen, wo sie stand. Tims Mutter hatte die Post auf den Tisch gelegt. Wie praktisch, eine Mutter zu haben, die nach der Post sah, die Blumen goss und sonst weiter nicht nervte. Frauke lebte ihr eigenes Leben und war für ihren Sohn wie eine Freundin. Madita konnte sie nicht leiden.
Ein paar Briefe, einer an Madita mit der Lohnsteuerkarte. Sie war jetzt fertig, ein fertiger Mensch, der ins Leben trat. Welches Leben? Daneben der Spiegel, den sie abonniert hatte, eins der wenigen Dinge, die ihr gehörten in diesem Haus. Tim brauchte einen Monat, um eine Zeitschrift zu lesen. Das Orange des Covers wirkte irgendwie obszön in all dem Holz und Beige.
Madita öffnete die Tür zur Terrasse, klappte einen Liegestuhl – aus Holz mit Leinenbezug – auf und setzte sich rein.
Sie kommen, ob wir wollen oder nicht! Schon wieder eine Titelstory über Asylbewerber. Sie blieb an einem Kasten hängen und begann zu lesen.
»Musst du immer alles fallen lassen, wo du gehst und stehst?« Tim konnte das nicht leiden, deswegen machte sie es ja.
»Komm mal raus!« Ihre Gedanken waren bei der Geschichte, die sie gerade gelesen hatte. Tims hochgewachsene Gestalt erschien in der Terrassentür. »Weißt du, wo Kollwitz liegt?«
Tim kam näher. »Kleine Hansestadt, kurz vor der polnischen Grenze. Gute Wellen, angeblich.« Das waren die zwei Themen, die ihn wirklich interessierten: die Hanse und die Wellen. Ein Wunder, dass er noch nicht auf dem Brett stand nach einer Woche Abstinenz.
»Da hat wieder ein Asylbewerberheim gebrannt. Man vermutet, dass es Streit gab und Anwohner die Brandsätze geworfen haben. Die Polizei ist erst Stunden später aufgetaucht. Und nur weil zufällig ein Team da war, das eine Reportage für den Spiegel …« Sie hielt ihm die Zeitschrift hin.
Tim warf einen kurzen Blick darauf. »Sind das Zigeuner?«
Madita starrte ihn an. »Und du bist Arier? Nennt man das so?«
Tim verdrehte die Augen. »Du weißt, wie ich das meine. Wie soll ich die denn sonst nennen?«
»Die wurden dann abtransportiert. Man konnte nicht mehr für ihre Sicherheit garantieren, heißt es.«
Tim sah sie an. Madita wusste, dass er nichts lieber wollte als das Thema wechseln. Sie zählte lautlos bis drei und hielt ihn mit den Augen fest. Kein Entkommen.
»Aber du weißt doch gar nicht, was da genau abgelaufen ist!« Tim hatte Verständnis für seine Brüder und Schwestern von der Hanse. »Stell dir mal vor, hier würden plötzlich Hunderte von diesen Leuten wohnen. Bei uns nebenan. Die sehen anders aus, die haben andere Sitten und Gebräuche –«
Madita war aufgesprungen, so heftig, dass der Liegestuhl umkippte. »Dann zeig ich dir mal was!« Schon war sie an ihm vorbei, zog die Leiter im Flur herunter.
Auf dem Spitzboden war es staubig. Ihre Kisten, voll mit Dingen, für die es hier keinen Platz gab. Mitgebracht und nie ausgepackt. Da war es. Ein verstaubtes Porträt in Schwarzweiß. Sie war vielleicht zwölf, dreizehn, trug die Haare noch lang. Ihr Vater Hinnarck, also Emmas Mann, nicht ihr biologischer Vater – ach was soll’s –, hatte das Foto machen lassen, als das neue Fotostudio in Harmsdorf eröffnete. Madita kam gerade vom Ballettunterricht. »Mach doch die Haare auf, Deern!«, sagte er zu ihr, als sie verkrampft auf dem Stuhl des Fotografen herumrutschte. »Sonst siehst du so indisch aus.« Typisch Hinnarck.
»Willst du Spaghetti Carbonara oder Bolognese?«, rief Tim aus der Küche, als sie wieder ins Wohnzimmer kam.
»Ich will, dass du dir das ansiehst!«, rief Madita zurück.
Er kam und wischte sich die Hände an einem Geschirrhandtuch ab. »Was hast du da oben gemacht?«
Sie hielt ihm ihr Bild vor die Nase und zeigte auf den Spiegel. Der Fotograf hatte den Abtransport der Roma dokumentiert. Direkt an der offenen Bustür, kurz vor dem Einsteigen, stand ein Mädchen, die Haare offen. Sie hielt mit beiden Händen eine Plastiktüte umklammert und fixierte einen Punkt hinter der Kamera. Ihr Gesicht war eine ausdruckslose Maske.
»Die sehen anders aus als du, Tim Helling. Aber nicht als ich. Alles eine Frage der Perspektive.«