29. Juni 1992, Gemeinde Peltzow
Sie liefen wieder. Noch ein Lastwagen donnerte auf der Autobahn vorbei. Ganz nah, die Lichtkegel der Scheinwerfer streiften die Gruppe am Rand. Nicu stellte sich so hin, dass die Leute etwas weiter links gehen mussten, um an ihm vorbeizukommen.
»Die Autobahn verläuft rechts von uns. Pass auf, dass wir nicht zu nahe da rankommen.« Marius hatte ihm leise ein paar Instruktionen zugeflüstert. Dann ging es los, kaum dass alle einen Schluck Wasser getrunken hatten. Nicu lief ganz rechts und Marius links außen, dazwischen die erschöpften Leute. Nicu fröstelte. Selbst im Sommer gab es die Stunde im ersten Morgengrauen, in der die Luft abkühlte. Wie oft war er um diese Zeit von der Nachtschicht gekommen, hatte leise die Wohnung betreten und noch eine Zigarette auf dem Balkon geraucht. Meistens war er nicht müde genug, um gleich zu schlafen. Wenn sie Glück hatten und keiner der Jungen aufwachte, weil er gerade Zähne bekam oder der Bauch drückte, war dies die einzige Stunde, die er und Silvia für sich hatten. Manchmal setzte er sich einfach nur ans Bett und sah sie an.
Nicu stolperte und knickte um. Er hatte für einen Moment nicht aufgepasst und war auf einen Stein getreten, der versteckt im Getreidefeld lag.
Sein Großvater war einmal mit ihm in den Bus gestiegen und aus Braşov in das Dorf gefahren, wo er früher gewohnt hatte. Er zeigte ihm die Felder und die verschiedenen Sorten von Getreide. »Eines Tages kommst du zurück, Nicu«, sagte er. »Dann musst du wissen, wie man das Land bestellt.« Nicu hatte nur gelacht. Nichts lag ihm ferner als ein Leben in diesem schmutzigen, armseligen Dorf.
Er fühlte, wie das Getreide ihm durch die Hose in die Haut stach. Vorsichtig ließ er die Hand beim Gehen durch die Halme streifen. Gerste könnte es sein. Es war jetzt so hell, dass er undeutlich die Gesichter der Leute erkennen konnte, die neben ihm liefen. Sie ließen ihn nicht aus den Augen. Nicu war erstaunt über sich selbst. Normalerweise hielt er sich lieber im Hintergrund. Wäre Ion dabei, würde nicht er, Nicu, die Leute durch das Feld führen. Wäre Ion dabei, hätte er Marius nicht kennengelernt. Er war sicher, dass sein Bruder sich von dem Mann aus Turnu Severin so weit wie möglich ferngehalten hätte. Sie waren so verschieden wie Hund und Katze.
Nicu hatte beschlossen, Marius von seinen Plänen in Wüstenrot zu erzählen, wenn sie erst im Heim waren. Wer weiß, ob sie sich nicht zusammen dorthin durchschlagen konnten? So weit weg von Rumänien war es vielleicht nicht so wichtig, wer aus welcher Familie stammte. Hier waren sie alle Fremde. Das Zauberwort Asyl verschaffte einem Eintritt, egal wer man war. Nicu wusste nicht genau, was das Wort eigentlich bedeutete. Damals in Wüstenrot hatte der Übersetzer es ihm gesagt, vielleicht hatte er nicht richtig zugehört. Der Mann war Rumäne und behandelte ihn wie ein Kind, das er dabei erwischt hatte, wie es eine Geldbörse stahl. »Du kannst mir nichts vormachen«, sagte er gleich bei der ersten Begegnung. »Ich weiß genau, was ihr vorhabt. Die Leute hier sind reich, und davon wollt ihr ein Stück abhaben. Aber die Deutschen werden schnell genug merken, dass ihr alle Diebe seid.« Nicu sah zu Boden. In seinem Inneren kochte es. Der Mann wollte ihn provozieren. Doch Nicu war durch eine harte Schule gegangen. Bei dieser und bei allen folgenden Begegnungen schaltete er einfach ab und versuchte, an den Geruch der weißen Laken zu denken, mit denen sein Bett im Heim bezogen war. Ein Geruch, der so sauber war, dass er in der Nase kitzelte. In solchen Laken sollten seine Kinder eines Tages schlafen. Alles andere war nicht wichtig.
Ein Pfiff riss ihn aus seinen Gedanken. »Runter!«, flog der Ruf von Mund zu Mund. Ein paar Sekunden später sah Nicu, warum Marius angehalten hatte. Vor ihnen schnitten die Lichter eines Autos durch das Dämmerlicht und erhellten einen mit Bäumen bestandenen Weg.
Das musste der Wagen sein, der sie abholen sollte! Nicu wollte schon loslaufen, als Marius neben ihm auftauchte und ihn mit der Hand auf der Schulter unsanft zu Boden drückte. »Das sind nicht unsere Leute«, hörte er ihn flüstern.
Nicu kniete im Feld, den Kopf auf Höhe der Ähren. Er fühlte sich wie gelähmt. Das Auto fuhr so langsam! Er konnte sehen, wie es zwischen zwei Bäumen zum Stehen kam. Es war ein Geländewagen.
Grenzpolizei!, dachte Nicu. Diesmal irre ich mich nicht. Alles war umsonst gewesen, und er würde ohne einen Leu bei Silvia vor der Tür stehen. Sie würden die Wohnung räumen müssen. Nicu ließ sich tiefer zwischen das Getreide sinken. Im Liegen beobachtete er, wie Marius sich langsam auf allen vieren nach vorne schob, Zentimeter für Zentimeter. Dann richtete er sich auf, bis er gerade über die Spitzen der Halme hinaussehen konnte.
Im selben Moment ertönte ein ohrenbetäubender Knall.