18. Juni 2012, A 20 Richtung Berlin
Brandenburg, Deutschland

»Sie will nur einen Anwalt, der selber Rom ist?«

Liviu nickt verdrossen und blinkt einen Laster an, damit er überholt. Mattie hat ihn ans Steuer gelassen, er sagt, das Fahren beruhigt ihn. Sie muss zugeben, dass er den Bus behandelt wie ein verdientes altes Rennpferd. Sie stellt die Füße aufs Armaturenbrett, Arme um die Knie, und guckt aus dem Fenster. Auf einer Wiese grasen Rehe im Abendlicht. Was für eine komplizierte, verworrene Geschichte ihr die Gutmenschen-Tante da aufgetischt hat.

»Kanntest du den Vater von Adriana?«

»Jeder kannte Marius Voinescu. Ein angesehener Mann in Turnu Severin. Vorbild für die jungen Männer.« Langsam gewöhnt sie sich an das zwei- bis dreisprachige Kauderwelsch von Liviu.

»Wie habt ihr erfahren, dass er tot ist?«

Liviu rutscht auf dem Sitz hin und her. Das Thema ist ihm unangenehm. »Ich war da. Kurz danach. Sie auch. Adriana.«

»Auf dem Feld? Du warst auch hier in Deutschland?« Das gibt’s doch nicht. »Und dann?«

»Nichts und dann. Marius und ein anderer Mann aus der Gruppe waren erschossen. Von der Polizei. Wir mussten schnell weg, bevor die Polizei wiederkommt. Viele Leute, alle illegal.«

»Moment mal.« Mattie versucht ihre Gedanken zu ordnen. »Ihr habt die beiden Toten da liegen lassen?«

»Bitte, Frau Mattie.« Er lächelt gequält. »Wir reden nicht gern über die Toten. Bringt Unglück. War eine ganz schlimme Sache damals. Wir hatten Angst, sie denken, wir haben Marius und den anderen erschossen.«

Mattie seufzt. Wahrscheinlich hatten sie diese Angst zu Recht. »Okay, aber sag mir wenigstens, woher du weißt, dass es die Polizei war, die Marius umgebracht hat.« Hat die Pastorin vorhin nicht von Jägern gesprochen?

»Wir haben das Polizeiauto gesehen. Kam uns entgegen, sehr schnell. Adriana und ich.«

»Und später? Habt ihr das ausgesagt?«

Er sieht sie an. »Natürlich, Frau Mattie. Hundertmal. Immer wieder musste ich zur Polizei. Reden, reden, reden.«

Ihr ist nicht klar, ob er die Verhöre von damals meint oder ihr augenblickliches Gespräch. Ist aber egal jetzt. Das alte Jagdfieber hat sie gepackt. Bescheuerter Vergleich in diesem Zusammenhang, Mattie. Jedenfalls läuten alle Alarmglocken in ihrem Kopf. »War jemand von euch beim Prozess?«

Liviu zuckt die Schultern. »Ist viel passiert damals. Das Heim wurde geschlossen, nach einem Feuer. Überall Feuer in Deutschland. Gegen Ausländer. Aber waren nur wenige, sonst ist Deutschland ein gutes Land.«

»Hmm, ja.« Meint er das wirklich ernst, nach allem, was passiert ist, oder sagt er es nur ihr zuliebe? »Wohin seid ihr gegangen?«

Wieder ein Thema, das Liviu offensichtlich nervt. »Adriana ist zurück, gleich nach dem Feuer im Heim. Mit der Familie. Marius wurde zu Hause beerdigt. In Turnu Severin. Ich musste weg aus Kollwitz. Zurück nach Rumänien. ’93.«

Langsam dämmert es in Matties Bewusstsein. 1992. Der letzte Sommer mit Tim. Rostock-Lichtenhagen. Änderung des Asylrechts. Sichere Drittstaaten. »Haben sie dich abgeschoben, Liviu?«

Er nickt. »Alle. Wenn sie uns gefunden haben, mussten wir ins Flugzeug und nach Rumänien. Nach ein paar Jahren waren alle wieder da. In Turnu Severin. Da konnten wir nicht mehr weg. Bis EU. Erst nur mit Visum. Jetzt ohne.«

Mattie überlegt. Wie praktisch. Alle Zeugen untergetaucht oder abgeschoben. »Wusstest du, dass die Männer, die Marius erschossen haben, freigesprochen wurden?«

»Was?« Liviu sieht misstrauisch zu ihr rüber. »Kein Gefängnis? Aber wussten doch alle, wer es war!«

»Ja, genau.« Mattie ist schwindelig von der Informationsflut der letzten Stunden. »Glaubst du, die Familie hat davon gewusst? Adriana?«

Liviu schüttelt den Kopf. »Nein. Auf keinen Fall. Sie hätten es jemandem erzählt. Wir leben sehr eng zusammen. Eine Familie, verstehst du?«

Klar, das hat sie mittlerweile kapiert. Ist ja nicht zu übersehen. »Und habt ihr in eurer Berliner Abteilung zufällig auch einen Anwalt?«

»Abteilung?« Livius Sinn für Humor ist vielleicht wegen Stress abgeschaltet.

»Wo finden wir einen Roma-Anwalt?«

»Aber, Frau Mattie!« Jetzt schwingt eindeutig ein Vorwurf in seiner Stimme. »Sie arbeiten doch bei dem abogado. Müssen Sie sagen!«

Na toll. Vielleicht kennen Volker und Bettina einen Anwalt, der zufällig Rom ist. Irgendwo in Deutschland. Vielleicht auch nicht. Mattie greift in ihre Tasche, um das Handy herauszuholen. Hoffentlich hat Nick sich von selbst gemeldet. Dann könnte sie ihn bitten, Jasmin zu fragen –

Nichts. Nicht mal eine SMS. Warum soll er sich auch darum kümmern, was der Ex-Anteil seiner Familie so ganz allein am Wochenende treibt? Familie im Roma-Sinne jedenfalls könnte man es doch nennen, oder? Denk nach, Mattie. Du bist auf dich allein gestellt.

Sie steckt das Telefon wieder in die Tasche. Dabei gerät ihr ein Papier zwischen die Finger. Der Flyer. Neulich im Park hat sie ihn eingesteckt, ohne draufzugucken. Was hat die Frau noch gesagt? »Wenn es Probleme mit der Polizei gibt, meldet euch.« Probleme mit der Polizei. Das kann man in diesem Fall laut sagen.

Eine Stunde später parken sie vor einem kleinen Ladenlokal in Neukölln. Mattie steigt aus. Heiße, stickige Stadtluft schlägt ihr entgegen. Es hat trotz allem gut getan, mal rauszukommen. Liviu gibt ihr den Schlüssel zum Bus. Die Tür des Ladens steht offen. Höflich lässt er ihr den Vortritt.

Drinnen ist die Luft zum Schneiden. Ungefähr zwanzig Leute sitzen um Tische herum und auf der Kante einer Bühne. Viele rauchen, überquellende Aschenbecher, man trinkt Kaffee und Clubmate. Gemütlich. Sieht nach Plenum aus. Mattie hat ja mal ein besetztes Kino mitbetrieben, vor Urzeiten in Hamburg. Dort ist sie Nick begegnet. Sie und Liviu stellen sich neben die Tür. Keiner beachtet sie.

»… immer dasselbe. Diesmal war es ein Hausverwalter in Friedrichshain. Der Besitzer hat Insolvenz angemeldet, das Haus ist zur Zwangsversteigerung ausgeschrieben. Das Vorderhaus steht seit einem halben Jahr leer, weil es angeblich modernisiert werden sollte.« Der Mann ist vielleicht ein paar Jahre älter als sie, dunkler Zopf, weißes Hemd. Eckige Brille mit schwarzem Rand. Raucht Gitanes. »Und dieser schlaue Herr Celik –«

»Ist das ein Türke?« Die Frau mit den Dreads, die ihr den Flyer gegeben hat.

»Spielt das eine Rolle?« Der Mann fixiert sie über den Rand seiner Brille. Nicht schlecht. Mattie hockt sich auf eine umgedrehte Bierkiste. Liviu sieht sie an. Sie macht eine Handbewegung, er soll sich hinsetzen. Kann dauern.

»Also dieser Hausverwalter denkt sich: Warum soll ich das ganze Haus leerstehen lassen, und streut über irgendwelche Kanäle, dass er Betten vermietet. Keine Zimmer, Betten! Ihr wisst, wie es läuft in Ungarn und Tschechien. In weniger als zwei Wochen waren die Betten voll. Sieben Euro die Nacht mal vier pro Zimmer mal durchschnittlich zwei Zimmer pro Wohnung mal fünf Stockwerke à zwei Wohnungen. Kann das mal jemand ausrechnen?«

»Fünfhundertsechzig die Nacht.« Eine Frau mit harten Gesichtszügen, die Kette raucht. Eine – Romni, na ja, vielleicht. Spielt das eine Rolle, Mattie?

»Das ist eine Goldgrube. Natürlich bestellt der werte Herr nicht mehr Mülltonnen, und die Wohnungen quellen über von Menschen und Sachen. Der Müll fliegt in den Hof. Die Nachbarn beschweren sich. In diesem Fall hat uns eine Frau mit Hirn informiert, die im Bezirksamt arbeitet. Und als wir ankamen?«

Der Mann wirft einen gekonnten Blick in die Gruppe. Stille. Schauspieler, Politiker oder Naturtalent.

»Weg. An die hundert Leute sind wie vom Erdboden verschwunden, und genauso der Herr Celik. Ein Nachbar sagt, da sind nachts Busse vorgefahren und haben die Leute weggebracht.«

»Sollte nicht mal jemand mit den Leuten im Park reden? Ich wette, die kommen auch aus dem Haus.« Das ist wieder die Frau mit den Dreads. »Die brauchen ja einen kurzen Fußweg zum Kotti morgens, zum Scheibenputzen.«

»Kann ich machen.« Ein Wuschelkopf aus der dritten Reihe, Geschlecht von hier aus nicht zu erkennen.

»Vor allem müssen wir diese Geschichten öffentlich machen. Die Leute müssen kapieren, dass es Ursachen gibt, nicht nur Zustände.«

»Ich kenne einen freien Journalisten, der schreibt für verschiedene Zeitungen.« Alle Gesichter drehen sich zu Mattie. Skepsis. Misstrauen. Neugier. »Ich bin Mattie«, fügt sie sicherheitshalber hinzu. »Und das ist Liviu.« Der kommt schon besser an in dieser Runde. Entspannung.

»Okay, ruf den an. Das war’s, Leute. Der Plan für die Sprechstunden nächste Woche hängt aus.«

Fünf Minuten später ist das Plenum in kleine Grüppchen zerfallen. Mattie und Liviu sitzen an einem Tisch, um sie herum fünf, sechs Leute. Diesmal gibt Liviu seine Zusammenfassung der Ereignisse auf Rumänisch, was erheblich schneller geht. Betroffene Gesichter unter denen, die ihn verstehen, geflüsterte Übersetzungen für die anderen. Mattie wartet ab und guckt sich um. Ein schöner Laden. Auch ein Zuhause, so ein Projekt.

Plötzlich fällt das Wort »abogado«, und alle gucken wieder zu ihr.

Die Kettenraucherin ergreift das Wort. »Wir machen hier unbezahlte Sozialarbeit. Begleitung zu den Ämtern und so. Was wir eigentlich machen wollen, ist Kultur, Öffentlichkeitsarbeit und Veranstaltungen. Eigene Juristen haben wir nicht. Bei welcher Kanzlei bist du?«

»Volker Meerbach und Bettina Wiese.« Ein Raunen geht durch die Gruppe. Ihre Arbeitgeber sind offensichtlich bekannter, als Mattie dachte.

»Bessere gibt es nicht. Die solltest du dafür gewinnen.« Die Frau übersetzt für Liviu, der Mattie auf die Schulter klopft und mit viel Pathos etwas sagt, das sicher so viel bedeutet wie: Ich weiß, dass sie es schaffen wird.

Grenzfall
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004.html
part0005.html
part0006_split_000.html
part0006_split_001.html
part0006_split_002.html
part0007_split_000.html
part0007_split_001.html
part0007_split_002.html
part0007_split_003.html
part0007_split_004.html
part0007_split_005.html
part0007_split_006.html
part0007_split_007.html
part0007_split_008.html
part0007_split_009.html
part0007_split_010.html
part0007_split_011.html
part0007_split_012.html
part0007_split_013.html
part0007_split_014.html
part0007_split_015.html
part0007_split_016.html
part0007_split_017.html
part0007_split_018.html
part0007_split_019.html
part0007_split_020.html
part0008_split_000.html
part0008_split_001.html
part0008_split_002.html
part0009_split_000.html
part0009_split_001.html
part0009_split_002.html
part0009_split_003.html
part0009_split_004.html
part0009_split_005.html
part0009_split_006.html
part0009_split_007.html
part0009_split_008.html
part0009_split_009.html
part0009_split_010.html
part0009_split_011.html
part0009_split_012.html
part0009_split_013.html
part0009_split_014.html
part0009_split_015.html
part0009_split_016.html
part0009_split_017.html
part0009_split_018.html
part0009_split_019.html
part0009_split_020.html
part0009_split_021.html
part0009_split_022.html
part0010_split_000.html
part0010_split_001.html
part0010_split_002.html
part0010_split_003.html
part0010_split_004.html
part0010_split_005.html
part0010_split_006.html
part0010_split_007.html
part0010_split_008.html
part0010_split_009.html
part0010_split_010.html
part0010_split_011.html
part0010_split_012.html
part0010_split_013.html
part0010_split_014.html
part0010_split_015.html
part0010_split_016.html
part0010_split_017.html
part0010_split_018.html
part0010_split_019.html
part0010_split_020.html
part0010_split_021.html
part0010_split_022.html
part0010_split_023.html
part0010_split_024.html
part0010_split_025.html
part0011_split_000.html
part0011_split_001.html
part0011_split_002.html
part0011_split_003.html
part0011_split_004.html
part0011_split_005.html
part0011_split_006.html
part0011_split_007.html
part0011_split_008.html
part0011_split_009.html
part0011_split_010.html
part0011_split_011.html
part0011_split_012.html
part0012.html
part0013.html
part0014.html
part0015_split_000.html
part0015_split_001.html