16. Juni 2012, Braşov
Transsilvanien, Rumänien

Der einzige Job, den Nadina gefunden hat, ist Mamas alte Stelle im Stadion. Und auch nur, weil Mama da angerufen hat und die Leute vom Verein Mitleid mit ihr haben. Jeder Knochen tut ihr weh von dem sinnlosen Schrubben. Bier, Kippen und Kotze. Reihe um Reihe. Sie hat heimlich in der Umkleide geduscht. Der Geruch hängt ihr trotzdem noch in der Nase. Das Geld reicht gerade für Internet und Kippen. Sie weiß nicht, wonach sie in letzter Zeit mehr süchtig ist.

Sie kann nicht so schnell putzen wie Mama. Es ist schon dunkel. Sie läuft unter der Stromtrasse entlang. Die Blicke spürt sie trotzdem, fast noch stärker als am Tag. Es ist warm, die Nachbarn sitzen vor ihren Häusern. Vor manchen brennen die Feuertonnen. Ein Hund läuft auf sie zu und bellt. Misstrauisch schnuppert er an ihrem Bein. Nadina tritt zu. Jaulend verzieht er sich in die Dunkelheit. Eine junge Frau steht im Halbdunkel an der Ecke und redet mit jemandem hinter dem Zaun. Ihr Rock aus irgendeinem billigen Glitzerstoff. Ein Mädchen klammert sich an ihre Hand. »Nadina Lăcătuş.« Sie lacht. »Kennst du mich nicht mehr oder willst du mich nicht mehr kennen?«

Immer schön lächeln. Das Gesicht kommt ihr bekannt vor. Aus der Schule oder was? Die meisten sind schon ein paar Jahre verheiratet. Kinder sowieso. »Ich muss nach Hause«, sagt sie, »Mama wartet.« Kopf hoch. Weitergehen.

Nichts anmerken lassen.

Sie ist schon eine Woche hier und hat noch nicht mal ihre Brüder besucht. Sie geht ihnen aus dem Weg, und Mama erfindet irgendwelche Ausreden für sie.

Endlich die Pforte. Sie will nur noch ins Bett. Musik hören. Vergessen. Schon im Gang hört sie die lauten Stimmen. Ihre Brüder sind da. Zurück auf die Straße kann sie nicht um diese Zeit. Nadina bleibt stehen. Der Mond scheint in den engen Hof. Das ist die Stimme von Sergiu. Als Papa starb, war er acht. Jemand antwortet, leiser, das muss Mihai sein. Er ist der dritte Bruder, Nadinas Liebling. Als Kinder waren sie immer zusammen. Sie lauscht, kann nicht verstehen, was gesprochen wird.

Mama macht sich zu viele Gedanken. Es sind ihre Brüder. Was soll schon passieren? Niemand kann sie zu irgendwas zwingen. Und zum Heiraten schon gar nicht. Nadina atmet tief durch und geht nach hinten. Der Vorhang ist offen.

»Du hast mir gesagt: Tu etwas, Sohn! Egal was!« Wieder die laute Stimme. Nadina bleibt stehen, das Licht von drinnen blendet sie.

»Ich weiß!« Mama schlägt die Hände vors Gesicht.

»Mama!« Nadina ist mit drei Schritten bei ihr, sitzt auf dem Sofa, legt den Arm um ihre Schultern. Sie ist so dünn.

Sergiu steht neben dem Fernseher. »Wo bist du gewesen? Warum kommst du erst jetzt?« Er ist kein Junge mehr, arbeitet auf dem Bau. Seine Klamotten sind voll mit weißem Staub. Ein neues Tattoo auf dem linken Arm. Kein Typ, mit dem man Streit haben will.

»Ich habe gearbeitet.« Ihre Stimme zittert. Sie ballt ihre linke Hand unauffällig zur Faust. Nichts anmerken lassen.

Sergiu hat sie nicht mal begrüßt. Ihr Blick geht rüber zu Mihai, der auf dem Holzstuhl sitzt. Er zwinkert ihr zu wie früher. Mihai sieht gut aus, ein dunkler Typ wie Mama. Er könnte Italiener sein. »Du bist eine Schönheit geworden, Schwester.« Bevor sie etwas sagen kann, sieht er weg. Sein Blick flackert.

»Sülz nicht rum!« Sergiu starrt sie an. »Ich habe andere Arbeit für dich gefunden.«

»Nein!« Das ist wieder Mama. Nadina spürt, wie die Gänsehaut langsam ihren Arm hochkriecht. Was ist hier los?

»Na los, erzähl ihr doch selbst von deinem Abenteuer, Idiot!« Sergiu zündet sich eine Zigarette an und stellt sich in den Türrahmen. Er füllt ihn beinahe ganz aus.

»Ich bin im April nach Marseille gefahren.« Mihai redet leise und starrt auf seine Füße. »Ich wollte Arbeit suchen. Wir hatten kein Holz mehr und Mama auch nicht. Sie braucht Tabletten wegen der Schmerzen.«

»War ich es etwa, die dir gesagt hat, dass du dorthin fahren sollst?« Mama hat den Kopf hochgerissen. Sie holt aus, um ihm eine Ohrfeige zu geben. Ihr Gesicht verzieht sich. Die Schmerzen im Rücken. Sie lässt die Hand wieder fallen.

»Ich habe gesucht und gesucht, aber keiner gab mir Arbeit. Ich hatte kein Geld mehr.«

»Er ist fast verhungert!« Mama funkelt ihn wütend an. »Hat hier angerufen. Keinen zusammenhängenden Satz konnte er mehr sagen.«

Mihai achtet nicht auf sie. »Ich dachte, sie zahlen mir den Rückflug, wenn ich nichts finde. So haben es im letzten Jahr alle gemacht.«

Nadina kommt nicht mit. »Wer?«

»Na, die Franzosen«, wirft Mama ein, »aber das ist lange vorbei.«

»Und dann?«

Mihai hebt die Schultern, als wolle er dazwischen verschwinden. »Ich weiß nicht …«

»Aber wir wissen es.« Sergiu hat sich umgedreht. »Mama war schon genauso verrückt wie er. Hat immer nur davon geredet, dass noch einer verschwindet und nicht zurückkommt. Nach drei Tagen ruft ein Fremder an. Ein Ţigani. Mihai ist in Sicherheit, sagt er. Sie bringen ihn nach Hause.«

Nadina drückt Mamas Schultern. »Siehst du? Du machst dir zu viele Sorgen.«

»Macht sie nicht.« Sergiu stellt sich wieder auf seinen alten Platz. »Sie wollten achthundert Euro von mir. Ohne Geld kein kleiner Bruder. Ich bin zum Geldverleiher gegangen. Der gibt mir das Geld, ich schicke es nach Marseille – zwei Tage später steht er vor der Tür. Mama ist glücklich und päppelt ihren Kleinen wieder auf. Seine Frau ist glücklich, seine Kinder sind glücklich. Und ich? Jeden Monat steigen die Schulden um einhundert Prozent. Verstehst du? Hast du rechnen gelernt, Schwester?«

Nadina nickt. Jetzt ist Juni. Zweitausendvierhundert Euro.

»Ich komme gerade vom Geldverleiher.« Sergiu sieht nicht mehr so gefährlich aus. Nur müde. Er steckt sich noch eine Kippe an. »Er hat mir ein Angebot gemacht.«

»Nein!« Mama wirft sich vor Sergiu auf die Knie und umklammert seine Beine. »Willst du mich töten, Sohn?« Er greift nach ihren Armen und drückt sie zurück ins Sofa, wo sie sitzen bleibt wie eine Puppe.

Nadina ist aufgesprungen. »Wie kannst du so mit Mama umspringen?« Sie erwartet, dass Mihai ihr zu Hilfe kommt wie früher. Er starrt weiter auf seine Füße. Mama genauso. »Sergiu, was ist hier los?«

Sein kalter Blick trifft sie mehr als eine Ohrfeige. »Ein reicher Mann in Südfrankreich, Rumäne, braucht ein Hausmädchen. Alle haben dich hier herumlaufen sehen in den letzten Tagen. Du hast helle Haut. Du kannst Rumänisch und Französisch. Der Geldverleiher will, dass du dorthin gehst.«

Eine Mischung aus Wut und Panik. Wie auf dem Internat. Ihr ist schwindelig.

»Verstehst du, was ich sage? Du wirst sechs Monate umsonst arbeiten, danach sind die Schulden bezahlt und die Familie bekommt jeden Monat fünfhundert Euro.«

»Nein.« Sie will an ihm vorbei zur Tür, aber er ist schneller. Seine Hand legt sich wie eine Fessel um ihren rechten Arm.

»Denk doch mal an Mama.« Ist es wirklich Mihai, der das sagt? Ihr Lieblingsbruder?

»Du wirst gehen«, sagt Sergiu. »Keine Diskussion mehr. Oder die Familie stürzt ins Verderben.«

»Lass mich los!« Nadina zieht. Sergiu hält fest.

»Sie geht nicht!« Mama ist aufgestanden. »Nicht solange ich lebe!«

»Mama, bitte!« Sergiu drückt die Zigarette aus. »Ich muss ins Bett.«

»Ich werde das Geld besorgen. Bis zum Monatsende. Und sie wird nicht nach Frankreich gehen.«

»Das ist doch lächerlich.« Sergiu lässt endlich ihren Arm los. »Komm schon, Mihai.« Mihai folgt ihm schweigend hinaus in die Dunkelheit.

»Ich werde das Geld besorgen«, murmelt Mama.

Nadina reibt sich den Arm, damit das Kribbeln weggeht. Sie macht den Vorhang runter. Dreht sich um. Geht zu Mama und umarmt sie. Mama zittert ja. Ihre starke Mama, die nichts umwerfen kann.

So bleiben sie stehen, bis das Licht ausgeht. Stromausfall.

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