30. April 1992, Hansestadt
Kollwitz
Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland
Adriana Voinescu, dreizehn Jahre und dreihundertzweiunddreißig Tage alt, allein in der Küche im Erdgeschoss des achtgeschossigen Wohnblocks. Langer Jeansrock, noch aus Rumänien, so was trug hier keiner. Lieblings-T-Shirt in Pink mit Surfer, aus der Kleiderspende. Da kriegten sie gute Sachen her, aber es war gefährlich. So wie mit der hellblauen Cordjacke letztes Jahr.
»Die gehört Katrin!«, hatte Nils in der Schule gesagt, gleich an ihrem zweiten Tag. Katrin war Nils’ ältere Schwester, das wusste sie nicht. Er nahm ihr die Jacke weg und hielt sie hoch. »Die klauen alles, die Asylanten!« Adriana verstand kein Wort. An dem Tag ging sie frierend nach Hause.
Eine Woche später passte sie ihn in der großen Pause ab und knallte ihn mit dem Kopf gegen die Wand der Jungs-Toilette. Nicht zu doll, damit es keine blauen Flecken gab. Wie man das macht, wusste sie vom Zugucken auf den Straßen von Turnu Severin. Dann ließ sie ihn kurz ihr Messer sehen, das sie im rechten Stiefel trug. Niemand wusste davon, nicht mal Vater. Gerade der nicht.
»Noch Fragen?« Das sagten die hier immer. Nils hatte keine Fragen mehr. Seitdem ließen sie sie in Ruhe, alle, als hätte sie eine Krankheit. Hatte sie ja auch. Asylant hieß die Krankheit. Na und?
Sonst war die Küche um diese Zeit voll, zwanzig, dreißig Frauen gleichzeitig an vier Herden. Ein ewiger Kampf um eine Flamme für den Topf, selbst die Gerüche stritten um den Platz in der Nase. Heute waren alle unterwegs, im Kaufmarkt gab es Ausverkauf.
Adriana stand am Fenster und stellte zufrieden fest, dass sie wieder ein Stück gewachsen war. Sie konnte jetzt, wenn sie sich auf die Zehenspitzen stellte, das Meer sehen. Es war grün, mit weißen Schaumkronen. Die Gitterstäbe vor dem Fenster machten daraus ein Muster mit vielen kleinen Kästchen. Ein weißer Punkt, noch einer, noch einer – Vier gewinnt. Das Spiel gab es im Aufenthaltsraum. Sie spielte es abends mit den Brüdern.
Adriana störten die Gitter nicht. Eines Morgens waren sie da, rundum im Erdgeschoss. Vater sagte, das sei zu ihrem Schutz. Sie sah, dass er wütend war und versuchte, es vor ihnen geheim zu halten. Also stellte sie keine Fragen. Das tat sie nie.
Noch ein Stück weiter nach links, die Wange an die Scheibe gepresst, und sie sah über den Spitzen der krummen Nadelbäume die Kuppel des Atomkraftwerks. Sie leuchtete in der Sonne. Aus der Schule wusste sie, dass das Kraftwerk nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Länder abgeschaltet worden war. Die Arbeiter mussten aus Fichtenberg weg und sich woanders Arbeit suchen. Wie Vater aus Turnu Severin gekommen war, weil er hier arbeiten wollte. Die einen gingen, die anderen kamen.
Adriana schreckte vom Fenster zurück: Roch es angebrannt? Drei Schritte zum Ofen. Nicht stolpern, Stiefeletten aus Wildleder in Rosa, mit Absätzen. Jetzt schon die Lieblingsstiefel für diesen Sommer. Adriana trug immer Stiefel. Es fühlte sich einfach besser an. Sie griff nach dem Topflappen, riss die Klappe auf und zog die Kastenform heraus.
Ein bisschen Qualm, doch das Brot war in Ordnung. Sie betrachtete es kritisch: ihr erstes eigenes Brot. Goldgelb, perfekt. Adriana spürte die Hitze kaum, die aus dem Ofen kam, ihr Gesicht traf und sich mit der stickigen Luft in der Küche vermischte. Ungeduldig wischte sie sich mit einem Zipfel ihres T-Shirts ein paar Schweißtropfen von der Stirn. Drei Schritte zurück zum Fenster. Sie riss es mit voller Kraft auf und schrie gegen den Wind an: »Vater, kommt ihr zum Essen!«
Nach der Mutter brauchte sie nicht zu rufen. Seit sie in Deutschland waren, stand sie oft gar nicht mehr auf. »Ich bin so traurig, so traurig, mein Mädchen«, flüsterte sie und zog Adriana auf das Bett herunter in ihre Arme. Adriana mochte das nicht. Sie konnte die Angst riechen, die unter der Bettdecke lauerte wie ein krankes Tier.
Mit ihren Brüdern Ştefan und Claudiu schwappte eine Welle von Lärm in den Essraum neben der Küche. Ştefan war vier und Claudiu drei, sie hatten ihre eigene Welt. Für die beiden war es unwichtig, ob sie in Rumänien oder in Deutschland lebten. Im Doppelpack konnte ihnen niemand was anhaben. Mit den Jungs kam Vater herein, sie hatten Fußball gespielt. Zum Schluss die Großmutter mit ihrem Gehwagen. Die Räder quietschten, sie brauchte jeden Tag länger für den kurzen Weg vom Aufenthaltsraum über den Flur. Nur den Kopf hielt sie oben, Augen wie ein alter Habicht. Ein Blick auf das Brot, dann zu Adriana.
Sie versuchte das Lächeln der erwachsenen Frauen nachzuahmen, streckte Vater das Brot entgegen. Er riss ein Stück ab, steckte es in den Mund und kaute mit geschlossenen Augen. Sie folgte jeder Regung in seinem Gesicht. Er öffnete die Augen, strich ihr über den Kopf und nickte.
Nachts, in ihrem Bett, konnte sie immer noch seine Hand auf ihrem Haar fühlen. Adriana lächelte und lauschte auf den Atem der Großmutter. Die alte Frau wachte oft auf und rang nach Luft. Dann musste sie ihr helfen, sich aufzusetzen, und ihr den Inhalator bringen, den sie in der Apotheke bekommen hatten. Doch heute konnte sie den Atem nicht richtig hören. Laute Stimmen kamen aus dem Flur. Sie schlich zur Tür und öffnete sie einen Spalt weit.
Das flackernde Licht der kaputten Neonröhre blendete sie. Weiter hinten sah sie Arno, der mit einem Papier vor den Männern herumfuchtelte. Arno war eines Tages mit seiner Gitarre im Heim aufgetaucht. Vater mochte ihn, also mochte Adriana ihn auch. Arno baute hässliche Sachen aus Holz, die keiner brauchte, deswegen standen sie im Garten vom Pfarrhaus herum. Arnos Frau, die Pastorin, war auch da. Adriana schob sich vorsichtig durch die Tür. Dan, einer ihrer Nachbarn aus Turnu Severin, hatte einen Baseballschläger in der Hand. Ihr Vater griff nach seinem Arm und redete leise auf ihn ein.
Plötzlich knallte es hinter ihr. Im selben Moment spürte Adriana die Nachtluft an ihren nackten Beinen. Dann ein Prickeln, als die Splitter ins Zimmer regneten. Sie achtete nicht auf das Glas, rannte zur Großmutter, die im Bett unter dem Fenster schlief. Ihre Augen waren aufgerissen, Keuchen drang aus ihrer Brust. Adriana packte die alte Frau und schüttelte sie, bis Vaters Hände sie von hinten wegzogen.
Dann war sie allein. Sie saß auf dem Bett und hielt in der Hand den quadratischen Stein, der durchs Fenster geflogen war. Er war in Papier eingewickelt. Ohne nachzudenken packte sie ihn wie ein Geschenk vorsichtig aus und strich den Zettel glatt.
Einwohner von
Kollwitz-Fichtenberg!
Was wird aus unserem Viertel?
Was wird aus unserem Leben?
Wir wollen keine abstoßende Asylantensiedlung werden, sondern ein
Stadtteil, wie es unserer Nähe zur Küste entspricht.
Wenn mit Asylanten leben, dann mit welchen, die gewillt sind, sich
unseren Lebensnormen anzupassen, und die nicht rumänische
SCHEINASYLANTENZIGEUNER sind!
Adriana ließ den Stein und den Zettel fallen, als wären sie vergiftet. Jetzt, nach einem Jahr in der Schule, verstand sie jedes Wort. ›Adriana macht gute Fortschritte‹, stand in ihrem Zeugnis.
Sie legte sich aufs Bett. Es roch nach der Großmutter. Durchs offene Fenster hörte sie Stimmen. Deutsche Stimmen. Autos wurden angelassen und fuhren weg. Rumänisch, die Stimme ihres Vaters. Eine Sirene, weit weg, dann näher.
Eine Melodie bahnte sich den Weg in ihren Kopf. Sie hielt sich die Ohren zu und versuchte statt der Sirene das Lied zu hören. Der letzte Film, damals in Rumänien. Als Vater noch Arbeit hatte und sie fast jeden Sonntag in das Kino gingen, das die indischen Filme spielte. Alle aus ihrem Viertel gingen dahin. Es waren ihre Filme. Adriana schloss die Augen und summte sich in den Schlaf. Aamir Khan. Dil.
O Priya, Priya | Oh Priya, Priya |
Kyon bhoolaa diyaa | Warum hast du mich vergessen? |
Bewafaa yaa berahum | Treulose, Herzlose |
Kyaa kahoo tuze sanam | Wie soll ich dich nennen, meine Liebste |
Toone dil todaa hai | Du brichst mir das Herz |
Bhool kyaa huyee ye bataa jaa | Was habe ich falsch gemacht? |
O piyaa, piyaa | Oh Liebster, Liebster |
Main teree piayaa | Ich bin doch deine Geliebte |
Aasooon ko pee gayee | Meine Tränen schluckte ich |
Jaane kaise jee gayee | Ich weiß nicht, wie ich es überstand |
Kyaa hain meree majabooree | Wie kann ich dir sagen, was mir zustieß, |
Kaise main bataaoo huaa kyaa | Wie kann ich erklären, was geschah? |
O Priya, Priya | Oh Priya, Priya |
Kyon bhoolaa diyaa | Warum hast du mich vergessen? |