9. Juli 2012, Kreuzberg
Berlin, Deutschland

Auf den Treppen ist sie immer noch schneller als Nick. Trotzdem wird es höchste Zeit, etwas für die Kondition zu tun. Mattie bleibt vor der Metalltür stehen und wartet. Sie haben eine Ochsentour hinter sich. Abwechselnd fahren, drei Stunden Schlaf auf einer Raststätte im Auto. Die ganze Hinfahrt über lag knisternde Anspannung in der Luft. Kaum ein Wort ist zwischen ihnen gefallen, nachdem Nick ihr erklärt hatte, worum es ging. Auf der Rückfahrt waren sie in Siegerlaune. Doch nicht mal die konnte die Melancholie überdecken, die zwischen ihnen hing wie feuchte Wäsche.

»Hast du Nadina und Adriana angerufen?«, keucht Nick, als er endlich oben auf dem Absatz steht.

»Die sind sowieso hier. Abschlussbesprechung.« Mattie drückt die schwere Tür auf, die wie immer nur angelehnt ist. Im Vorraum nimmt sie zwei Plastikbecher und füllt sie aus dem Wasserspender. Sie muss an die erste Begegnung mit Volker denken. Von jetzt an wird sie hier den ganzen Tag verbringen. Keine Alleingänge mehr. Das hat Bettina ihr klar zu verstehen gegeben. An den Wochenenden kann sie Emma besuchen und ab und zu eine Runde Training in Kiel einschieben. Ein geregeltes Leben.

Nick nimmt ihr einen Becher aus der Hand. Ein kurzer Blick, dann trinkt er.

Volker, Bettina und ihre beiden Mandantinnen sind im Konferenzraum. Beide Frauen telefonieren auf Rumänisch oder Romanes, Nadina neben der Tür und Adriana hinten am Fenster. Nur die Anwälte sehen auf, als Mattie hereinkommt. Volker zwinkert ihr zu. Nick setzt sich hin. Mattie nimmt einen Stuhl auf der Stirnseite. Abstand schaffen.

»Die beiden klären mit ihren Familien, ob sie einen Zivilprozess führen wollen«, erklärt Bettina flüsternd.

»Gegen wen?«, fragt Nick.

»Gegen den zweiten Jäger, beziehungsweise die beiden Haftpflichtversicherungen.« Volker sieht rüber zu Nadina, die aufgelegt hat. »Und?«

»Sie sind alle einverstanden.«

»Gut. Wir brauchen Vollmachten von deiner Mutter und von jedem deiner Brüder. Kannst du das organisieren?«

Nadina überlegt. »Ja. Wenn ihr einen Scanner habt, schicke ich die Formulare an Mihai. Er kann sie im Internet abrufen.«

Adriana ist jetzt auch fertig.

Mattie setzt an, das Wort zu ergreifen, doch Nick gibt ihr ein Zeichen zu warten. Adriana spricht mit Nadina, ihre Stimme klingt ganz anders als im Gefängnis. Nicht mehr so gehetzt.

»Adrianas Familie möchte sich auch beteiligen. Sie selbst nicht. Sie will nicht, dass der andere Mörder sich freikaufen kann.«

Nadina fragt noch einmal nach. Adriana lächelt und wiederholt einen Satz.

»Ein Geschichtslehrer hat sich bei ihren Brüdern gemeldet, wegen der Tagebücher. Du kennst ihn wohl, Mattie. Er hat einen interessierten Verlag gefunden.«

»Das ist gut.« Es war nicht schwer, Georgel für diese Idee zu begeistern.

Nadina übersetzt weiter. »Adriana denkt, was der Traum bedeutet, ist: Ihr Vater ist nicht tot. Viele Leute sollen lesen, was er geschrieben hat.«

Das klingt gut. »Können wir jetzt –« Volker nickt. Mattie spricht auf Englisch weiter. »Wir haben etwas gefunden. Etwas sehr Kostbares.«

Nick zieht ein kleines Kästchen aus der Hosentasche und schiebt es Adriana über den Tisch. Sie nimmt es in die Hand, betrachtet es lange und öffnet den Deckel. Schlägt die Hand vor den Mund. Dreht das Kästchen langsam herum, so dass alle es sehen können. Die goldenen Ohrringe glänzen. Sie wurden gut gepflegt in den letzten zwanzig Jahren. Drei ineinanderliegende Ringe. Genau wie Marius Voinescu es in seinem letzten Fahrtenbuch geschrieben hat.

»Woher habt ihr die?« Volker süffelt seine Mate. Mattie sieht Nick an. Seine Idee. Seine Show.

»Ich habe die Übersetzung der letzten Seite gelesen. Mir fiel auf, dass die Ohrringe, von denen Marius schreibt, in der Gerichtsmedizin nicht mehr dabei waren. Der Erntearbeiter hat angeblich weder die beiden Toten noch ihre Sachen berührt. Und nach dem Brand war niemand mehr allein am Tatort.«

Nadina übersetzt. Adriana starrt auf die Ohrringe.

»Erst gestern ist mir wieder eingefallen, wo ich genau solche Ohrringe schon gesehen habe.« Nick deutet auf das Kästchen. »Als wir bei unserem ersten Besuch das Haus verließen, stieß ich an der Kellertür mit der Frau von Hans-Jürgen Walther zusammen. Desireé Walther.«

Nick erklärt ihre Theorie. Walther hat sie natürlich als Lüge abgetan, als sie gestern überraschend in seinem Bungalow aufkreuzten. Sie vermuten, dass er noch mal am Feld vorbeigefahren ist, nachdem er und Jahn sich an jenem Morgen getrennt hatten. Er muss gesehen haben, dass Marius tot war, aber Nicu noch atmete. Hinten vom Feldrand näherte sich Helmut auf seinem Mähdrescher. Vielleicht stand Walther unter Schock. Vielleicht geriet er in Panik. Vielleicht hat er auch darüber nachgedacht, dass er noch ein Mitbringsel für seine Frau brauchte. Auf jeden Fall hat er die Ohrringe aufgehoben und eingesteckt. Dann hat er das Feuer gelegt, um den Jagdunfall zu vertuschen.

»Zugegeben hat er nichts.« Nick macht eine Pause für Nadina. Bettina flüstert Volker etwas ins Ohr. »Als wir die Frau direkt auf die Ohrringe ansprachen, ging sie wortlos aus dem Zimmer und brachte sie uns. Ich habe sie gefragt, in welchem Jahr sie sie bekommen hat. Es war ihr dritter Hochzeitstag. Und in zwei Jahren ist Silberhochzeit. Im Juli.«

»Das reicht.« Volkers Stimme klingt grimmig. »Wir rollen den Fall auch strafrechtlich wieder auf.« Er wendet sich an die beiden Frauen. »Wo erreiche ich Sie in der nächsten Zeit?«

Nach kurzem Hin und Her erklärt Nadina, dass sie vorerst in der Stadt bleibt. Adriana will so schnell wie möglich zu Florin und zu ihren Töchtern. Liviu fährt sie persönlich hin. Er muss sich mit der Familie aussöhnen.

Nadina lacht. »Adriana sagt, sie will den Job in den Ostseeterrassen nicht behalten. Putzen für vier Euro die Stunde ist nicht genug an so einem verfluchten Ort.«

Hallo? Mattie hat das Gefühl, jede Person im Raum müsste hören, wie Hunderte von Synapsen in ihrem Gehirn knisternd Aktivität aufnehmen.

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