27. Juni 1992, Frankfurt am Main
Hessen, Deutschland

Hajo Walther, Hajo für Hans-Jürgen in diesem Fall, zog die Sonderseiten der FAZ zu Luft- und Raumfahrt aus dem vorderen Fach seines Pilotenkoffers. Auf Rechteck gefaltet, DIN A4. Schon fast zwei Wochen trug er die mit sich herum, er war und war nicht zum Lesen gekommen. Das kam eben davon, wenn man eine junge Frau hatte. Der musste man schon was bieten. Er faltete die Doppelseite auf und vertiefte sich in einen Artikel über Nutzen und Kosten der bemannten Raumfahrt. Alles wurde heute unter Gesichtspunkten der finanziellen Effizienz beurteilt, das kritisierte auch der NASA-Experte im Interview. Keiner fragte mehr nach langfristigen Perspektiven. Hajo war der Meinung, dass mit dem Kalten Krieg auch der Ehrgeiz verschwunden war, etwas zu erreichen.

Er saß wie immer direkt am Fenster des Abflugterminals, um einen guten Blick auf das Rollfeld zu haben. Draußen war es noch nicht ganz hell, eine Kabinencrew stieg gerade aus dem Bus, der Pilot vorneweg mit der attraktivsten Flugbegleiterin an seiner Seite, dahinter die anderen. Hajo versuchte die Uniformen zu erkennen, irgendwas Exotisches, vielleicht Singapur Airlines. Das strotzende Selbstbewusstsein des Kapitäns versetzte ihm einen Stich. Er hatte die Prüfung zum Piloten damals um fünf Prozent verfehlt. Stattdessen hatte man ihm eine Laufbahn im mittleren Management bei der Airline mit dem Kranich vorgeschlagen. Hajo machte das Beste draus: In der Personalabteilung hatte er einen abwechslungsreichen Alltag und immer genügend Frischfleisch vor der Nase, das es mit jedem Fotomodell aufnehmen konnte. Er war keiner, der was anbrennen ließ im Leben. Mehr als die halbe Welt hatte er gesehen, für einen Bruchteil des Linienflugpreises. Und wenn man die richtigen Fragen stellte, fand man überall Leute, die einem Jäger gegen gutes Geld die richtigen Tipps gaben. Hajo hatte die großen Fünf nicht nur mit seiner Nikon erlegt.

Am Gate erschien jetzt das Bodenpersonal, ein Mann und eine Frau. Sie scherzten, dann fiel ihr Blick auf Hajo, die Frau erstarrte. Er hob lässig die Hand. Sie zupfte unwillkürlich ihr Halstuch zurecht. Er konnte sich nicht an den Namen erinnern, auch sie hatte mit bebenden Lippen vor ihm gesessen, sein Urteil erwartend wie einen Richterspruch.

Die Sitzreihen füllten sich schnell, hauptsächlich Geschäftsleute. Hajo hatte bei der letzten Aktionärsversammlung erfahren, dass die Fluglinie ihre Kapazität auf der Strecke Frankfurt – Berlin im kommenden Jahr verdoppeln wollte. Alle waren scharf drauf, beim Goldrausch mitzumischen, die Treuhand verscherbelte ihre Betriebe im Minutentakt. Da konnte man das eine oder andere Schnäppchen machen. Hajo war das nur recht. Als Mitarbeiter hatte er schon lange ein Aktienpaket, das dieser Tage ohne sein Zutun an Wert zulegte, trotz der Krise. Und sechzehn Millionen reisewütige Ossis halfen kräftig dabei mit.

Hajo erhob sich, um wie immer als Erster an Bord zu gehen. Selbstverständlich würde er einen Platz am Notausgang mit ausreichend Beinfreiheit haben. Sein bestes Stück lag bereits sicher verpackt im Bauch des Silbervogels. Er spürte ein leichtes Kribbeln, der Reiz des Unbekannten verfehlte selten seine Wirkung. Wenn der Makler nicht zu viel versprochen hatte, erwartete ihn eine wildreiche Gegend, dünn besiedelt, kaum Kontrollen. Da mussten doch ein paar fette Abschüsse drin sein. Hajo leckte sich unwillkürlich die Lippen, nahm seine Bordkarte entgegen und zwinkerte der jungen Frau mit einem vielsagenden Blick auf ihren Kollegen zu. »Sie können es wohl kaum erwarten, was? Ein schönes Wochenende!«

Grenzfall
titlepage.xhtml
part0000.html
part0001.html
part0002.html
part0003.html
part0004.html
part0005.html
part0006_split_000.html
part0006_split_001.html
part0006_split_002.html
part0007_split_000.html
part0007_split_001.html
part0007_split_002.html
part0007_split_003.html
part0007_split_004.html
part0007_split_005.html
part0007_split_006.html
part0007_split_007.html
part0007_split_008.html
part0007_split_009.html
part0007_split_010.html
part0007_split_011.html
part0007_split_012.html
part0007_split_013.html
part0007_split_014.html
part0007_split_015.html
part0007_split_016.html
part0007_split_017.html
part0007_split_018.html
part0007_split_019.html
part0007_split_020.html
part0008_split_000.html
part0008_split_001.html
part0008_split_002.html
part0009_split_000.html
part0009_split_001.html
part0009_split_002.html
part0009_split_003.html
part0009_split_004.html
part0009_split_005.html
part0009_split_006.html
part0009_split_007.html
part0009_split_008.html
part0009_split_009.html
part0009_split_010.html
part0009_split_011.html
part0009_split_012.html
part0009_split_013.html
part0009_split_014.html
part0009_split_015.html
part0009_split_016.html
part0009_split_017.html
part0009_split_018.html
part0009_split_019.html
part0009_split_020.html
part0009_split_021.html
part0009_split_022.html
part0010_split_000.html
part0010_split_001.html
part0010_split_002.html
part0010_split_003.html
part0010_split_004.html
part0010_split_005.html
part0010_split_006.html
part0010_split_007.html
part0010_split_008.html
part0010_split_009.html
part0010_split_010.html
part0010_split_011.html
part0010_split_012.html
part0010_split_013.html
part0010_split_014.html
part0010_split_015.html
part0010_split_016.html
part0010_split_017.html
part0010_split_018.html
part0010_split_019.html
part0010_split_020.html
part0010_split_021.html
part0010_split_022.html
part0010_split_023.html
part0010_split_024.html
part0010_split_025.html
part0011_split_000.html
part0011_split_001.html
part0011_split_002.html
part0011_split_003.html
part0011_split_004.html
part0011_split_005.html
part0011_split_006.html
part0011_split_007.html
part0011_split_008.html
part0011_split_009.html
part0011_split_010.html
part0011_split_011.html
part0011_split_012.html
part0012.html
part0013.html
part0014.html
part0015_split_000.html
part0015_split_001.html