15. Juni 2012,
Kreuzberg
Berlin, Deutschland
»Du fällst überhaupt nicht auf. Wäre beinah vorbeigelaufen.«
Nick nimmt die Sonnenbrille ab und sieht Mattie im Gegenlicht vor seinem Liegestuhl stehen. Sie hat einen Rock an, oder jedenfalls eine Mischung aus Hose und Rock.
»Starr mich nicht so an.«
»Ich hab dich noch nie im Rock gesehen.«
»Ich wollte mich eben mal verändern. Wart’s ab, ich lass mir die Haare wachsen, mach mir ’ne hübsche Hochsteckfrisur, dann kann ich hier auch mitmachen.«
Azim kräht in seinem Joggingmobil. Mattie kneift ihn in die Wange. Er macht ein entsetztes Gesicht. Übergriffige Fremde mag er nicht. Nick sieht sich um. Mattie hat natürlich recht. Männer mit kurzen Haaren, Jeans und Sonnenbrille, Frauen mit langen Haaren, Rock und Sonnenbrille. Durchschnittsalter dreißig. Kinderrate geschätzte sechzig bis siebzig Prozent.
»Die spielen Erwachsensein. Wie langweilig.« Sie sagt es zu Azim, aber sie meint ihn. Mattie lässt sich in den Liegestuhl auf der anderen Seite der Karre fallen.
»Und du? Wirst du nicht langsam ein alterndes Mädchen?« Allein wie sie dasitzt, die Knie hochgezogen, Arme fest darumgeschlungen.
»Ja, kann sein.« Sie sieht ihn nachdenklich an. Kein ätzender Spruch? »Ich denke gerade darüber nach, was ich mache, wenn ich mal groß bin.«
Nick muss lachen.
»Jetzt guck mich nicht so an.« Diesmal meint sie Azim. »Kommst du freiwillig zu mir, oder muss ich dich bestechen?« Umständlich hebt sie ihn aus dem Wagen. Nick sieht lieber woandershin. Soll sie nur machen. Innerlich stellt er sich auf das kommende Gebrüll ein. Es bleibt still. Nicht hingucken.
Links unter dem Schuppenvordach sitzen Leute, die auf den zweiten Blick nicht ins Bild passen. Sie trinken auch keinen italienischen Kaffee oder Rhabarberschorle. Nick schielt nach rechts. Mattie und Azim sind nicht mehr da. Nicht überreagieren jetzt. Er versucht, sich wieder auf die Leute unter dem Dach zu konzentrieren. Schlagzeilen gehen ihm durch den Kopf, eine polizeiliche Räumung im Görlitzer Park, als er noch in Bombay war. Mehrere Romafamilien, die hier über den Sommer ihr Lager aufgeschlagen hatten. Nicks Interesse ist geweckt. Er steht auf und schlendert an dem überdachten Betonstreifen vorbei.
Ein heiseres Lachen lässt ihn aufhorchen. »Zigarette?« Die Frau sieht ihn herausfordernd an. Ist die in seinem Alter? Älter? Keine Spur von devotem Gebettel.
Nick lacht. »Sorry, ich rauch nicht mehr.«
Ihre Aufmerksamkeit ist schon zum nächsten Spaziergänger weitergewandert. Er kann den Blick nicht abwenden, andererseits hat er das Gefühl, Leuten in einem gläsernen Haus beim Leben zuzugucken. Ein Mann rasiert sich, eine Frau wäscht ihr Kind mit Wasser aus einem Eimer. Junge Männer rauchen und unterhalten sich.
»Na? Heimweh nach Bombay?«
Nick dreht sich um. Mattie hat Azim auf der Hüfte sitzen, der zufrieden an einem Wassereis saugt. Nick verzieht das Gesicht. »Eigentlich soll er nicht so viel Zucker und künstliche Farbstoffe –«
»Nick!« Mattie macht seine Grimasse nach. »Wenn du dich hören könntest!« Sie dreht sich weg und murmelt verschwörerisch in Azims Ohr, der begeistert in ihre kurzen Haare greift und daran zieht.
Nick guckt wieder zu der Frau mit dem Lachen rüber. Ja, er hat Heimweh nach Bombay. Und verdammt, er hätte gern eine Zigarette. »Ich geh mal kurz rüber zum Spätkauf. Willst du auch was?«
Mattie schüttelt den Kopf. »Wir sind zufrieden. Oder, Azim?« Das rote Eis kleckert auf seinen neuen Body. Sein Mund sieht aus, als hätte er den Lippenstift von Jasmin gefunden. Auch egal jetzt.
Als Nick vom Kiosk kommt, eine Schachtel American Spirit – wenigstens organischer Tabak – in der Hand, bietet sich ihm eine Szene wie aus einem Film. Mattie mit Azim auf dem Arm. Steht ihr gut. Von rechts kommt einer dieser militanten Radfahrer angejagt, Kopfhörer auf, guckt nicht links, nicht rechts, Kinder, Hunde, Gehbehinderte, mir doch scheißegal. Im selben Moment hat der Junge unter dem Dach es satt, mit Seife eingeschäumt zu werden. Er greift nach dem Plastikeimer, blitzschnell hat er ihn über den Kopf gestülpt, Wasser spritzt auf Beton, und schon ist er weg, auf der Flucht vor seiner keifenden Mutter. Nick macht die Augen zu. Kollision unausweichlich.
Es scheppert nicht.
Langsam macht er die Augen wieder auf. Mattie hat den Wicht mit dem Eimer auf dem Kopf an der Hand, Azim immer noch auf der Hüfte. Sie ruft dem Fahrradfahrer hinterher, der sich umdreht und ihr den Mittelfinger zeigt. Nick geht näher ran.
»Fick dich!« Mattie muss immer das letzte Wort haben. Der Kleine hat den Eimer abgenommen und guckt sie bewundernd an. Die Mutter kommt dazu. Nick will Mattie Azim abnehmen, wird jedoch von einer Frau mit blonden Dreadlocks überholt.
»Lässt du mich mal bitte durch?« Sie bringt sich zwischen Mattie und der Mutter des Jungen in Position. »Falls die Polizei kommt oder es sonst Ärger gibt, ruft bitte hier an. Wir versuchen dann, was für euch zu organisieren.« Sie drückt Mattie einen Flyer in die Hand.
Nick prustet los. Die Frau mit den Dreads wirft ihm einen wütenden Blick zu und geht weiter zu den Leuten unter dem Dach. Mattie dreht sich um. Schwarze Haare, braune Haut, das Kind genauso.
»Du fällst hier nicht auf.« Nick lächelt sie an.
»Ja?« Mattie starrt auf den Zettel in ihrer Hand. »Ich gehör lieber hier dazu als zu deinem hippen Kreuzberger Volk da drüben.«
»Klar«, sagt Nick, »solidarity with the downtrodden.« Er steckt sich eine Zigarette an, geht zu der Frau, die immer noch keine hat, und hält ihr die Schachtel hin. Sie nimmt sich drei.
»Danke, mein Freund.« Diese Stimme. Große Klasse. Nick würde am liebsten fragen, ob er sie aufnehmen darf.
»Sag mal, findest du das gut, die noch so zu ermutigen?« Diese Stimme klingt überhaupt nicht cool. Gepresst. Angestrengt. Überheblich.
Nick dreht sich um. Mattie hat es auch gehört. Da drüben, auf den äußeren Liegestühlen.
»Sprichst du mit mir?« Er bläst den Rauch seiner Zigarette absichtlich in ihre Richtung. Typ Yogalehrerin.
»Du solltest diese Leute nicht dazu ermutigen, zu betteln. Ich wohne hier, und ich kann dir sagen, wir Anwohner sind gar nicht glücklich, dass die in unserem Park lagern. Guck dir doch mal den Müll an!«
Lagern. Was ist denn das für ein Wort! »Die sitzen doch hier ganz friedlich. Oder haben die dir was getan?«
Die Frau verzieht den Mund wie ein mauliges Kind. »Mir nicht, aber meiner Freundin hat man vorgestern das Auto aufgebrochen.«
»Ach echt?« Das ist jetzt Mattie von links. »Und du hast also beobachtet, wer es war?« Sie ist noch nicht fertig. »Und der ganze Müll hier im Park stammt auch von denen? Die müssen ja Kohle ohne Ende haben, so viele Sekt- und Weinpullen wie hier rumliegen.«
Jetzt mischt sich auch noch der Supervater ein, der Nick schon vorhin damit genervt hat, dass er die ganze Zeit überlaut mit seinem Nachwuchs quatscht. »Ihr müsst doch zugeben, dass das für unsere Kinder nicht schön ist. Immer dieses Geschrei. Und die Jungs da drüben rauchen schon. Die sind doch höchstens vierzehn!«
»Stimmt«, sagt Mattie, »hast du das gesehen, Azim? Willst du jetzt auch rauchen?« Azim gluckst und greift nach ihrer Nase.
Der Typ wird sauer, guckt sich um, sucht Verstärkung. »Na ja, mir ist es nicht egal, womit meine Kinder aufwachsen. Und einigen anderen hier im Viertel auch nicht.«
»Problems, honey?« Der Freund von der Yogalehrerin. Weniger Yoga als Kraftraum. Zwei Caipis in der Hand.
»Mattie.« Sie hat sich gerade in Stimmung gebracht, doch Nick deutet auf Azim. »Rückzug.« Er greift sich die Karre, und sie machen sich davon. Ein ganz normaler Abend mit Mattie. Wenigstens nicht langweilig.