22. Juni 2012, Hansestadt
Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
Nick sitzt in der Kantine der Staatsanwaltschaft Kollwitz, vor sich einen Teller mit Currywurst, Kartoffelbrei und schwarzen Bohnen. Das Tagesmenü in den Farben der deutschen Flagge, um die Nationalmannschaft zu unterstützen. Unter dem Tisch sitzt der Zwergspitz und bettelt.
»Jogi? Heißt du vielleicht Jogi?« Der Hund reagiert nicht. Nick hat schon einige Namen ausprobiert, keiner scheint ihm zu gefallen. Das Essen ist nicht schlecht für Kantinenfraß, doch die Farben gehen ihm auf den Geist. Entnervt schiebt er den Teller weg und holt seine Zigaretten aus der Jackentasche. Gut, dass Jasmin noch nicht gemerkt hat, dass er wieder raucht.
Draußen vor dem Eingang steht er mit anderen bleichgesichtigen Männern herum, die alle an ihren Zigaretten ziehen und auf den halb leeren Parkplatz starren. Der Spitz zerrt an seiner neuen Leine, die Nick ihm in einem Hunde-Discounter gekauft hat. Plus Fressnäpfe, Futter und ein Kissen, auf dem er schlafen kann.
Noch eine halbe Stunde.
Gestern Nacht kam zwar nicht Mattie, aber immerhin eine lange E-Mail. Im Anhang zwei gescannte Vollmachten. Außerdem ein Haufen Anweisungen an Nick, unter anderem, sich umgehend mit Volker und Bettina in Verbindung zu setzen und ihnen zu eröffnen, dass Mattie gar nicht krank ist. Großartig.
Die E-Mail klang ein bisschen wirr und endete mit den Worten: »Nick, die haben hier einen Schnaps aus den Weinlaubengängen, der kommt in Colaflaschen, weil er verboten ist. Musst du unbedingt probieren. Ich glaub, ich muss mal schlafen. Gute Nacht.«
Es blieb ihm nichts anderes übrig, als morgens Halsschmerzen vorzutäuschen und Jasmin allein mit Azim auf Shoppingtour für Mexiko zu schicken. Als sie weg waren, ist Nick mit dem Hund ohne Namen zur Kanzlei gehetzt. Er hatte Glück, Volker war schon da. Der hörte sich die ganze Sache an und schlürfte dabei seine obligatorische Mate. »Kann ich nicht allein entscheiden.« Also wurde Bettina geholt, und Nick musste die Geschichte noch mal erzählen. Beim zweiten Mal hat Volker schon gegrinst, als er Matties Alleingang schilderte.
Die beiden Anwälte hatten eindeutig Interesse, vor allem als der angebliche Jagdunfall zur Sprache kam.
»Das stinkt«, konstatierte Volker, »und zwar gewaltig.«
Bettina knüpfte ihre Zustimmung an die Bedingung, dass Nick persönlich darüber berichtet. »So was muss man flankieren, und zwar von allen Seiten. Sonst können wir es gleich lassen. Wir brauchen deinen Namen.«
Nick konnte seine Freude kaum verbergen. Noch ein Mal. Einmal zeigen, was er kann, bevor er nach Mexiko verschwindet. Ein Zeichen setzen. Nikolaus Ostrowski ist wieder da.
Noch zwanzig Minuten. Er drückt die Zigarette in den überquellenden Standaschenbecher. Und jetzt? Jetzt hat er Lampenfieber. Nervös wie ein Erstklässler vor dem Interview mit einem Staatsanwalt. Dazu Volkers Geheimauftrag. Auf dem Weg von der Kanzlei zu seiner Car-Sharing-Station hat er die entscheidende Frage gestellt. »Wer war eigentlich der zweite Tote?«
Liviu, den sie auf dem Weg nach Kollwitz bei seinem Parkplatz aufgesammelt haben, konnte auch nicht weiterhelfen. Niemand aus dem Heim schien den Mann gekannt zu haben. Er stammte nicht aus Turnu Severin, so viel ist sicher. Sie haben damals gesammelt, um ihn heimzuschicken zu der Adresse, die die Polizei in seinem Ausweis gefunden hatte. Das Geld wurde von dem Mann der Pastorin zur Dienststelle gebracht.
Noch zehn Minuten.
Nick hat Glück, dass der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Kollwitz, ein Dr. jur. Schölling, sich überhaupt so kurzfristig zu einem Interview bereit erklärt hat. »Ich erinnere mich gut an den Fall«, sagte er am Telefon auf Nicks Schilderung der Sache. »Das war, kurz nachdem ich hier angefangen habe. Kommen Sie um vierzehn Uhr in mein Büro.«
Also sind Volker und Liviu weiter zur JVA gefahren, die außerhalb der Stadt liegt. Und Nick ist in dieser eintönigen Beamtenverwahranstalt gestrandet, wo das einzig Farbige das Essen in Schwarz-Rot-Gold ist.
»Du musst hierbleiben«, erklärt er dem Hund und bindet ihn am Fahrradständer fest. »Lass dich nicht klauen.«
»Bringen Sie den man rein hier, sonst brennt dem ja die Sonne das Gehirn wech«, ruft es aus der Pförtnerloge.
»Na, du hast aber ein Glück«, flüstert Nick und bindet den Hund wieder los. »Hier werden Hunde besser behandelt als Menschen.«
Fünf Minuten später sitzt er Herrn Doktor Schölling gegenüber. Etwa gleichaltrig. Ehering. Kleidung Ton in Ton mit der weißen Wand und dem grauen Schreibtisch. Gerahmte Kinderzeichnungen. Schölling sieht auf seine Armbanduhr. Sicher ein Erbstück. »Wir haben eine halbe Stunde«, sagt er und deutet auf ein paar dicke Aktenordner. »Sie haben Glück, dass die Akten noch nicht vernichtet sind. Was wollen Sie wissen?«
Nicks Aufregung ist wie weggeblasen. Er schaltet sein Aufnahmegerät ein. »Lassen Sie uns mit dem damaligen Fall beginnen. Was haben die Ermittlungen vor Ort ergeben?«
»Bevor ich Ihnen die Sachlage schildere, stellen Sie sich bitte vor, dass wir uns im Sommer 1992 befinden. Kurz nach der Wende. Logistisch war das hier eine Brachfläche. Wir hatten nicht mal funktionierende Telefonleitungen.«
Das fängt ja gut an. Nick nimmt sich vor, die Anwälte auf mögliche Ermittlungspannen hinzuweisen. Volker hat recht. Der Fall stinkt.
Betont emotionslos referiert Schölling die gesammelten Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft vor Prozessbeginn. Die Polizei wurde erst informiert, als am Morgen nach den tödlichen Schüssen das Feld brannte. Die anrückenden Einsatzkräfte fanden zwei hochgradig verbrannte Leichen und lauter Zivilisten auf dem Feld, die an einem Tatort nichts zu suchen haben. Erst als die Leichen gerichtsmedizinisch untersucht wurden, stellte sich heraus, dass sie durch ein Jagdgeschoss und nicht an Verbrennungen oder Rauchvergiftung gestorben waren. Der Jagdpächter wurde verhört, ebenso der Jagdgast. Beide machten von ihrem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch.
»Sicher steht fest, dass beide Opfer durch eine einzige Kugel ums Leben kamen. Es handelt sich um ein sogenanntes Teilmantelgeschoss, das sich beim Auftreffen in viele kleine Geschosse teilt, um das Wild möglichst schmerzfrei zu töten.«
Nick muss tief durchatmen. Diese Sprache. Der Mann redet ohne abzusetzen weiter. Druckreife Sätze. Die Staatsanwaltschaft habe derzeit nichts unversucht gelassen, um den Täter zu identifizieren. Im Endeffekt ließ sich die Munition jedoch keinem der beiden Angeklagten einwandfrei zuordnen. Und das deutsche Recht laute nun einmal dahingehend, dass niemand verurteilt wird, dem die Schuld an einem Verbrechen nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann.
»Zwischen der Tat und dem Prozessbeginn liegen gut vier Jahre. Ist das nicht außergewöhnlich lange?«
»Ich muss Sie nochmals auf die damalige Lage in den neuen Bundesländern hinweisen.« Der Mann lässt sich nicht aus der Reserve locken.
»Wurden die Familien der Toten in Rumänien über die Anklageerhebung und den Prozessverlauf informiert?«
Schölling blättert lange in den Akten.
»Nein.«
»Warum nicht? Hatten Sie keine Adressen?«
»Die vollständigen Namen und Adressen der Opfer sind in den Akten vermerkt.« Er blättert ein paar Seiten zurück. »Hier. Leider darf ich Ihnen, wie Sie wissen, keinen Einblick in die Akten geben.«
»Warum wurden sie nicht informiert?«
»Wir haben es hier mit einem Tötungsdelikt zu tun, das in Deutschland von Deutschen begangen wurde. Die Familien der Opfer waren für die Ermittlungen und den Prozessverlauf zu keiner Zeit relevant.«
Nick fühlt, wie die Ader auf seiner rechten Schläfe zu pochen beginnt. »Wenn die Opfer und ihre Familien Deutsche gewesen wären, hätte es dann nicht mit großer Wahrscheinlichkeit eine Nebenklage gegeben?«
»Ja, das ist korrekt.«
»Aber da die Familien in Rumänien waren, hat sie niemand darüber aufgeklärt?«
»Das ist möglich. Aufgabe der Staatsanwaltschaft ist es nicht.«
»Finden Sie das nicht zynisch?« Nick hat Mühe, seine Gefühle im Zaum zu halten.
Schölling überlegt einen Moment. »Aus Sicht der deutschen Behörden nicht. Hier liegt kein Fehler vor. Aus Sicht der Familien kann ich Ihre Argumentation durchaus nachvollziehen.«
»Sie machen es sich zu einfach.« Nick möchte diesen Mann in Grund und Boden argumentieren. Moralisch. Politisch.
»Haben Sie sonst noch Fragen zur Sache?« Wieder ein Blick auf die geerbte Armbanduhr. Juristenfamilie, mindestens dritte Generation. Nick kennt diese Liga. Er hat selbst mal dazugehört.
»Können Sie mir schon etwas zu dem aktuellen Fall sagen?«
Schölling schüttelt den Kopf. »Laufende Ermittlungen. Wenn eine Pressekonferenz angesetzt wird, kann ich Sie gerne informieren. Lassen Sie Ihre Karte einfach bei meiner Mitarbeiterin vorne.«
Nick steht auf. Jetzt kommt der entscheidende Moment.
Columbo.
»Ach, übrigens – die Familie des einen Opfers wusste bis gestern nichts vom Ergebnis des Prozesses. Wenn wir nun die zweite Familie ebenfalls kontaktieren möchten …« Er lässt den Satz bewusst unvollendet.
Der Mann sieht ihn lange an. Dann nimmt er sein graues Jackett und zieht es an. »Auf Wiedersehen, Herr Ostrowski. Meine Mitarbeiterin wird in einer Minute erscheinen und Sie hinausbegleiten.«
Zehn Sekunden später ist Nick allein im Raum. Die Akten auf dem Tisch, aufgeschlagen die Seite mit den Adressen der Opfer. In der Ecke ein Kopierer. Danke, Doktor Schölling.
Als die Frau den Raum betritt, sitzt Nick wieder auf dem Stuhl und ist gerade dabei, sein Aufnahmegerät einzupacken.