25. Juni 2012,
Tiergarten-Mitte
Berlin, Deutschland
Der Hauptbahnhof ist voller Fußballfans. Berliner auf dem Weg nach Warschau zum Halbfinale. Nicht-Berliner auf dem Weg zur Fanmeile an der Siegessäule. Mattie findet Fußball gut, aber Menschenmengen mit Deutschlandfahnen, Deutschlandhüten, Deutschlandblumenkränzen aus Plastik und Schwarz-Rot-Gold im Gesicht machen sie nervös. Nationalquatsch. Gut, dass es bald vorbei ist.
Der Zug aus Budapest kommt mit einem lauten Kreischen zum Stehen. Nadina, die vor ihr im Gang steht, dreht sich um. »Viele Leute.«
Mattie lächelt. Muss ein komischer erster Eindruck von Berlin sein. »Fußballfans.« Plötzlich entdeckt sie einen dicken Bauch. Kurze Hosen, Badelatschen. Willkommen in Rumänien!
Die Türen gehen auf.
»Liviu!« Er kann sie nicht hören. Unglaublicher Lärm erfüllt die Halle. Mattie winkt. Er teilt die Menge wie ein Ozeandampfer.
»Bună ziua!« Sie kriegt ein Grinsen und die Andeutung einer Umarmung. Nadina und Liviu beäugen sich kritisch. Eine Vorstellungsrunde ist sinnlos. Man versteht kaum sein eigenes Wort.
Ihr Bus steht im absoluten Halteverbot vor dem Bahnhof. »Schnell weg hier!« Mattie sieht im Augenwinkel zwei Polizisten im Anflug. Ihr geliebter Bus. As much home as you can get. Sie schwingt sich auf den Fahrersitz und deutet hinter sich. »Bitte anschnallen und die Türen schließen.«
Bis sie bei der Kanzlei einen Parkplatz findet, haben die beiden das erste Abchecken hinter sich gebracht. Sie umkreisen einander vorsichtig mit wenigen Worten. Mattie wirft einen Blick in den Rückspiegel. Livius rosarote »Wir sind alle eine Familie«-Vorstellung war wohl doch ein bisschen übertrieben.
Als sie aus dem Bus klettert, knickt Nadina um. Mattie greift nach ihrem Arm.
»Lass mich, geht schon!«
Auch wenn sie es nicht zugibt, sie hat seit gestern ganz schön was mitgemacht. »Willst du lieber im Bus warten?«
»Nein, ich komme mit.«
Sie sieht vielleicht aus wie ein normales Mädchen, mit ihren Ballerinas, Röhrenjeans und der schicken H&M-Bluse. Darunter verbirgt sich derselbe harte Kern wie bei ihrer Mutter. Schwer zu brechen. Mattie gruselt es bei der Vorstellung von Nadina als Hausmädchen eines Neureichen an der Côte d’Azur.
Die Kanzlei gleicht wieder mal einem Bienenstock. Die beiden Anwälte sitzen an dem großen Tisch neben der Küche, an dem mittags auch gegessen wird. Volker mit seiner Mate, Bettina mit einem Espresso.
»Da hast du dir ja einen tollen Einstand geleistet.« Volkers Lächeln ist warm. Er umarmt sie. Bettina auch, allerdings mit den Worten: »Eigentlich wollten wir ja jemanden für die Öffentlichkeitsarbeit, nicht für Akquise.«
Während alle sich vorstellen, macht Mattie an der Espressomaschine Kaffee für die beiden Gäste. Sie wartet darauf, dass noch jemand kommt.
Er kommt nicht.
»Wo ist eigentlich Nick?« Klingt das beiläufig genug? Sie bringt die beiden Tassen zum Tisch.
»Auf dem Weg zu seiner Familie nach Kiel.« Bettina sieht sie an, ihr Blick ist schwer zu deuten. Mattie steigt das Blut ins Gesicht.
Während die Vollmachten und Dokumente kopiert werden und die Anwälte Nadina das Procedere erklären, klinkt sich Mattie innerlich aus. Nick bei seiner Familie in Kiel. Das bedeutet, Jasmin ist bei ihrem Vater. Der lang überfällige Versöhnungsbesuch. Kamal sieht seinen Enkel. Mattie weiß, wie viel ihm das bedeutet, auch wenn er nicht darüber spricht. Ein merkwürdiges Gefühl der Ausgeschlossenheit überkommt sie. Alle Kämpfer des Shaolin versammeln sich im Kloster. Nur sie kann nie wieder dabei sein.
»Ich möchte Livius Aussage aufnehmen.« Volkers Stimme holt sie zurück in die Kreuzberger Fabriketage. »Wir wollen keinen fremden Dolmetscher dabeihaben. Nadina, meinst du, du könntest übersetzen? Wir zahlen zwanzig Euro die Stunde auf Honorarbasis. Bar gegen Quittung.«
Mattie sieht zu Nadina. »Schaffst du das?«
Die wischt ihre Zweifel beiseite. »Ich nehme jede Arbeit an. Du hast doch gesehen, wie es bei uns läuft.« Ohne weitere Diskussion greift sie nach Papier und Stift, die auf dem Tisch bereitliegen.
Liviu sitzt auf dem Freischwinger wie ein Fremdkörper. Als er hört, was man von ihm will, macht er ein Gesicht, als würde er am liebsten weglaufen. Mattie ahnt, was in ihm vorgeht. Man spricht nicht über die Toten.
Volker stellt seine Fragen vorsichtig. Liviu blickt starr vor sich hin, während er mit leiser Stimme berichtet. Der Polizeijeep, der ihnen hinter der Brücke mit hoher Geschwindigkeit entgegenkam. Adriana, raus und auf dem Feld, noch bevor der Wagen stand.
Nadina liest ihre Notizen vor. »Er rannte ihr hinterher. Zuerst fand er einen Toten. Es war Adrianas Vater. Sein Freund.« Sie spricht zu schnell, ist blass. »Kann ich ein Glas Wasser haben?«
Mattie steht auf und geht zum Waschbecken.
Liviu redet weiter. Jetzt, wo er einmal angefangen hat, kann er nicht mehr aufhören.
»Er hörte das Mädchen Adriana weinen und ging zu ihr. Sie lag mitten im Feld. Er hob sie hoch. Dabei sah er den zweiten Mann. Er kannte ihn nicht.«
Volker hält Liviu davon ab, weiterzusprechen. »Geht es, Nadina?« Sie nickt. »Ich muss diese Fragen stellen. Das ist sehr schwer für dich. Möchtest du, dass wir jemand anders zum Übersetzen holen?«
Mattie stellt das Glas Wasser vor sie hin. »Du musst das nicht tun.«
Sie trinkt einen Schluck. »Habt ihr genug gelabert? Können wir jetzt weitermachen?«
»Also gut.« Volker nickt Liviu zu, der sich nicht bewegt hat. Der patente, unerschütterliche Mechaniker wirkt auf einmal zerbrechlich. Mattie stellt sich den jungen Liviu von damals vor, wie er im Feld stand, zwischen zwei Toten, das Mädchen auf dem Arm.
»Liviu, diese Frage ist sehr wichtig. Bitte versuchen Sie, sich genau zu erinnern. Sind Sie ganz sicher, dass der zweite Mann tot war?«
Mattie horcht auf.
Liviu stützt die Unterarme auf den Tisch und verbirgt sein Gesicht in den Händen. So sitzt er eine Weile da und schweigt. Dann hebt er den Kopf. Mattie sieht, dass er geweint hat. Er spricht weiter, nicht auf Rumänisch, sondern in seinem Spanisch-Englisch direkt zu Volker.
»Ich sah, dass Blut aus seinem Mund lief. Die Augen waren offen. In dem Moment war ich sicher, dass der Mann tot ist. Aber später – diese Augen. Ich musste immer daran denken. Die ganze Rückfahrt über.« Liviu zögert, dann sieht er Nadina an und erklärt etwas auf Rumänisch.
Sie kritzelt auf ihren Zettel, ohne aufzublicken. »In Kollwitz ging er sofort zur Polizei. Er sagte ihnen, eine Gruppe von Flüchtlingen sei in der Nacht von der Grenzpolizei beschossen worden. Er gab ihnen den Ort an. Die Polizisten telefonierten eine Weile herum. Er ist sicher, dass sie ihm nicht geglaubt haben.« Nadina schweigt und starrt auf ihre Notizen.
»Das reicht für heute«, sagt Volker.
Auf der Rückfahrt zum Parkplatz am Plänterwald spricht niemand ein Wort. Liviu murmelt einen kurzen Gruß und verschwindet zu seinen Leuten.
Passend zur Stimmung braut sich draußen ein Gewitter zusammen. Mattie bezieht das Bett für Nadina und legt für sich selbst die Notmatratze über die beiden Vordersitze. Für eine Nacht wird es schon gehen.
Das Mädchen kriecht sofort unter die Decke. Mattie füllt kochendes Wasser in zwei Becher mit asiatischer Instant-Nudelsuppe. Extra scharf, damit die Tränen ungehindert laufen können.
Sie löffeln schweigend.
Mattie räumt die Tassen in die Spüle.
Nadina schnieft. Ihr Blick ist starr an die Decke des Busses gerichtet. »Es wäre besser, wenn er tot gewesen wäre wie der andere.« Sie spricht, ohne den Blick zu senken. Zu sich selbst? Zu ihrem toten Vater? Zu Gott? Auf Englisch? »Aber dass er da gelegen hat, allein auf diesem Feld …«
Mattie fühlt sich überfordert. Das Mädchen ist neunzehn. Womit beschäftigen sich andere Neunzehnjährige? Partys? Klamotten?
Plötzlich direkter Blickkontakt. »Meinst du, er hat Schmerzen gehabt?«
Soll sie lügen? Tut es dann weniger weh?
»Ich weiß es nicht«, sagt sie und macht das Licht aus. Draußen donnert es. Aber das Bild bleibt.
Nicu liegt im Feld. Er kann sich nicht bewegen. Der Morgen dämmert. Die Sonne geht auf. Die Gerste bewegt sich im Wind. Niemand kommt, um ihm zu helfen.