18. Juni 2012, Hansestadt
Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
Unsere Zigeuner. So haben sie sie damals genannt, natürlich nur, wenn sie unter sich waren. Sie und Arno. Heute würde man sagen, das ist politisch unkorrekt. Das waren eben andere Zeiten. Sie waren jung und naiv. Hingerissen von dem bunten Völkchen in der Nachbarschaft.
Mein Gott, dieses Gesicht. Erinnerungen stürzen auf sie ein. Damit hat sie nicht gerechnet.
Als Gefängnisseelsorgerin kommt Gesine einmal wöchentlich in die Justizvollzugsanstalt Kollwitz. Hier sitzen kaum schwere Kaliber ein wie in Berlin oder Rostock. Autodiebe, Einbrecher, Kleinkriminelle. Ein paar Drogensüchtige und jugendliche Gewalttäter. Insgesamt gerade mal einhundertvierzig Plätze, Regelvollzug und Untersuchungshaft. Und nun diese Mörderin.
Keine Ablenkung für die Sinne. Sie sitzen in einem Quader aus Beton. Gesine hat im letzten Jahr einen Kurztrip nach Erfurt gemacht und im evangelischen Augustinerkloster übernachtet. Dort gibt es einen Neubau mit einfachen Gästezimmern für Besucher. Protestantische Kargheit. Angenehme Funktionalität. Die Ähnlichkeit der Architektur ist verblüffend.
Unsere Zigeuner. Arno mit seiner Gitarre, auf dem Weg vom Pfarrhaus hinüber ins Heim. Gesine hat sich so bemüht, aber für sie gab es unüberwindbare Grenzen. Die Nähgruppe, um Kostüme für die Tanzvorführungen anzufertigen, die sie in der Umgebung des Heims organisierten. Gemeinsames Kochen mit den Frauen aus der Kirchengemeinde. Doch immer, wenn sie das Gefühl hatte, einen Durchbruch zu erzielen, zogen die Frauen sich wieder in ihre eigene Welt zurück und schlossen sie aus. So wie diese Frau hier, die ihr seit zehn Minuten gegenübersitzt, ohne eine Wort zu sagen.
Arno hatte es leichter mit den Männern. Seine Art ist von Natur aus gewinnend. Er ist Künstler. Er spielt Gitarre. Die Männer im Heim hatten sofort einen Draht zu ihm. Sie vertrauten ihm. Teilten sich mit ihm die Nachtwachen nach dem ersten Angriff, spielten Karten, tranken Schnaps. »Im Herzen bin ich einer von ihnen.« So unrecht hatte er damit nicht. Arno Matthiesen. Bildhauer, Vagabund. Zu Hause dort, wo der Wind ihn hintrieb. So stellte er sich gern dar. Und glaubte es selbst.
Gesine sieht auf die Uhr. »Noch fünf Minuten, dann muss ich wirklich gehen. Es gibt andere, die meinen Beistand brauchen.« Warum hat sie nur das Gefühl, dass die Frau jedes Wort versteht? Sie ist doch rumänische Staatsbürgerin. Sie starrt auf den Zettel vor sich. Adriana Ciurar. Adriana …
»Adriana Voinescu!« Natürlich. Vor ihr sitzt das Mädchen Adriana. Angeklagt wegen Raubmordes an dem Mann, der ihren Vater getötet hat. Menschenskinder. Das muss sie erst mal verdauen.
Adriana schweigt und sieht sie an aus diesen klugen dunklen Augen, deren Blick Gesine schon bei dem Kind beunruhigend fand. So viel Schmerz stand in diesen Augen, als sie sie zurückbrachten von dem Feld, wo ihr Vater gestorben war. Ein stummes Bündel mit zwei riesigen Augen. Einen Tag später stand sie wieder in der Küche, kochte für die kleinen Brüder und kümmerte sich um die Mutter, die ständig in Ohnmacht fiel.
»Sie haben viel Leid erlebt, Adriana.« Gesine wählt ihre Worte mit Bedacht. »Aber Sie können nicht einfach hierherkommen und Rache üben. Damit verursachen Sie anderen Menschen Leid, wie Ihnen welches zugefügt wurde. Haben Sie das bedacht, bevor Sie die Tat begangen haben?«
Kein Wort. Nur die Augen sprechen.
Bei aller Liebe, wenn die Frau nicht reden will, ist ihr nicht zu helfen. Mit einem Seufzer nimmt Gesine ihre Ledertasche und steckt den Zettel hinein. Es ist nicht ihre Aufgabe, der Gefangenen ein Geständnis zu entlocken. »Wenn Sie möchten, komme ich nächste Woche wieder, Adriana.«
Der Blick fokussiert sich auf Gesine. Sie öffnet den Mund. Überlegt. Sie konnte fließend Deutsch, doch das ist zwanzig Jahre her. Man muss ihr Zeit geben.
»Was ist mit dem Grab der Großmutter?«
Gesine fühlt, wie ihr das Blut ins Gesicht schießt. »Adriana, das ist eine lange Geschichte. Zu einem anderen Zeitpunkt bin ich gern bereit …«
Es hat keinen Zweck. Sie hat wieder dichtgemacht. Gesine geht zur Zellentür und klopft dreimal laut dagegen. Einen Augenblick später ist der Schließer zur Stelle. Der lange Gang ist ihr heute viel zu kurz, um den Sturm der Gefühle zu beruhigen, der in ihrem Inneren tost. In der Zeit nach der Wende ist so vieles gleichzeitig geschehen, dass es nie genug Muße gab, zu sortieren und zu verarbeiten. Aufbruch, Verlust, Hoffnung, Enttäuschung. Die Welt schien sich schneller zu drehen. Am Ende jenes Sommers war Arno fort, und ihre Zigeuner auch. Gesine sah sich plötzlich vor die Aufgabe gestellt, die Erziehung ihrer Tochter mit dem Beruf unter einen Hut zu bekommen. Die schwerste Herausforderung ihres Lebens.
In der Eingangshalle, ebenfalls bestechend in ihrer Kargheit, trägt die Akustik ihr schon von weitem einen hitzigen Disput entgegen.
»Aber wir sind extra aus Berlin gekommen! Er hier ist ihr Cousin. Und ich arbeite für die Kanzlei Meerbach & Wiese.«
»Dann sollten Sie wissen, dass ein Antrag gestellt werden muss beim zuständigen Haftrichter. Sie können nicht einfach so hier reinschneien. Die Frau ist in Sicherheitsverwahrung. – Frau Pastorin.« Der Pförtner hebt die Hand zum Gruß.
»Machen Sie nur so viel Stress, weil sie eine Roma ist?« Die Frau klebt ja fast an der Scheibe. Nun haut sie sogar mit der flachen Hand dagegen.
»Geht es bitte etwas weniger aggressiv?« Gesine mustert die Besucher. Die Frau vielleicht Mitte dreißig, alternativer Look, kurze Haare, der Mann jünger, ein kleiner Dicker mit Shorts und Stoppelschnitt, beide sehen ausländisch aus. Davon abgesehen bilden sie ein ungleiches Paar. »Außerdem heißt es Romni.«
»Wie bitte?«
»Weibliche Angehörige der Roma werden Romni genannt. Das ist der korrekte Sprachgebrauch. Wussten Sie das nicht?«
»Nein.« Die Frau sieht sie interessiert an. »Mattie Junghans. Das ist Liviu, äh –«
»Iancu«, ergänzt der Dicke.
»Liviu Iancu. Er ist ein Cousin der Frau, die hier gestern wegen Mordes eingewiesen, ich meine, in Haft genommen wurde. Untersuchungshaft.«
»Und Sie sind Anwältin?« Das ist doch Humbug. Gesine will und kann ihr Misstrauen nicht verhehlen.
»Natürlich nicht.« Die Überraschung ist echt. »Ich mache seit kurzem die Öffentlichkeitsarbeit für unsere Kanzlei.«
»Dann sollten Sie sich aber schnellstens einen anderen Tonfall angewöhnen.« Sie ist immer noch ungehalten. »Sonst werden Sie nicht viel erreichen.« Hinz, der Pförtner, wirft ihr einen dankbaren Blick zu.
Die Frau sieht sie an, überlegt. Entweder nimmt sie ihr die Bemerkung nicht übel oder sie lässt es sich nicht anmerken. »Haben Sie als Pastorin Zugang zu den Untersuchungsgefangenen?«
»Ich war gerade bei Adriana. Adriana Ciurar. Es geht ihr den Umständen entsprechend gut.«
Der Dicke horcht auf. Die Frau, Mattie, flüstert ihm etwas ins Ohr. Er zieht ein Taschentuch aus der Hose und wischt sich über die Stirn. Die Aufregung steht ihm ins Gesicht geschrieben. »Bitte. Adriana, meine Leute. Meine Familie.« Er klopft sich auf die Brust.
Gesine denkt an die Augen von Adriana Voinescu. Eine vertraute Person kann ihr vielleicht eher Trost spenden. »Können Sie nicht für fünf Minuten eine Ausnahme machen?« Sie sieht auf die Uhr. »Ich warte solange hier.«
Hinz gibt ihr ein Zeichen, schließt die Klappe und führt ein kurzes Telefonat. Er legt auf und nickt. Kurz darauf erscheint der Schließer wieder.
»Fünf Minuten«, sagt Hinz.
Der Schließer verschwindet mit Liviu.
Seine Begleiterin entspannt sich etwas. »Danke. Möchten Sie einen Kaffee?«
Der Anstaltskaffee ist ungenießbar, Gesine will das Friedensangebot jedoch nicht ausschlagen. »Gern.«
Kurz darauf kommt die Frau mit zwei Bechern zurück.
»Was für eine tragische Geschichte.« Gesine nimmt einen Schluck heißen Kaffee. »Wissen Sie, ich kenne diese Familie. Ich habe die Großmutter hier auf meinem Friedhof beerdigt. Sie starb an einem Asthmaanfall. Mein Mann, er ist Bildhauer, hat das Grabkreuz gearbeitet. Dann haben wir das Grab mit Ziegelsteinen eingefasst. Es wurde mehrfach geschändet, ich wurde persönlich bedroht, die Kirchenfenster eingeworfen. Aber für unsere Zig –, für die Roma war es furchtbar. Eine dunkle Zeit.«
»Die Familie lebt hier?« Die Frau ist verständlicherweise irritiert.
Warum hat sie nur davon angefangen? Ein unerklärliches Bedürfnis hat sie gepackt. Manchmal braucht eben auch der beste Seelsorger ein geneigtes Ohr. In anderen Gemeinden gibt es schon länger Supervision für die Pastoren. Nicht so hier im Norden. Da hält man nichts von solchem neumod’schen Gedöns. »Sie haben hier gelebt, vor zwanzig Jahren, als in der Gegend sehr viele Flüchtlinge über die Grenze kamen. Adriana war damals noch ein junges Mädchen, ein Kind. Sie übersetzte zwischen ihrem Vater und mir. Ein guter Mann, immer besonnen. Er wollte Papiere besorgen, um die Leiche seiner Mutter nach Rumänien zurückzubringen. Auf dem Rückweg wurde er auf einem Feld bei Peltzow erschossen. Es war ein Jagdunfall, zwei Jäger hatten die Flüchtlinge für Wildschweine gehalten. Einen von ihnen hat Adriana nun offensichtlich getötet.«
»Wildschweine?«
»Ja.« Gesine ist in Gedanken wieder in der Zelle bei Adriana. Was hat sie sich nur dabei gedacht, von dem Grab anzufangen? Ihr ist doch nun wirklich kein Vorwurf zu machen. Sie hat immer nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. »Das Grabkreuz stand jahrelang in der Kirche. Ich hatte dem Mann versprochen, darauf aufzupassen. Gerade habe ich es wieder aus dem Keller geholt, um es für eine Ausstellung über Roma und Sinti in der Region zur Verfügung zu stellen.«
»Warum haben Sie es nicht wieder aufgestellt?« Die Frau sieht sie herausfordernd an.
Der impertinente Tonfall gefällt Gesine ganz und gar nicht. Es lässt sich leicht reden, wenn man nicht selbst am Pranger steht. »Nach dem Tod des Vaters verschwand die Familie. Ich habe den Prozess jahrelang in der Presse verfolgt. Die beiden Jäger wurden am Ende freigesprochen.«
»Die Täter waren bekannt und wurden nicht verurteilt?«
Gesine nickt. »Die irdische Gerechtigkeit ist das eine. Vor Gott müssen sie dennoch ihre Taten verantworten. Ich denke, die waren auch so gestraft genug. Der Jahn jedenfalls war ein vom Schicksal gezeichneter Mann. Einfach so acht Stockwerke hinuntergeworfen zu werden wie ein Stück Abfall, das hat er nicht verdient.«
Bevor die Frau etwas sagen kann, und das hat sie ohne Zweifel vor, kommt der Schließer mit dem Rom zurück. Der Mann ist noch aufgeregter als vor dem Besuch. Er will etwas sagen. Seine Begleiterin unterbricht ihn. »Später, Liviu. Wir sollten uns erst mal verabschieden.« Sie reicht Gesine die Hand. »Vielen Dank für Ihre Hilfe, Frau –«
»Matthiesen. Gesine Matthiesen. Falls Sie sich den Ort des Geschehens mal ansehen möchten – Sie finden mich im Pfarrhaus in Kollwitz-Fichtenberg.«
»Okay.«
Sympathie kann man nicht erzwingen. Nun ja, so ist das eben. Ganz anders der Dicke. Wortreich schüttelt er ihr lange die Hand. Sie lächelt. Diese Emotionalität, dieser bedingungslose Familiensinn der Zigeuner hat sie schon damals beeindruckt. Da könnte sich hier manch einer eine Scheibe von abschneiden.