27. Juni 1992,
Szczecin
Westpommern, Polen
Der Linienbus aus Praha hielt direkt vor dem Szczeciner Bahnhof. Er war bis auf den letzten Platz besetzt. Alle zerrten gleichzeitig ihre Taschen aus den Gepäcknetzen. Marius beschloss zu warten, bis das Gedränge vorbei war. Laute Flüche auf Romanes hallten durch den Bus. Niemand hier war ein tschechischer Tourist. Ungewaschene Männer mit Stoppeln im Gesicht, gebeugt, manche im Anzug, denen man die Armut erst auf den zweiten Blick ansah. Einige nickten ihm zu. Er sah zum Fenster, draußen dämmerte es. Ein müdes Gesicht starrte ihm aus der Scheibe entgegen, Dreitagebart, eingefallene Wangen. Er war jetzt einer von ihnen, nicht mehr stolzes Oberhaupt einer Großfamilie, nicht Richter über ihre Streitigkeiten, nicht einmal der tollkühne Junge, der mit dem großen Lkw direkt vor dem Wohnblock vorgefahren war, um seine Beute zu präsentieren: die schöne Tochter des alten Vasile. Aus den Fenstern gehangen hatten sie und gelacht, denn jeder sah, dass der Widerstand des Mädchens nur gespielt war.
Die Scheibe beschlug von seinem Atem. Ohne nachzudenken schrieb er ihren Namen auf das feuchte Glas: Angelica. Ob sie es bereute? Sie sprach kaum noch mit ihm, seit er sie nach Deutschland gebracht hatte. Ließ sich gehen, überließ alles Adriana oder ihm, ohne Rücksicht. Er biss die Zähne zusammen. Diese Warterei musste ein Ende haben. Er brauchte eine Arbeit, und seine Frau brauchte ein Zuhause.
»Aussteigen!«, rief der Fahrer auf Polnisch. Marius verstand ihn trotzdem. Er bemerkte den unfreundlichen Blick in den Rückspiegel. Dabei machte dieses Busunternehmen gutes Geld, seit die Route über Szczecin die einzig offene war.
Marius griff nach seiner Tasche und stieg aus. Leise Worte drangen an sein Ohr, eine Frau drückte ihr Baby an sich und hastete davon. In wenigen Minuten hatte sich die Gruppe der Passagiere zerstreut, obwohl sie schon in ein paar Stunden alle wieder auf dem Bahnhof zusammenhocken würden. Marius wusste, dass es überhaupt keinen Sinn hatte, vor Mittag dort aufzukreuzen, wenn die polnischen Reiseführer kamen und ihre Gruppen zusammenstellten. Bei der Einfahrt in die Stadt hatte er das neue Hotel gesehen, ein Palast aus Glas und Stahl, daneben ein Einkaufszentrum. Warum sollte er es sich nicht ansehen? Er hatte noch Geld dabei vom Verkauf des Autos in Turnu Severin. Wer weiß, vielleicht könnte er Adriana ein Paar Ohrringe kaufen? Er schuldete ihr schließlich ein Geburtstagsgeschenk. Und Ştefan und Claudiu brauchten bestimmt schon wieder einen neuen Fußball, darauf schloss er jede Wette ab.
Marius betrat das Bahnhofsgebäude und wandte sich nach links in Richtung Waschraum. Erst mal musste er sich auf Vordermann bringen.