28. Juni 1992,
Szczecin
Westpommern, Polen
Hajo hatte Kopfschmerzen, es pochte oben links über der Stirn. Dieser verfluchte Fusel. Die Straße war auf den letzten paar Kilometern etwas besser geworden, doch jedes Schild erinnerte ihn daran, dass er hier endgültig im Osten war, ellenlange Worte ohne Sinn und Zweck. Die Russen hatten nach ’45 Polen aus dem Osten hier angesiedelt, die hatten mit der deutschen Geschichte und ihren Nachbarn hinter der Grenze nichts am Hut. So sagte man jedenfalls. Etliche seiner Jagdfreunde im Rhein-Main-Gebiet stammten ursprünglich von hier, und sie wollten ihre Ländereien immer noch nicht verloren geben.
Sie waren nicht über die Autobahn nach Polen gefahren, wegen des ständigen Lkw-Staus am Grenzübergang Pomellen. Stattdessen nahm der einheimische Jagdführer direkt vom Zöllnerhof aus eine Landstraße, und sie überquerten die deutsch-polnische Grenze im kleinen Grenzverkehr. Ein paar Baracken für den Zoll, ein Schlagbaum, mehr gab es nicht zu sehen an der europäischen Außengrenze. Dahinter standen bunte Buden, an denen wie auf dem Jahrmarkt das Geld gewechselt wurde. Eins zu vier, das große Los für einen aus dem Westen.
Die Straße nach Stettin war ein einziger lang gestreckter Polenmarkt zu beiden Seiten der Fahrbahn. An den Tankstellen sah Hajo die Trabbis Schlange stehen. Alte Frauen boten Würste an, Gemüse, Kleidung, sogar Hunde in Käfigen meinte er im Vorbeifahren entdeckt zu haben.
Der Mann fuhr schweigend, er sprach nicht viel, sein Jagdführer. Überhaupt schienen sie es hier mit dem Reden nicht so zu haben. Hajo sah weiter aus dem Fenster. Die Marktatmosphäre wich langsam einem städtischeren Ambiente. Doch nicht einmal das hob seine Laune. Erst der verpatzte Abschuss, so was war ihm seit Jahren nicht passiert. Dabei hatte sich das Tier geradezu präsentiert, er war sich seiner Sache einfach zu sicher gewesen. Dann der Fusel, und jetzt saß er hier mit diesem Stasi-Typen in Polen fest. Der konnte ja sonst was mit ihm anstellen, und seine undurchsichtigen Kumpane auf dem Zöllnerhof genauso.
Der Jeep hielt auf einem bewachten Parkplatz, und sie stiegen aus. »Hier ist die Altstadt.«
Hajo nickte. Baufällige Hansehäuschen lehnten in der staubigen Hitze aneinander, wie um sich gegenseitig aufrecht zu halten. »Gibt’s hier auch ein Restaurant, wo man gepflegt essen und trinken kann?« Es sollte gar nicht überheblich klingen. Aber der Ossi kriegte es natürlich in den falschen Hals. Warum waren die bloß so empfindlich? Am Ende hatten sie doch zu viel kommunistische Propaganda intus.
»Es gibt das neue Radisson Hotel hinter dem Bahnhof«, lautete die beleidigte Antwort.
Hajos Laune stieg um einige Grad. Radisson war ein guter Name, da konnte man nicht viel falsch machen. »Na, dann lass uns doch dahin spazieren, und ich spendiere ein Gläschen zum Wachwerden«, sagte er. Und ging einfach los in die Richtung, in die der Mann gewiesen hatte. Wie hieß er noch? Jahn? Der würde schon hinterherkommen. Zum ersten Mal hatte Hajo wieder das Gefühl, die Situation unter Kontrolle zu haben.