19. Juni 2012, Turnu
Severin
Walachei, Rumänien
Mattie sitzt in der menschenleeren Lobby vom Green Hotel. Warum grün, hat sich ihr noch nicht erschlossen. Weder gibt es hier viele Grünpflanzen, noch scheint man besonderen Wert auf ökologische Kost zu legen. Die Atmosphäre ist eher realsozialistisch, obwohl das Hotel ein Neubau ist.
Sie hat einen langen Tag im Zug hinter sich, der sie quer durch Rumänien geschaukelt hat. Über die Karpaten, vorbei an gigantomanischen Industrieruinen und bunt gestrichenen Häusern mit Weinlaubengängen. Am Bahnhof von Turnu Severin hat Liviu eine Überraschung organisiert. Ein Mann um die dreißig mit dunklen Locken und Sex-Pistols-T-Shirt. Stellte sich als Georgel vor, Lehrer von Livius ältester Tochter, Geschichte und Deutsch. Außerdem Hobbyarchäologe und eigentlich seit einer Woche zu Ausgrabungen im Donaudelta unterwegs. Soweit sie verstanden hat, eine Art Sommercamp anarchistischer Historiker. Anhaltende Regenfälle und Überschwemmungen haben das verhindert, zu Georgels Unglück und Matties Glück.
Der Mann hinter der Rezeption hantiert mit zwei Handys, die beide gleichzeitig klingeln. Mattie döst in dem Kunstledersessel vor sich hin. Gäste scheint es in diesem Hotel sonst keine zu geben. Es ist heiß, schon um zehn Uhr morgens.
»Willkommen in Rumänien.« Georgel steht vor ihr, pünktlich und dem Anlass entsprechend gekleidet. Heißt, er hat die Sex Pistols gegen adidas eingetauscht. Seine stämmige Figur verdunkelt das helle Licht, das von draußen hereinscheint. Mattie blinzelt ihn an. Der Typ hinter der Rezeption wirft ihnen einen misstrauischen Blick zu.
»Hat der Angst, dass ich abhaue, ohne zu bezahlen?«
»Nee, der hat Angst, dass sein Hotel als Ţigani-Treffpunkt bekannt wird.«
»Was?« Plötzlich ist Mattie hellwach. »Aber hier ist doch niemand außer uns.«
Georgel guckt sie spöttisch an. Klar, er ist dunkler als der Durchschnittsrumäne, schwarze Haare, Goatie, Ohrring. »Mein Papa war Rom und meine Mutter ist Rumänin.« Er überlegt kurz. »Na ja, und du siehst auch nicht so ganz –« Er spricht den Satz nicht zu Ende. »Vergiss es. Komm, das Taxi wartet draußen.«
Mattie steht auf. Sie weiß nicht, ob sie lachen soll oder schlechte Laune kriegen. Aus Deutschland kennt sie eher die subtile Art der Ausgrenzung. Hier ist es offener Rassismus. Sie wirft dem Rezeptionisten einen scharfen Blick zu und folgt Georgel nach draußen. Demonstrativ steigt sie neben ihm hinten ins Taxi ein.
»Warum bist du Lehrer?«, fragt sie, als der Wagen losfährt. Gestern Abend hat er ihr erzählt, dass der Monatslohn eines Gymnasiallehrers unter dreihundert Euro liegt. Georgel wohnt bei seiner Mutter, eine eigene Wohnung ist zu teuer.
»Keine Ahnung.« Er macht sein Fenster auf. »Als Jugendlicher wollte ich mit dem ganzen Scheiß, wo gehör ich dazu und so, nichts zu tun haben. Ich war Punk. Nach der Öffnung der Grenzen bin ich ein paar Jahre durch Europa getrampt. Hab eine ganze Weile in einem besetzten Haus in Berlin gewohnt.« Er steckt sich eine Zigarette an, hält dem Fahrer auch eine hin, der dankend zugreift. Mattie nimmt ebenfalls eine. Sie hat lange nicht mehr geraucht. Heute ist ihr danach. »Dann ist mein Vater gestorben, ein Arbeitsunfall. Ich bin zurückgekommen und hab Deutsch und Geschichte studiert.« Er denkt einen Moment nach. »Es gab diese großartige Zeit direkt nach der Revolution, wo alle auf die Straßen gegangen sind, um zu diskutieren. Manchmal stundenlang. Wildfremde Leute haben sich ihre Lebensgeschichten erzählt. Ich war damals noch ein Kind, aber es gibt Filmmaterial aus der Zeit.«
Mattie sieht aus dem Fenster. Obwohl sie im Zentrum sind, ist es relativ leer, die Leute wirken gehetzt.
»Damals habe ich Geschichte als etwas Bewegliches kennengelernt. Heute sitzen die ehemaligen Securitate-Leute in dicken Villen, und der Rest muss im Ausland dienstleisten, um Geld ranzuschaffen.« Er lacht. »Jedes Jahr nach den Sommerferien zählen wir erst mal die Schüler, um zu gucken, welche Familien in Italien geblieben sind. Und dann, welche Lehrer.«
Der Taxifahrer stellt eine Frage. Georgel antwortet in seiner ruhigen, gelassenen Art. Daraufhin setzt der Mann zu einem Wortschwall an, der nicht enden will.
»Gibt es ein Problem?« Mattie kann den plötzlichen Stimmungswechsel nicht deuten.
»Nein.« Georgel verfällt in düsteres Schweigen.
Mattie hakt nicht nach. Der nachdenkliche Punk-Historiker ist ihr sympathisch. Wenn er nicht sprechen will, dann entweder, weil es ihm unangenehm ist, oder weil es nichts zu sagen gibt.
Das Taxi holpert auf die Brücke über einen Kanal, eher das ausgetrocknete Bett eines Kanals. Dahinter sieht die Stadt anders aus. Der Fahrer drosselt die Geschwindigkeit und kurvt fluchend durch tiefe Schlaglöcher. Kein Asphalt. Dafür werden die Häuser auf Matties Fensterseite immer größer und spektakulärer. Paläste aus Gips. Säulen, Türmchen, falscher Stuck. Geschwungene Freitreppen. Film City fällt ihr ein, die Studiostadt von Bollywood. Die Frauen, die vor den Häusern flanieren, nicht weniger spektakulär. Hier wird die Konkurrenz mit aufwändigen Röcken bis zum Boden und Haaren bis zur Hüfte abgesteckt. Die Männer sehen dagegen aus, als kämen sie alle gerade aus dem Fitnessstudio. Ältere mit Bauch, die Jugend trägt Muskeln pur. Shorts, Muscle-Shirt, Badelatschen. Livius Stil ist hier Gesetz.
Georgel zieht sie ein wenig vom Fenster zurück. »Muss ja nicht jeder sehen, dass wir hier sind«, brummt er. Der Taxifahrer hat seine Litanei wieder aufgenommen. Auch wenn Mattie nichts versteht, ahnt sie, dass er keine Nettigkeiten von sich gibt.
»Habt ihr auch hier gewohnt?«
Georgel sieht sie erstaunt an. »Nein. Mein Vater hat sein Dorf verlassen und ist zur Armee gegangen. Da gibt es kein Zurück.« Er grinst. »Ich war auch noch nie hier.«
Jetzt ist Mattie verwundert. »Warum nicht?«
Er zuckt die Schultern. »Weiß nicht. Gab keinen Grund. Hier gehst du nicht einfach so spazieren.«
Nach einer gefühlten Ewigkeit hält der Wagen. Mattie zahlt den Preis, den Georgel ihr nennt. Sie steigen aus, und das Taxi rumpelt in einer Staubwolke davon. Sie stehen an einer Straßenecke. Das Haus hat einen tiefen Rotton, der ins Rosa geht. Es ist L-förmig, so dass es mit dem schmiedeeisernen Zaun einen weitläufigen Hof einrahmt. Vorne rechts ist eine Art Garage mit einem kleinen Fenster. Daneben steht eine Zementmischmaschine. Offenbar wird bei Familie Voinescu gerade gebaut.
Georgel öffnet das große Tor. Kinder und Hunde stürmen heran. In Sekunden sind sie umringt. Alle schreien und bellen durcheinander.
Dann plötzlich Stille. Von links treten drei muskelbepackte Männer auf. Georgel verbeugt sich, sagt ein paar Worte. Mattie versteht ihren eigenen und Livius Namen. Einer der Männer spricht für alle. Die anderen beiden gucken unfreundlich dazu.
»Das ist Ştefan, der älteste Sohn. Daneben Claudiu, sein Bruder, und Florin, der Mann von Adriana. Ştefan will wissen, was wir wollen.«
Mattie berichtet von Adrianas Verhaftung und dass Liviu sie gebeten hat, nach Turnu Severin zu fahren und die Familie direkt um eine Vollmacht zu bitten. Georgel übersetzt. Wieder antwortet Ştefan.
»Er sagt, Liviu hat in ihrer Familie nichts zu sagen. Wir sollen gehen. Sie kümmern sich selbst um ihre Angelegenheiten.«
Mattie sucht Blickkontakt zu Florin. Ihr Bericht hat ihn sichtlich getroffen. Er holt sein Handy aus der Tasche und beginnt zu telefonieren, ohne sie weiter zu beachten. Sie sieht Ştefan an, will noch etwas sagen. Aber Georgel ist schon auf dem Weg zum Tor. Enttäuscht dreht sie sich um und geht ihm nach, unter den Augen der Brüder, die sich keinen Zentimeter vom Fleck gerührt haben.
Kurz vor dem Tor erhascht sie noch einen Blick auf Kühlschrank und Töpfe in dem, was sie für die Garage hielt. Kinderköpfe verschwinden blitzartig aus dem Türrahmen. Ein Mädchen jedoch, vielleicht zwölf, dreizehn, bleibt stehen und wirft ihr einen Blick zu, der Mattie bis auf die Straße verfolgt. Provozierend? Aufreizend? Mitleidig? Schwer zu sagen.
Ihre Anwesenheit hat schon die Runde gemacht. Der Weg zurück zur Hauptstraße ist eine Erfahrung, die Mattie so schnell nicht vergessen wird. Die Augen straight auf den Bärenrücken von Georgel gerichtet, stapft sie durch den Staub. Es fällt kein lautes Wort, doch sie spürt, dass sie unter durchgehender Beobachtung stehen.
Eine geflüsterte Bemerkung.
Ein Lachen hinter ihrem Rücken.
Als endlich ein klappriges altes Taxi hält, kommt es ihr vor wie der Himmel auf Erden. Ein Innen, in dem sie verschwinden und sich dem Außen entziehen kann.