4. Juni 2012,
Kreuzberg
Berlin, Deutschland
»Nikolaus!«
Er hat sich immer noch nicht dran gewöhnt. Jasmin besteht darauf, ihn bei seinem richtigen Namen zu nennen. Vielleicht will sie damit einen klaren Strich unter seine Vergangenheit ziehen. Seine Frau ist die geradlinigste Person der Welt.
Nick Ostrowski sitzt auf der Schaukel neben der Babyplansche. Sein elf Monate alter Sohn Azim sitzt zehn Zentimeter vom rettenden Ufer entfernt in der warmen Brühe und spielt mit einem Plastikdelfin. Nick sieht nach oben zur Dachgeschosswohnung. Jasmin steht auf der Terrasse.
»Kannst du nicht mal die Sonnenbrille abnehmen? Du siehst ja nicht mal, ob er ertrinkt!«
Das Wasser ist zur Mitte hin tiefer. Mindestens dreißig Zentimeter an der tiefsten Stelle. Nick nimmt die Brille ab.
»Ich fahr jetzt ins AA! Bis später.«
Er bemerkt, dass alle ihn anstarren. Die Frauen natürlich, nicht die Kinder. Nick hat nichts gegen Kinder. Aber er hat definitiv was gegen Spielplätze, Babyplanschen eingeschlossen. Für ihn die traurigsten Orte der Welt. Er kann die Blicke fast körperlich spüren, abschätzend, manche interessiert. Viele der Mütter sind jünger als er. Sie haben lange Haare, modische Frisuren, gepflegte Körper. Als wollten sie kollektiv darauf hinweisen, dass Mütter heute nicht mehr automatisch vom Markt genommen werden.
Nick klappt seinen Laptop auf und versucht ihn auf den Knien auszubalancieren und dabei nicht ins Schaukeln zu geraten. In Bombay, direkt nach Azims Geburt, konnte er wenigstens ein paar Stunden am Tag arbeiten. Es gab ein Kindermädchen und eine Frau, die die Wohnung putzte. Nick war am Ende doch ein neofeudaler weißer Snob geworden.
»Joel! Das ist aber nicht nett. Guck mal, das Kind ist kleiner als du. Gib doch bitte mal den Delfin zurück.«
Eins, zwei, drei. Nick klappt den Laptop zu. Azim fängt an zu schreien. Er hebt ihn hoch und setzt sich mit ihm auf die Schaukel, andersherum, damit sie ihn nicht dabei scannen können, wie er versucht, sein Kind zu beruhigen. Den Artikel über die Gay Pride Parade in Bombay wird er vielleicht heute Nacht fertig schreiben. Wenn Azim durchschläft. Was er nicht tut. Schon seit vier Monaten nicht, seit sie wieder in Deutschland sind. Jasmin braucht ihren Schlaf. Das Auswärtige Amt ist schließlich keine Pommesbude. Apropos Pommes …
»Was meinst du, Azim, wollen wir mal wieder zu McDonalds?« Die Frage ist nicht für Azim gedacht, der ist längst eingeschlafen. Nick dreht sich um. Tödliche Blicke treffen ihn von allen Seiten. Zufrieden setzt er die Sonnenbrille auf, packt Azim in die dreirädrige Joggingkarre und schiebt Richtung Ausgang. Immer in Bewegung bleiben.
Eine Stunde später sitzt er in seinem türkischen Lieblingsbiergarten, vor sich einen Teller Köfte mit Pommes und ein großes Bier. Azim ist aufgewacht und robbt durch den Sand eines abgezäunten Miniatur-Freizeitparks für die Kinder. Immerhin gibt es hier so früh am Nachmittag nur wenige Besucher. Nick fühlt sich brammig und leicht benebelt vom Bier. Der Artikel dümpelt ganz außen an der Peripherie seines Bewusstseins.
Fünftausend Leute, Regenbohnenfahnen, ein verstohlener Kuss zwischen zwei Männern. Ungläubig stand Nick mit Azim im Schultertuch am Marine Drive. Mitlaufen wollte er nicht, falls doch die Polizei eingriff. Vor allem wollte er nicht Cal über den Weg laufen. War auch nicht möglich, denn Cal war, wie so oft, umringt von Freunden und Fans.
Vier Jahre lang Versteckspielen, ein Doppelleben führen, immer Angst haben, entdeckt zu werden. Wie oft hatten er und Cal sich ausgemalt, wie es wäre, wenn Artikel 377 der indischen Verfassung abgeschafft würde und sie endlich offiziell zusammen sein könnten. Doch dazu kam es nicht mehr. Cal arrangierte sich prima zwischen seiner Scheinehe mit der Tochter eines Studiobesitzers und seinem heimlichen Zweitleben mit Nick. Eigentlich war er sowieso nie da, denn er gehört zu den Shooting Stars des neuen indischen Kinos. Die Zeit der Bollywood-Märchen ist vorbei, die Jugend in den Metropolen will ihre eigenen Filme.
Nick fuhr hierhin und dorthin, schrieb aufwühlende Reportagen und begann sich zu langweilen. Die Nachrichten von Mattie waren auch nicht besser. Indienreise abgesagt, stattdessen saß sie am Bett ihres Vaters herum und vergeudete ihre Jugend mit Kamal Assadi.
Wenn Nick eines nicht erträgt, außer Spielplätzen, dann ist es Stillstand. Stillstand ist gleich Tod. Und so schlug Jasmin wie ein Meteorit in sein Leben ein, direkt von der Uni in Genf ins Auswärtige Amt gecastet, erster Job im Generalkonsulat Mumbai. Ob er und Azim von Anfang an zu ihrem Plan gehörten, möchte er lieber nicht wissen. Diese Frau hat ihn vom ersten Moment an überwältigt. Damals hinter der Glasscheibe in Kamal Assadis Dojo an der Ostsee.
Jasmin bezog eine schicke Konsulatswohnung in South Bombay, wo Nick sich öfter blicken ließ, als gut für ihn war. Sie wollte Nick, daran ließ sie keinen Zweifel. Seine Beziehung zu Cal ignorierte sie einfach. Er brauchte dem Impuls nur nachzugeben. Seine neue Liebe gefiel ihm umso besser, weil Jasmins Vater Kamal tobte und Mattie jetzt sozusagen seine Schwiegermutter war.
»Nikolaus, wach auf.« Klar, er ist eingeschlafen. Und sie hat ihn erwischt. Ihre Augen sind dunkel vor Wut. Azim klammert sich an sie, seine volle Windel stinkt drei Meilen gegen den Wind.
»Scheiße, Jasmin, tut mir leid. Setz dich doch. Willst du was trinken?«
Sie schüttelt den Kopf und bleibt stehen. »Du riechst nach Bier.« Jasmin trinkt kaum Alkohol, nicht weil sie irgendwie bekennende Muslimin ist, sondern aus gesundheitlichen Gründen. Die Disziplin, die sie von klein auf beim Kung-Fu gelernt hat, erstreckt sich auf alle Bereiche ihres Lebens.
Nick fühlt sich uralt. »Gibt es nicht die Technik des betrunkenen Mönchs? Die wollte ich mal ausprobieren.«
Jasmin trägt ihre Haare jetzt lang, und in letzter Zeit hat sie öfter Röcke an als Hosen. Leute drehen sich nach ihr um. Sie legt Azim auf dem Stuhl ab und hockt sich hin, um die Windel zu wechseln. Jeder Handgriff sitzt.
Nick fühlt, wie er ihre Aufmerksamkeit verliert. Also platziert er vorsichtig den Sprengsatz. »Mattie braucht einen Job. Weißt du nicht was?«
»Was soll denn das jetzt schon wieder?«
Nick lehnt sich zurück. Er hat, was er wollte. »Sie braucht einen richtigen, gut bezahlten Job. Heimkosten für Emma.«
Jasmin schüttelt unwillig den Kopf. »Mal abgesehen davon, dass sie alt genug ist, kann sich doch Kamal darum kümmern. Was geht uns das an?«
Nick nimmt seine Sonnenbrille ab. Ihm ist plötzlich kühl. Die Sonne ist hinter den Bäumen verschwunden. »Sie wird ihn verlassen. Ich hab’s ihr angesehen.«
Jasmin dreht sich um. Für einen Moment sieht er Angst in ihrem Blick aufflackern. »Wieso? Wo ist sie denn?«
»Noch ist sie in Kiel. Wir haben heute geskypt.«
Sie versucht ihren Ausrutscher zu überspielen und lacht gekünstelt auf. »Ach, und du kannst über Skype ihre Zukunft lesen?« Sie hat sich wieder im Griff. »Mattie hat gerade ihren Vater verloren. Klar, dass es ihr nicht so gut geht.«
Er schüttelt den Kopf. »Vergiss es, Jasmin. Ich kenne Mattie besser als jeder andere. Ich kann in ihr lesen wie in einem Buch.«
Plötzlich bricht es aus ihr heraus. »Und warum hast du dann nicht Mattie geheiratet?« Trotz des Kindes auf ihrem Arm sieht sie aus wie ein wütendes kleines Mädchen.
Nick ist nicht nach Versöhnlichkeit zumute. Er weiß genau, was sie jetzt hören möchte. Aber er will es ihr nicht geben. »Ich weiß auch nicht.« Er zuckt die Schultern. »Irgendwie war nie der richtige Moment.«
Azim spürt die Gewitterfront, die zwischen seinen Eltern aufzieht, und fängt an zu weinen. Nick würde sich am liebsten die Ohren zuhalten, oder noch besser: wegrennen. Weg aus diesem Vorzeigeleben.
»Nikolaus!« Ihre Stimme dringt wie aus weiter Ferne zu ihm durch. Sie hat Azim über ihre Schulter gelegt und lässt ihn vorsichtig auf und ab wippen. Die Härte ist aus ihrem Blick verschwunden. »Ich höre mich um, okay? Können wir jetzt nach Hause gehen?«
Er nickt. Und dann gehen sie nach Hause. Wie jeden Abend.