23. Juni 2012, Zugstrecke
Bukarest – Braşov
Transsilvanien, Rumänien
Statt wie geplant von Bukarest zurück nach Berlin zu fahren, ist sie in den Abendzug nach Braşov gestiegen. Nick hat ihr die damalige Adresse von Niculai Lăcătuş gemailt. Volker möchte, wenn möglich, beide Familien in einem Wiederaufnahmeverfahren vertreten. Wenigstens ist sie jetzt offiziell im Auftrag ihrer Arbeitgeber unterwegs.
Draußen ist es dunkel bis auf den Mond. Der Zug ächzt bergan, wieder geht es hoch in die Karpaten. Immer schroffere Felsformationen ragen schwarz in den Himmel. Auf einem Zacken steht ein Gipfelkreuz. Eine mächtige, mystische Landschaft. Kino. Tanz der Vampire.
Sie muss eingeschlafen sein. Plötzlich steht der Zug. Halbwach greift sie nach ihrer Tasche und rennt zur Tür. Der Bahnhof von Braşov ist menschenleer. Es ist kurz vor ein Uhr morgens. Kalte Luft fährt ihr unter das dünne T-Shirt. Geisterstunde.
Der Taxifahrer bringt sie schweigend zu dem Hotel, das als Erstes auf der Liste im Internet steht. Es ist eine Villa, Anfang zwanzigstes Jahrhundert oder sehr gut imitiert. Die Frau an der Rezeption zeigt verschlafene Arroganz, der Preis ist für nordeuropäische Verhältnisse okay. Kurz darauf steht Mattie in einem Prinzessinnengemach. Weißes Bett, weiße Rüschenvorhänge, Rüschendecken, ein goldener Stuhl mit verschnörkelten Füßen. Das Fenster geht auf einen Garten hinaus, dahinter erhebt sich ein Berg. Prinzessin Mattie schmeißt ihre Klamotten auf den goldenen Stuhl, wankt ins Bad und klettert in eine überdimensionale sechseckige Badewanne.
Morgens beim Frühstück läuft auf drei Flatscreens eine Nachrichtensendung. Sie schlürft perfekten italienischen Kaffee – ›den müssen Sie extra zahlen‹ – und beobachtet die wenigen anderen Gäste. Ein Mann in Matties Alter mit iPad und Bartstoppeln starrt abwechselnd auf seinen eigenen und die anderen Bildschirme. Nur nicht auf das Mädchen, das er bei sich hat. Die Blonde betrachtet ihre Fingernägel. Trinkt Kaffee ohne Zucker. Isst nichts. Ein anderer im Anzug beendet ein Telefonat und verlässt den Raum. Kurz darauf röhrt der Porsche Cayenne auf, den sie gestern im Vorbeigehen gesehen hat. Rumänien hat viele Gesichter.
Zwei Stunden später steht Mattie in einer Plattenbausiedlung am Stadtrand. Zwischen den Häusern eine orthodoxe Kirche aus Holz, umschlossen von einem blühenden Garten. Sie würde da gern reingehen. Ein Priester, der aus einer Seitentür in den Garten kommt, wirft ihr einen finsteren Blick zu. Mattie wendet sich ab. Sie hat schließlich einen Auftrag.
Die Strada Bucureşti ist eine der großen Ausfallstraßen aus der Stadt. Das Haus Nummer vier hat sechs Stockwerke. Eine junge Frau mit einem Kinderwagen kommt heraus. Mattie schiebt sich schnell durch die zufallende Tür. Sie geht die Briefkästen durch. Keine Familie Lăcătuş. Wäre ja auch zu schön gewesen. Sie holt ihr Handy raus.
»Nick, hallo. Ja, Mattie. Die wohnen hier nicht mehr.«
Er sagt, sie soll nach Hause kommen, es gibt genug zu tun. Adriana will mit ihr sprechen. Volker und Bettina auch. Außerdem wartet da noch ein kleiner Vierbeiner …
»Okay, ich komm ja.«
Sie legt auf. Der Vorraum mit den Briefkästen geht ins Halbdunkel eines Treppenhauses über. Da steht doch jemand.
»Hallo?« Mattie ist ein bisschen unheimlich. So ganz ist das Karpaten-Feeling noch nicht abgeklungen.
»Haben Sie gerade Deutsch gesprochen?« Der Mann hat einen merkwürdigen Akzent. Sein Alter ist schwer einzuschätzen, er wirkt wie aus der Zeit gefallen, ist aber nicht älter als Mitte sechzig. Sie tippt, dass seine Haare braun gefärbt sind. Weißes Hemd, Hosenträger, Fliege.
»Ja. Warum?«
Neugierige graue Augen mustern sie. »Sie sehen nicht wie eine Deutsche aus.«
Nicht dass sie diesen Spruch zum ersten Mal hört. Aber ausgerechnet hier, in Rumänien? Schweigend sucht sie nach einem eleganten Abgang, ohne den Mann vor den Kopf zu stoßen.
»Entschuldigen Sie, mein Name ist Schindler. Ich habe mich nicht vorgestellt. Was führt Sie in unser schönes Kronstadt?«
Kronstadt? Eine längst vergessen geglaubte Information in Matties Hinterkopf leuchtet schwach auf, rumänische Aussiedler, Siebenbürgen. So einer hat ihr gerade noch gefehlt.
»Ich suche Familie Lăcătuş. Sie haben hier 1992 gewohnt.«
»Meine Frau und ich sind erst ’95 hier eingezogen. Die Kinder sind nach Deutschland gegangen, wissen Sie.« Schindler überlegt. »Nein, Lăcătuş, der Name sagt mir nichts.«
»Na dann, vielen Dank und auf Wiedersehen.« Mattie wendet sich zum Gehen.
»Nicht so eilig, junge Frau.« Sie dreht sich um. »Haben Sie denn keine Zeit? So kommen Sie schon.« Er steuert auf die Treppe zu.
Mattie zögert. Ach, was soll’s. Dieses komische Männchen wird ihr schon nichts tun.
Im dritten Stock bleibt er stehen. »Hier drüben wohne ich. Und hier –« Er drückt eine Klingel. Schritte. Eine Frau öffnet. Dauerwelle, rote Haare, Sommerkleid mit Blumenmuster. »Paula!« Herr Schindler deutet auf Mattie und setzt zu einem Wortschwall auf Rumänisch an, den Paula dadurch unterbricht, dass sie ihn und Mattie mit einem matten Lächeln in die Wohnung bugsiert.
Im Wohnzimmer sitzt ein Mann um die fünfzig mit einer bandagierten Hand. Ein Arbeiter wie aus dem Bilderbuch, inklusive weißes Unterhemd und Fluppe im Mundwinkel.
»Bogdan Sotica.« Schindler deutet stolz auf seinen Nachbarn und setzt sich in einen goldgelben Polstersessel. Die beiden Männer könnten nicht unterschiedlicher sein.
Mattie sagt »Bună ziua, Bogdan« und wird von Paula ebenfalls mit sanfter Gewalt in einen Sessel gedrückt. Bogdan raucht, Schindler redet.
»Wie war der Name der Familie doch gleich?«
»Lăcătuş.«
Stille.
Paula Sotica erstarrt mit einer Kaffeekanne und zwei Tassen in der Hand. Bogdan beugt sich vor und fixiert Mattie. Selbst Schindler wirkt einen Moment lang eingeschüchtert.
Bogdan spricht. Kurz, mit heiserer Stimme.
»Er fragt, warum Sie das wissen wollen.«
Mattie überlegt, wie viel sie erzählen soll. »Niculai Lăcătuş wurde 1992 in Deutschland erschossen. Wir suchen die Familie, eventuell wird der Fall noch einmal vor Gericht kommen.«
»In Deutschland erschossen? Von wem denn?« Schindler scheint die Geschichte nicht zu gefallen.
»Übersetzen Sie doch.« Mattie versucht die Ruhe zu bewahren. »Bitte!«
Er zögert, dann folgt er ihrer Bitte, während Paula Kaffee einschenkt. Auf allen freien Flächen steht Nippes aus Porzellan. Mattie schaudert. Wie können sich Leute bloß mit so vielen Dingen umgeben?
Paula sitzt jetzt neben ihrem Mann. Sie schauen sich an, dann beginnt er zu reden.
»Bogdan und Niculai Lăcătuş waren Arbeitskollegen und Nachbarn. Bei der zweiten Entlassungswelle nach der Revolution verlor Nicu die Arbeit und ging mit seinem Bruder nach Deutschland. Sie hörten erst wieder von ihm, als Silvia, das ist Nicus Ehefrau, einen Brief bekam, sie möchte bitte seinen Sarg am Flughafen Otopeni abholen.«
Paula schlägt die Hände vors Gesicht. Sie spricht schneller als ihr Mann und betont das Gesagte mit den Händen. Vor Aufregung hat sie rote Flecken auf den Wangen.
»Silvia öffnete den Sarg, obwohl es verboten war. Es war ein einfacher Holzsarg aus hellem Holz. Paula war dabei. Als Silvia die verbrannte Leiche sah, brach sie zusammen.«
Schindler stellt eine Frage, in der das Wort Ţigani vorkommt. Mattie horcht auf. Paula und Bogdan antworten, ergänzen einander, ein eingespieltes Team.
»Es gab eine Trauerfeier, zu der viele Zigeuner aus der Gegend kamen.« Schindlers Augen leuchten auf. »Sie verstehen es, zu feiern, selbst die Beerdigungen sind wahre Feste. Ihre Musiker sind einmalige Künstler.« Mattie schaut ihn bittend an, und er kommt wieder zur Sache. »Zwei Wochen nach der Beisetzung musste Silvia mit den fünf Kindern die Wohnung räumen.«
Bogdan schüttelt den Kopf. Seine Mimik verrät echtes Mitgefühl.
»Sie sind dann zurück ins Zigeunerviertel –« Paula unterbricht die Männer. »Sie sagt, wir sollen es nicht Zigeunerviertel nennen, sondern Industriegebiet. Doch es ist nun mal das Zigeunerviertel.« Schindler erwartet Matties Zustimmung.
Sie würde gern mit Paula und Bogdan direkt sprechen, die beiden sind ihr sympathisch. Stattdessen trinkt sie ihren Kaffee, macht »hmmm« und nimmt einen Keks aus der Porzellanschale mit rosa Blüten.
Schindler ist sich seiner zentralen Position in dieser Runde bewusst. Er hat Oberwasser. »Wissen Sie, hier in Siebenbürgen leben wir ja schon seit Jahrhunderten mit den Zigeunern. Sie sind wie Kinder! Ein romantisches Volk, das es in seiner Ursprünglichkeit zu bewahren gilt. Verstehen Sie, was ich sagen will?«
Mattie versteht. Paternalismus ist das Wort.
Schindlers Stimme überschlägt sich vor missionarischem Eifer. »Diese schönen Menschen! In der modernen Zivilisation gehen sie zugrunde. Dafür sind sie nicht geschaffen.«
Mattie wirft Bogdan einen flehenden Blick zu. Er versteht und erhebt sich mühsam aus dem tiefen Polster. Sieht demonstrativ auf die Kuckucksuhr an der Wand. Unterbricht Schindler mit seiner heiseren Stimme.
»Bogdan muss zum Arzt wegen seiner Hand. Er kann Sie hinbringen.« Schindler steht auf, reicht ihr die Hand und deutet eine Verbeugung an. »Ich hätte mich gern noch länger mit Ihnen unterhalten, Frau –«
Nein, danke. »Junghans. Mattie Junghans. Ich auch, Herr Schindler. Alles Gute für Sie.«
Paula begleitet sie zur Tür. Mattie wird an den geblümten Busen gedrückt. Bogdan erhält letzte Instruktionen, darunter Grüße an Silvia, so viel versteht sie. Als sie sich auf der Treppe noch mal umdreht, wischt sich Paula eine Träne aus dem Augenwinkel.