27. Juni 1992, Gemeinde Peltzow
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

Der tiefergelegte Golf fuhr viel zu weit links und schaltete das Fernlicht nicht ab. Uwe Jahn ging sofort auf die Bremse, lenkte seinen Iltis so weit wie möglich nach rechts, blieb stehen und ließ den Wagen vorbei. Für ein paar Sekunden hörte er das tiefe Wummern der Musik wie den Herzschlag eines Riesen. Dann war es still.

Jeden Samstag das gleiche Spiel. In die Disco, die Sau rauslassen, und dann vollgetankt wieder auf die Straße. Denen kam man besser nicht in die Quere. Letzte Woche hatten sie in der Nähe von Königswusterhausen einen Neger in den See geschmissen. Und zu Hause in den Betten beteten die Eltern, dass mit dem nächsten Wrack nicht ihr Kind am Alleebaum klebte. Denn für sie blieben es Kinder. Kinder, die ihnen mit jedem Tag der neuen Zeitrechnung fremder wurden. Warum soffen sie, warum prügelten sie, warum fuhren sie sich tot? Sie hatten doch alles: Westgeld, Farbfernsehen auf allen Kanälen, Reisefreiheit.

Sein alter Freund Fritz, seit vielen Jahren bei der Mordkommission Neubrandenburg, hatte ihm vor kurzem beim Bier erzählt, dass die Zahl der Gewaltverbrechen in der ehemaligen DDR seit der Wende explosionsartig angestiegen war. Klar, und dann kamen wieder die Nörgler und behaupteten, das wäre eben vorher alles vertuscht worden. Davon hätte er was gemerkt, das war mal sicher.

Er wollte gerade wieder losfahren, als er im Augenwinkel eine Bewegung neben dem Straßengraben sah. Mit der Linken schaltete er das Fernlicht an, die Rechte langte reflexartig nach hinten und griff nach dem Gewehr auf dem Rücksitz. Leise öffnete er die Fahrertür. Er hatte die Quote für seine privaten Abschüsse noch lange nicht voll, hinten drin lag nur ein Hase.

Vorsichtig ging er vor dem Geländewagen in die Hocke, suchte nach Spuren. Da waren sie, direkt vor ihm auf dem Sandweg. Er hielt den Atem an. Seit Monaten vertrieb ihm eine große Rotte Schwarzwild die Rehe. So ein Keiler brachte beim Schlachter eine Menge Geld. Und das brauchte er, denn er wollte einen Hund kaufen. Einen Weimaraner. Die waren nicht billig. Nichts war mehr billig, und umsonst gab es nur den Tod. Zweitausend Mark West – kein Pappenstiel für einen ehemaligen Volkspolizisten aus den sogenannten neuen Bundesländern.

Die Spuren waren zu groß. Ein paar Schritte weiter kamen noch mehr Abdrücke dazu. Turnschuhe, Erwachsene und Kinder, eine größere Gruppe. Er ging zurück, nahm die Taschenlampe aus der Halterung an der Innenseite der Autotür und richtete den Strahl in den Straßengraben. Ein Bündel Kleidung, achtlos hingeworfen. Der Strahl glitt langsam über das Feld. Die Wintergerste stand kurz vor der Ernte.

Nichts.

Er stieg wieder ein und fuhr los. Die Allee führte direkt nach Peltzow, sie überquerte die Autobahn nach Polen und wurde nach einem scharfen Linksknick zur Dorfstraße. Von Osten her glänzte frühes Tageslicht auf dem Kopfsteinpflaster. Links die Kirche, die man als solche kaum erkannte, weil sie keinen Turm hatte. Daneben das alte Herrenhaus, zu DDR-Zeiten hatten sie hier gefeiert, wenn die LPG das Soll erfüllte oder auch nicht. Wen kümmerte es schon, was die Zahlen aus Berlin sagten. Heute lief ein Streit, wem das Haus gehörte. Irgendein Adeliger aus dem Westen hätte Ansprüche angemeldet, hieß es. Dem Haus war’s wurscht, sein Verfall war nicht mehr aufzuhalten. Er parkte direkt gegenüber vor seinem kleinen Einfamilienhaus, grauer Putz, braune Fenster. Nichts Besonderes, aber sein Eigen. Wobei die Zeitung derzeit ja voll war von Leserbriefen. Leute wollten wissen, ob sie ihre Häuser behalten durften, die sie vom Staat rechtmäßig erworben hatten. Einem Staat, den es nicht mehr gab.

Er zog leise die Haustür hinter sich zu, hängte das Gewehr in den Schrank zu den anderen und schloss sorgfältig ab. Das Telefon stand gleich im Flur, ein DDR-Modell, um das ihn bis zur Wende viele beneidet hatten. Als Abschnittsbevollmächtigter, kurz ABV, brauchte er es, auch wenn er nur ein Dorfbulle war, wie ihn die Netteren abends in der Kneipe nannten. Die nicht so Netten zischten ›Denunziant vom Dienst!‹, wenn er seine Runde machte.

Aus alter Gewohnheit griff er zum Hörer und wählte die Nummer, die auf dem Zettel neben dem Telefon hing.

»Bundesgrenzschutz, Dienststelle Pomellen, guten Morgen!« Uwe kannte die Stimme nicht. Sie klang jung und verschlafen. Kein Wunder, dass hier jeder reinkam, wie es ihm passte.

»Jahn, Uwe Jahn, Jagdpächter aus Peltzow hier. Ich habe –«

»Ach, Jahn, Sie schon wieder. Und was gibt’s heute zu melden?«

Machte der sich lustig über ihn? Er ignorierte den Unterton und berichtete leise, um seine Frau nicht zu wecken, wo genau er die Sachen gefunden hatte und wo die Gruppe sich seiner Meinung nach jetzt herumtrieb.

Der andere gähnte laut. »Hab’s aufgenommen. Schönen Dank auch, Herr Jahn.«

Sie nahmen ihn nicht ernst, die jungen Grenzer aus Pomellen. Und was wollten sie schon machen? Jeder, der laut ›Asyl!‹ krähte, konnte ja einfach hierbleiben. So war es nun im neuen Deutschland. Man konnte raus, und dafür musste man in Kauf nehmen, dass alle anderen rein konnten. Sie kamen, klauten einem das noch nicht abbezahlte Auto unterm Hintern weg und arbeiteten fürn Appel und ’n Ei. Da konnte man sich die Reisen aus dem Prospekt sowieso nicht mehr leisten. Düstere Zeiten waren das.

Er fühlte das bekannte Ziehen in der Brust. Die Entlassung saß ihm noch in den Knochen. Zack, alle Polizisten über fuffzig weg wie faule Eier. So schnell kann’s gehen. Die Frau war immerhin bei ihm geblieben, auch wenn es ihr zu schaffen machte, dass die Kinder sich kaum noch sehen ließen. Früher hatten sie gerne damit angegeben, dass der Vater ABV war. Heute war es ihnen peinlich. Der Junge hatte sich freiwillig zum Bund gemeldet, die Tochter machte eine Ausbildung im Westen.

Jetzt hatte er ja wieder Arbeit. Einen Job, wie man heute sagte. Bei dem er eigentlich nur das zu machen brauchte, was er sowieso am liebsten tat: auf die Pirsch gehen. Also besser noch eine Mütze Schlaf nehmen. Er legte sich in voller Montur aufs Sofa und zog sich die Wolldecke bis unters Kinn.

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