20. Juni 1992, Turnu
Severin
Walachei, Rumänien
Turnu Severin, Stadt der halb fertigen Paläste und zerfallenden Träume. Marius saß allein in dem Haus, das er für seine große Familie gebaut hatte. Ein imposanter Bau mit drei Türmchen und Zinnen und viel Stuckarbeit, dazu hatte er einen rosa Farbton für die Fassade gewählt. Das Haus entsprach seinem Ansehen. Noch hatte es keinen Wasseranschluss, der Bezirk versprach laufend, Leitungen zu verlegen, tat es jedoch niemals. Nicht in ihrem Teil der Stadt. Erst zwei Zimmer waren so ausgebaut, dass man darin wohnen konnte. An den Fenstern klebten noch die Aufkleber der Firma, bei der er die Rahmen billig erstanden hatte. Am Nachmittag hatte es geregnet, der Strom war wieder einmal ausgefallen. Sie lebten an der tiefsten Stelle der Stadt, wo das Wasser sich sammelte und die ungeteerten Straßen in Schlammpisten verwandelte. Marius fragte sich seit einiger Zeit, ob es richtig gewesen war, seine Familie hierher zu bringen. Sie waren zwar weg aus den Wohnblöcken, endlich unter sich, die letzten Rumänen in der Gegend hatten kurz nach der Revolution ihr Haus verkauft. Doch dann war die Falle zugeschnappt. Einer nach dem anderen aus dem Viertel verlor seine Arbeit. Einer nach dem anderen packte schweigend ein paar Sachen ins Auto und fuhr los Richtung Norden. Fünftausend Familien, und jetzt waren nur noch ein paar Alte und Kinder da.
Marius schrieb in sein Notizbuch, um die Schatten zu vertreiben, die jedes Mal über die Wände huschten, wenn ein Auto vorüberfuhr. Er war nicht gern allein, sie waren lieber zusammen, so war das nun mal. Allein fühlte er sich unvollständig, das war das richtige Wort. Das Schreiben hatte er angefangen, als er für die staatliche Ölfirma als Lkw-Fahrer arbeitete. Er war oft tagelang unterwegs. Allein auf den Parkplätzen, nachts, schrieb er auf, was er tagsüber durch die Frontscheibe seines Lasters beobachtet hatte. Er war kein Poet, eher ein Chronist. Und weil Adriana gerade zur Welt gekommen war, schrieb er an seine Tochter. Später wurden seine Söhne geboren, und er war der stolzeste Mann des ganzen Viertels. Geschrieben hatte er weiter für Adriana.
Nach seiner Entlassung, als er in Turnu Severin herumsaß und wartete – Gott im Himmel weiß worauf –, merkte er, dass ihm das Beobachten und Aufschreiben zur Gewohnheit geworden war. Er schrieb über Hochzeiten und Begräbnisse, über Morde und Selbstmorde, und als er in die Reihen derer aufgenommen wurde, die Recht sprechen durften, wenn zwei Familien in Streit gerieten, schrieb er auch darüber. Mittlerweile hatte er ein ganzes Regal im Schrank mit identischen Notizbüchern gefüllt, für jedes Jahr eines. Vielleicht würde Adriana sie eines Tages mitnehmen, wenn sie heiratete, oder er würde sie auf den Müll werfen.
Die Petroleumlampe flackerte. Er sah hoch, vergeblich suchte sein Blick nach anderen erleuchteten Fenstern. Marius fühlte eine zunehmend schwere Müdigkeit, die ihm in den Knochen steckte. Er war von Deutschland dreißig Stunden durchgefahren, das machte ihm nichts aus. Doch nun saß er hier seit zwei Wochen fest, weil er die nötigen Papiere nicht bekam. Zurück musste er illegal über die grüne Grenze einreisen. Nur nicht das laufende Asylverfahren seiner Familie gefährden. Bis sie endlich ihren Stempel im Pass hatten. Die ganze Welt drehte sich um Papiere. Morgen würde er wieder auf die Präfektur gehen, höflich nachfragen und vielleicht mit etwas Glück den Schein in der Hand halten, der ihm erlaubte, das Dokument zu beantragen, um seine Mutter nach Hause zu bringen. Dann würde er warten, vielleicht ein paar Tage, vielleicht ein paar Wochen. Zurück nach Deutschland fahren und warten, vielleicht ein paar Monate, vielleicht ein Jahr.
Trotz der Müdigkeit überkam ihn plötzlich Lust, sein Haus weiterzubauen, Mörtel anzurühren, eine Wand hochzuziehen. Unter den Händen die Wärme der Ziegel zu spüren. Das Gebell der Hunde und das Geschrei von Ştefan und Claudiu im Hof zu hören. Zu wissen, dass sie eine Zukunft hatten. Hier gab es diese Zukunft nicht mehr. Und so würde auch er sich wieder auf den Weg machen.