3. Juni 2012, Gut Westenhagen
Schleswig-Holstein, Deutschland

»Madita!«

Emma ist nun die Letzte, die sie bei ihrem richtigen Namen nennt. Harte Schatten – hell, dunkel, hell, dunkel. Sie bremst ab. Die Allee aus Linden hat ihr Blätterdach über dem Weg fast geschlossen. Der Duft der Blüten zieht aufdringlich durch das offene Fenster und lässt sie an unendlich lange Kindheitstage denken, trotz des Sommers am See überschattet von einer matten Traurigkeit, die alles mit einem grauen Schleier überzieht. Da vorne steht die kleine Figur und winkt.

Mattie Junghans schaltet in den Leerlauf und lässt den Wagen rollen. In ihrem Bauch streitet der jäh einsetzende Schmerz um Hinnarck mit dem Déjà-vu ihrer winkenden Mutter. Ein Lachkrampf bahnt sich seinen Weg und treibt ihr die Tränen in die Augen. Emma hat den größten Teil ihres Lebens damit verbracht zu warten. Menschen treten in ihrem Dasein auf und ab wie in einem Filmset. Titelmelodie: Ein Schiff wird kommen von Nana Mouskouri. Emma führt Regie und ist gleichzeitig das Publikum. Aber das Kino ist fast leer. Nicht mal Hinnarck sitzt mehr neben ihr und hält die Popcorntüte.

Die Allee öffnet sich, das Gutshaus liegt überirdisch angestrahlt vor Mattie. Ein Investor hat es aus der Erbmasse des letzten Grafen von Westenhagen gekauft und in ein Seniorenheim umgewandelt. Landhausstil, funkelnder Kronleuchter in der Eingangshalle, Friseur, Aquafit. Jedoch die Flure wie leergefegt von Personal, das hechelnd Zwölfstundenschichten in Minimalbesetzung schiebt, der Geruch nach dem nahen Tod nur stellenweise überdeckt von Airfresh Marke Pfirsich. Hinter dem Gutshaus dreht sich ein Windrad. Erinnerungen prasseln auf sie ein, fünf Jahre ist es her, dass Mattie hier mit Nick und Cal …

Emmas Kopf taucht unten im Fenster des Transporters auf. »Madita, du wolltest doch um elf kommen!« Demonstrativ sieht sie auf ihre Armbanduhr, die schon seit Jahren nicht mehr geht, weil Emma sich weigert, sie abzunehmen. Hinnarck durfte die Batterie nicht auswechseln.

Der Van ist hoch, und Mattie starrt von oben auf den Haaransatz ihrer Mutter. Die mausgraue Farbe ist einem frischen Kastanienton gewichen. »Hast du dir die Haare färben lassen?« Sie macht den Motor aus und lauscht einen Moment in die Stille, bis der schleppende Tonfall von Emma wieder einsetzt.

»Schwester Lisa sagt, ich habe ein hübsches Gesicht.«

Gut gemacht, Lisa. Emma kriegt man nur zu fassen, wenn man noch berechnender ist als sie. Mattie steigt aus dem Wagen. »Hast du dem Hausmeister Bescheid gesagt?«

»Ja.« Emma guckt an ihr vorbei, und Mattie weiß, dass sie lügt. Sie mag den Hausmeister nicht, und es ist ihr egal, wie ihre Tochter die Möbel in den Keller kriegt.

Eine halbe Stunde später lässt sie sich keuchend auf Emmas ordentlich gemachtes Bett fallen. Das kleine Apartment mit eingebauter Küche hat einen weiten Blick über die Allee und den Teich. Emma sitzt in ihrem Sessel am Fenster, raucht eine Zigarette und beobachtet die tägliche Anlieferung der Wäsche. Sie wirkt zufrieden und entspannt, nicht wie eine trauernde Witwe.

»Wann fährst du weg?«, fragt sie, kaum dass Mattie sitzt. »Um zwölf gibt es Mittag.«

Mattie lacht auf. Das bedeutet nicht, dass Emma sie einlädt, mit ihr mittagzuessen, sondern dass sie vor dem Essen wieder verschwunden sein soll. Routine ist alles in Emmas Welt, nur so bleibt sie halbwegs im Gleichgewicht. Hinnarcks Tod hat den Rhythmus gestört, doch nun hat sie einen neuen gefunden. Mattie gibt sich einen Ruck. Lieber früher als später …

»Emma, du kannst hier nicht bleiben. Das Geld aus dem Hausverkauf hat gerade gereicht, um die Hypotheken zu bezahlen.«

Emma wendet nicht mal den Blick vom Fenster ab. »Hinnarck hat gesagt, ich soll hierhin«, sagt sie leise.

Mattie seufzt. »Hinnarck wollte mit dir zusammen hier leben. Du wolltest nicht.« Vor fünf Jahren hatte der erste Schlaganfall ihn erwischt, ein paar Tage vor Matties geplantem Abflug nach Bombay. Wochenlang pendelte sie zwischen ihrem Elternhaus und der Reha-Klinik, bis er wieder so weit auf den Beinen war, dass er seine Angelegenheiten selbst regeln konnte. Eine Pflegerin wurde eingestellt, die für ihn und Emma sorgte. Dann eine zweite. Dann noch ein Schlaganfall. Emma weigerte sich, ihren über Jahrzehnte angestammten Platz am Küchenfenster des Hauses in Harmsdorf am See zu verlassen. Hinnarck hätte sie nie zu irgendwas gezwungen. Er pflegte Emmas Psychosen wie ein hingebungsvoller Gärtner. Den unausweichlichen Konflikt hinterließ er seiner Tochter Madita. »Es ist zu teuer. Hinnarcks Rente reicht nicht.«

Emma starrt sie an. »Du willst mich bestrafen. Hinnarck und du. Immer habt ihr hinter meinem Rücken geredet. Wegen dem Inder –«

»Schluss jetzt!« Mattie steht auf. »Hinnarck ist tot. Und dein Inder kommt auch nicht wieder.« Hofft sie jedenfalls. Sie hat genug von Anand Kumar, mit dem Emma eine Affäre hatte, anno dazumal. »Ich sag dir Bescheid, wenn ich einen anderen Platz für dich gefunden habe.«

Ohne den starren Blick ihrer Mutter weiter zu beachten, nimmt sie ihre Tasche und geht. Für heute hat sie genug. Soll sich Schwester Lisa mit dem kommenden Anfall herumschlagen. Emma wird in Kürze komplett durchdrehen, so viel ist klar. In solchen Momenten zieht sie alle Register. Man wird Mattie zureden, ihre Mutter auf keinen Fall ein weiteres Mal zu verpflanzen, wenn sie ihre geistige und körperliche Gesundheit nicht ernsthaft gefährden will.

Sie fährt auf die Bundesstraße in Richtung Kiel, der schnellste Weg nach Hause zu Kamal. Die Kung-Fu-Schule im Gewerbegebiet ist ihr Shaolin-Kloster. Hier hat sie Aufnahme gefunden, als sie zwischen den Kliniken herumirrte wie ein verlorenes Huhn. Hier konnte sie ihren Geist beruhigen, indem sie ihren Körper an die Grenzen trieb. Und hier lebt Kamal Assadi, Kung-Fu achter Dan, zum Glück kein Mönch. Ein Mann, der sie immer wieder in die Selbstbeobachtung treibt, eine Wohltat nach den wirren Jahren mit Nick und Cal. Hier kann sie auftanken, in den Wintermonaten, wenn sie nicht mit ihrem Wanderkino die Küste entlangzieht. Zog, besser gesagt.

Denn damit ist es jetzt vorbei. Wenn Emma hundert wird, was für Mattie feststeht, dann muss sie sich jetzt eine anständige Arbeit suchen und neunundzwanzig Jahre lang malochen, bis sie siebenundsechzig ist.

Grenzfall
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004.html
part0005.html
part0006_split_000.html
part0006_split_001.html
part0006_split_002.html
part0007_split_000.html
part0007_split_001.html
part0007_split_002.html
part0007_split_003.html
part0007_split_004.html
part0007_split_005.html
part0007_split_006.html
part0007_split_007.html
part0007_split_008.html
part0007_split_009.html
part0007_split_010.html
part0007_split_011.html
part0007_split_012.html
part0007_split_013.html
part0007_split_014.html
part0007_split_015.html
part0007_split_016.html
part0007_split_017.html
part0007_split_018.html
part0007_split_019.html
part0007_split_020.html
part0008_split_000.html
part0008_split_001.html
part0008_split_002.html
part0009_split_000.html
part0009_split_001.html
part0009_split_002.html
part0009_split_003.html
part0009_split_004.html
part0009_split_005.html
part0009_split_006.html
part0009_split_007.html
part0009_split_008.html
part0009_split_009.html
part0009_split_010.html
part0009_split_011.html
part0009_split_012.html
part0009_split_013.html
part0009_split_014.html
part0009_split_015.html
part0009_split_016.html
part0009_split_017.html
part0009_split_018.html
part0009_split_019.html
part0009_split_020.html
part0009_split_021.html
part0009_split_022.html
part0010_split_000.html
part0010_split_001.html
part0010_split_002.html
part0010_split_003.html
part0010_split_004.html
part0010_split_005.html
part0010_split_006.html
part0010_split_007.html
part0010_split_008.html
part0010_split_009.html
part0010_split_010.html
part0010_split_011.html
part0010_split_012.html
part0010_split_013.html
part0010_split_014.html
part0010_split_015.html
part0010_split_016.html
part0010_split_017.html
part0010_split_018.html
part0010_split_019.html
part0010_split_020.html
part0010_split_021.html
part0010_split_022.html
part0010_split_023.html
part0010_split_024.html
part0010_split_025.html
part0011_split_000.html
part0011_split_001.html
part0011_split_002.html
part0011_split_003.html
part0011_split_004.html
part0011_split_005.html
part0011_split_006.html
part0011_split_007.html
part0011_split_008.html
part0011_split_009.html
part0011_split_010.html
part0011_split_011.html
part0011_split_012.html
part0012.html
part0013.html
part0014.html
part0015_split_000.html
part0015_split_001.html