27. Juni 1992, Hansestadt Kollwitz
Hajo hatte sich bei der Autovermietung am Flughafen Tegel einen Mercedes SLK gegönnt, als Mitarbeiter der Airline auch dies natürlich zu Sonderkonditionen. Der Berliner Ring war noch akzeptabel, doch auf der Autobahn Richtung Norden wünschte er sich, er hätte einen Jeep gebucht. Der Sportwagen lag tief auf der Straße, und die zusammengeflickten Platten, die sich hier Autobahn schimpften, hämmerten regelrechte Furchen in seinen Allerwertesten. Über drei Stunden hatte er nach Kollwitz gebraucht, ohne den Motor einmal richtig ausfahren zu können. Wenigstens stellte ihm der Jochen einen Platz in seiner Privatgarage zur Verfügung, so musste er das Prachtstück nicht übers Wochenende auf dem Präsentierteller stehen lassen.
Nach seiner Ankunft sah er sich die Altstadt an, man war ja in zehn Minuten herum. Kollwitz war ein hübsches Hansestädtchen, da ließe sich was draus machen. Nur, wer sollte das bezahlen? Der Solidaritätszuschlag würde ins Unermessliche steigen. Kaufkraft gab’s hier gleich null, jeder zweite Laden leer. Und Investoren? Da brauchte man schon Jochen Wedemeiers Pioniergeist. Der konnte einem Gelb für Grün verkaufen und glaubte noch selber dran.
»’ne Zigarre, Hajo? Direktimport aus Kuba. Geht aufs Haus, versteht sich.«
»Na, da sag ich nicht nein, Jochen.« Hajo betrachtete die kubanische Schönheit von allen Seiten.
Das nagelneue Funktelefon klingelte, und Jochen stürzte sich enthusiastisch ins nächste Verkaufsgespräch, während Hajo genüsslich den kommunistischen Stumpen paffte.
Er erinnerte sich noch gut, wie der Jochen ihm sein eigenes Haus angeboten hatte, schön gelegen im Hochtaunus mit idealer Verkehrsanbindung, so dass er mit dem Wagen in rund vierzig Minuten am Flughafen war. Bungalow in Hanglage mit Schwimmbad und Sauna, erstklassige Ausstattung. Nachbarn in seiner Einkommensklasse, das Baugebiet gerade groß genug, dass seiner Desirée nicht langweilig wurde. Der Immobilienmakler selbst lebte in echtem Fachwerk im Ortskern, reich geheiratet, wurde gemunkelt. Da ergab es sich quasi von selbst, dass man sich im Jagdverein wiedertraf. Und bald darauf zum Du wechselte.
Und jetzt saß der Jochen also hier oben, frisch geschieden, sah zwanzig Jahre jünger aus, das machte bestimmt der Pioniergeist. Baute sich peu à peu ein altes Herrenhaus aus, von dem nur noch die Außenmauern standen. Das Frankfurter Geschäft leitete der älteste Sohn. Hajo schielte auf die langen braunen Beine der jungen Frau, die den Kaffee serviert hatte und nun hinter einem Computer hockte. Die sagte bestimmt auch nicht nein, wenn einer wie Wedemeier im Wilden Osten aufschlug mit seinem weltmännischen Charme.
»Du bereitest dich hier auf die Rente vor wie Gott in Frankreich«, sagte er, als Jochen aufgelegt hatte.
Der lachte. »Wenn dies Frankreich wäre, dann wäre vieles einfacher. Zum Beispiel gäbe es ein funktionierendes Telefonnetz.« Er deutete auf sein Mobilgerät. »Und eine«, er senkte die Stimme, damit die Frau ihn nicht hörte, »sagen wir mal, etwas anpassungsfähigere Mentalität. Die Vorpommern sind ein stures Völkchen.«
Wie aufs Stichwort öffnete sich die Tür. Herein kam ein stämmiger Mann in Cordhose und kurzärmeligem Hemd, rotes Gesicht, das Haar unter einer speckigen Schirmmütze versteckt.
»Ah, da ist er ja. Darf ich dir Uwe Jahn vorstellen?« Jochen kam hinter dem Schreibtisch hervor, und Hajo stand auf. Er und Uwe schüttelten sich die Hand.
»Hans-Jürgen Walther mein Name. Hajo unter Jagdfreunden.«
»Jahn. Uwe.« Der Mann hatte einen stechenden Blick. Der war bestimmt bei der Stasi, dachte Hajo. Er machte sich nichts vor. Er gehörte keineswegs zu den Leuten, die über die Wende in Freudentränen ausgebrochen waren oder in der Frankfurter Innenstadt spontan den Ossis Hundertmarkscheine in die Hand drückten, wenn die aus ihren putzigen Trabbis herauskrabbelten. Diese Typen waren ihm unheimlich, die hätte man ruhig hinter ihrer Mauer lassen können.
»… mein bester Jagdführer«, sagte Jochen gerade. »Seine Pacht ist eine der wildreichsten hier in der Gegend. Er wird dir jeden Wunsch von den Augen ablesen. Denn Sie wissen ja«, er wandte sich an den Jagdführer, »nun ist auch hier der Kunde König.« Er ließ sein meckerndes Lachen ertönen. »Uwe wird dir dein Quartier zeigen, einfach und authentisch, direkt neben der Jagd. Meine Herren, bleibt mir nur noch zu sagen: Waidmanns Heil!«
»Du kommst nicht mit?« Hajo war irritiert. Aus irgendeinem Grund hatte er angenommen, Jochen würde persönlich dabei sein.
Der zeigte auf sein Funktelefon, das schon wieder klingelte. »Ich würde ja gern, aber das Geschäft ruft.« Er beugte sich vor und flüsterte hinter vorgehaltener Hand: »Muss ein Anwesen auf Rügen in Augenschein nehmen. Wer zu spät kommt, du weißt schon, frei nach Gorbatschow.«