8. Juli 2012, Kreuzberg
Berlin, Deutschland

Hochrechnungen.

Nick sitzt mit Azim vor dem Fernseher. Jasmin packt nebenan ihre Sachen für Mexiko. Übermorgen. Noch zwei Tage. Nick fühlt immer noch ein Spannen im Nacken. Der Sonnenbrand ist Symbol seiner inneren Unruhe. Auf und ab ist er den Deich gelaufen. Auf und ab. Fünf Tage Ostseestrand. Eine Kleinfamilie unter vielen. Jasmin kann total abschalten. Liegt in der Sonne, liest, unterhält sich mit anderen Eltern. Schwimmt, geht laufen.

Außer einem blauen Fleck auf ihrem rechten Oberschenkel erinnert nichts mehr daran, dass seine Frau vor ein paar Tagen Nazis verprügelt hat. Nick grinst. Das werden die so schnell nicht vergessen.

Sein nächster Gedanke gilt Mattie. Er hat sie nicht mehr gesehen seit jener Nacht. Ob sie wieder auf dem Parkplatz am Plänterwald wohnt? Nick weiß, dass er den Anruf bei ihr nicht länger aufschieben kann. Nur noch zwei Tage.

Die ersten, noch nicht amtlichen Ergebnisse der einzelnen Wahlkreise werden eingeblendet. Wenn die Prognose recht behält, wird am Ende dieses Abends Jochen Wedemeier Bürgermeister von Kollwitz sein. Die NPD erreicht in fast allen Wahlkreisen die Fünf-Prozent-Marke.

»Siehst du, Azim? Die Bösen gewinnen! Und wir können nichts dagegen tun.«

Azim streckt seine Hand in Richtung Fernseher aus und lacht glucksend. Das Spiel gefällt ihm. Nick drückt ihn fest an sich, spürt die Wärme der weichen Haut auf seiner Schulter. Es gibt nichts auf der Welt, was besser duftet als sein Sohn. Kein Artikel, kein Ruhm für Nick, den Reporter, kann diesen Geruch ersetzen. Er lässt einen den Rest der Welt vergessen. Genau das, was Nick jetzt braucht. Er vergräbt seine Nase in Azims Bauch und schließt die Augen.

»Meinst du, ich soll den ganzen Schmuck mitnehmen?«

Nick taucht wieder auf. Jasmin ist mit lauter Ketten behängt. Perlen, Silber, bunte Halbedelsteine. Große Ohrringe aus Weißgold, die er ihr zur Hochzeit in Bombay geschenkt hat.

»Du siehst aus wie ein Weihnachtsbaum.«

Azim kreischt vor Vergnügen und streckt beide Hände nach seiner Mutter aus.

»Sehr witzig.« Jasmin sieht an sich hinunter. »Es gibt doch Empfänge und so was. Da kann ich nicht immer dieselbe Kette tragen.«

Nick starrt sie an.

»Nikolaus, ist alles in Ordnung?«

Azim strampelt in seinem Arm.

»Nikolaus!«

Er drückt Jasmin das Kind in den Arm.

»Hallo, das geht jetzt nicht! Ich muss noch –«

Ein Griff nach seinem Handy auf dem Tisch. Kurzwahl. »Mattie, wo bist du?«

Sie ist wieder da. In der Kanzlei.

»Wir treffen uns am Bus. In fünfzehn Minuten. Und bring die Car-Sharing-Karte mit.«

»Nein.« Jasmin steht da, Azim auf dem Arm. »Nikolaus, wir fliegen am Dienstag. Du kannst jetzt nicht noch mal weg.«

»Ich muss.« Er bleibt kurz stehen, streicht Azim über die Wange, dann ihr. »Einmal noch. Dann bleibe ich bei euch. Für immer.«

Er dreht sich nicht um.

Die Tür fällt hinter ihm ins Schloss.

Grenzfall
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004.html
part0005.html
part0006_split_000.html
part0006_split_001.html
part0006_split_002.html
part0007_split_000.html
part0007_split_001.html
part0007_split_002.html
part0007_split_003.html
part0007_split_004.html
part0007_split_005.html
part0007_split_006.html
part0007_split_007.html
part0007_split_008.html
part0007_split_009.html
part0007_split_010.html
part0007_split_011.html
part0007_split_012.html
part0007_split_013.html
part0007_split_014.html
part0007_split_015.html
part0007_split_016.html
part0007_split_017.html
part0007_split_018.html
part0007_split_019.html
part0007_split_020.html
part0008_split_000.html
part0008_split_001.html
part0008_split_002.html
part0009_split_000.html
part0009_split_001.html
part0009_split_002.html
part0009_split_003.html
part0009_split_004.html
part0009_split_005.html
part0009_split_006.html
part0009_split_007.html
part0009_split_008.html
part0009_split_009.html
part0009_split_010.html
part0009_split_011.html
part0009_split_012.html
part0009_split_013.html
part0009_split_014.html
part0009_split_015.html
part0009_split_016.html
part0009_split_017.html
part0009_split_018.html
part0009_split_019.html
part0009_split_020.html
part0009_split_021.html
part0009_split_022.html
part0010_split_000.html
part0010_split_001.html
part0010_split_002.html
part0010_split_003.html
part0010_split_004.html
part0010_split_005.html
part0010_split_006.html
part0010_split_007.html
part0010_split_008.html
part0010_split_009.html
part0010_split_010.html
part0010_split_011.html
part0010_split_012.html
part0010_split_013.html
part0010_split_014.html
part0010_split_015.html
part0010_split_016.html
part0010_split_017.html
part0010_split_018.html
part0010_split_019.html
part0010_split_020.html
part0010_split_021.html
part0010_split_022.html
part0010_split_023.html
part0010_split_024.html
part0010_split_025.html
part0011_split_000.html
part0011_split_001.html
part0011_split_002.html
part0011_split_003.html
part0011_split_004.html
part0011_split_005.html
part0011_split_006.html
part0011_split_007.html
part0011_split_008.html
part0011_split_009.html
part0011_split_010.html
part0011_split_011.html
part0011_split_012.html
part0012.html
part0013.html
part0014.html
part0015_split_000.html
part0015_split_001.html