39
Es war wärmer geworden gegen Abend, und nun schneite es wieder heftig in dicken, weichen Flocken. Der Wind hatte sich gelegt. Die Stadt versank weiter und weiter in Schnee. Das Fehlen des gewöhnlichen Verkehrslärms an diesem Sonntag ließ, im Verein mit dem unendlichen Fallen der Flocken, eine riesige, unwirkliche Stille entstehen, so, als sei diese Stadt fast gänzlich ausgestorben, eine gewaltige Ansammlung von Häusern, Hütten, Gebäuden, Palästen, Kirchen und Lichtern, die allein deshalb hinter den Fenstern brannten, weil die Menschen durch den Tod überrascht und daran gehindert worden waren, sie zu löschen.
Der Weinhauer Ernst Seelenmacher hatte sechs Gäste in seinem kleinen Heurigen. Er trug einen grau-grünen Lodenanzug und ein weißes, am Hals offenes Hemd, wie immer. Er saß an dem Tischchen mit der Zither, und er spielte langsame, traurige Weisen. Er sang nicht an diesem Abend. Sein von Wind und Regen gegerbtes Gesicht trug einen entrückten Ausdruck. Er war mit den Gedanken weit fort. Sein Freund, der Hofrat Wolfgang Groll, hatte angerufen und gesagt, daß Manuel Aranda kommen werde: Der junge Mann befinde sich in einem gefährlichen Gemütszustand. Er habe eben zur Kenntnis nehmen müssen, daß sein Vater ein skrupelloser, verbrecherischer Mensch gewesen war.
Gegen neun Uhr war Manuel auch wirklich erschienen – in Begleitung einer jungen Frau, die gleichfalls ernst und bedrückt wirkte.
»Er hat sich von hier aus noch mit der Nichte dieser Valerie Steinfeld verabredet«, hatte Groll seinem Freund am Telefon gesagt. »Sie werden irgendwo essen, und dann will der Junge bei dir etwas trinken. Er sagte, dein Wein habe ihm damals so gut getan. Und die junge Frau erklärte, sie wolle den Abend nicht zu Hause verbringen. Sei nett zu den beiden. Paß ein bißchen auf sie auf – vor allem, daß der Junge nicht zuviel trinkt. Der braucht jetzt einen klaren Kopf. Ich würde mich wahrscheinlich vollaufen lassen, wenn ich an seiner Stelle wäre …«
Manuel Aranda und Irene Waldegg saßen allein in einem der vier kleinen Räume, die alle weiß gekalkt und durch Bogengänge miteinander verbunden waren. Ein leerer Weinheber und Gläser standen vor ihnen. Irenes Augen waren an diesem Abend sehr groß und seltsam feucht. Ihr braunes Haar glänzte im Licht. Sie trug ein graues Kostüm, einen violetten, hochgeschlossenen Pullover, und sie war etwas geschminkt. Die blassen Wangen schienen rosig, die blutleeren Lippen zinnoberrot zu sein. Die beiden Menschen saßen nebeneinander auf einer Holzbank und lauschten dem Spiel Seelenmachers.
Von Zeit zu Zeit, nach Perioden des Schweigens, begann Manuel immer wieder hektisch zu reden. Das ging seit Stunden, seit er Irene abgeholt hatte. Beim Abendessen in einem Lokal in Währing war das so gewesen, im Auto unterwegs, hier, beim Wein. Jetzt hatte Manuel sich gefangen – äußerlich. Er konnte ruhig und zusammenhängend sprechen, ohne Hysterie, ohne laut zu werden.
Ein junges, hübsches Mädchen in einem Dirndl kam, nahm den leeren Weinheber vom Tisch und stellte einen neuen hin.
»Herr Seelenmacher läßt schön grüßen«, sagte sie dazu lächelnd. »Er hat gesehen, daß Sie nichts mehr zu trinken haben.«
»Danke!« Manuel blickte durch den Bogengang in den Nebenraum. Seelenmacher nickte und lächelte. Auch Manuel nickte. Er füllte die Gläser neu und trank Seelenmacher zu. Der Weinhauer hob, ohne das Spiel zu unterbrechen, sein Glas.
Manuel sah Irene an, lange und so, als hätte er sie noch nie gesehen. Sie erwiderte seinen Blick ernst. Ihre Stimme klang unsicher, als sie sagte: »Sie fliegen also zurück. Wann …?«
»Morgen abend. 23 Uhr 40. Es gäbe die Möglichkeit, schon am Vormittag zu fliegen. Aber ich muß noch auf Cayetano warten.«
»Wer ist das?«
»Der Generaldirektor der QUIMICA ARANDA. Vertrauter und Stellvertreter meines Vaters. Ein Freund. Auch meiner. Habe ich stets geglaubt. Hoffe ich noch immer. Er hat die Leitung der Geschäfte übernommen und sich um alles gekümmert … auch um das Begräbnis meines Vaters … Ich war ja nicht da …« Manuel trank hastig. »Wir haben häufig miteinander telefoniert in den letzten Nächten. Da ist es drüben Tag … Er sagte, er werde schnellstens nach Wien kommen. Er bringt zwei unserer Anwälte mit.«
»Warum?« fragte Irene.
»Nun, ich wollte doch in Wien bleiben! Ich wollte herausfinden, warum Ihre Tante meinen Vater …« Manuel brach ab. Ein Schweigen folgte. Er sprach mühsam weiter: »Es war dringend nötig, daß ich mit Cayetano redete. Das Werk muß schließlich weiterarbeiten. Die Besitzverhältnisse müssen geklärt werden. Ich bin der Erbe. Mit den beiden Anwälten hätten wir auf der argentinischen Botschaft alles erledigen können, die Umschreibung der Fabrik auf mich, alle Formalitäten … Cayetano hätte drüben als mein Vertreter weitergearbeitet. Und ich hätte bleiben können.«
»Aber jetzt wissen Sie, was Ihr Vater getan hat, und müssen zurück.«
»Ja. Cayetano und die Anwälte landen morgen mittag in Wien. Sie werden mit mir heimfliegen. Ich will sie nicht unterwegs alarmieren. Vor allem, weil ich annehmen muß, daß Cayetano von der Geschichte wußte …« Manuel preßte beide Hände gegen den Kopf. Irene sah ihn mitleidig an. Er schien das zu fühlen, denn er ließ die Hände sinken und sagte mit Mühe: »Der Wein ist gut, nicht wahr?« Dann fragte er leise: »Darf ich … darf ich Sie nun, vor dem Abschied, Irene nennen?«
»Ja, Manuel«, sagte sie. Und hastig. »Das ist ein schönes Lied.«
Er winkte das hübsche Mädchen im Dirndl herbei.»Der Herr wünschen?«
»Dieses Lied, das Herr Seelenmacher spielt – ich habe es schon einmal hier gehört.«
Das Mädchen sagte: »Er spielt es oft, der Herr Chef. Es ist gar keine Heurigenmusik. Aber sein Lieblingslied. Von Bach, glaube ich.«
»Würden Sie ihn fragen, ob er es für uns auch singen will?«
»Gerne.« Das Mädchen ging zu Seelenmacher und sprach mit ihm. Der Weinhauer nickte herüber, zupfte ein paar Übergangsakkorde und begann die zarte, wehmütige Melodie von neuem. Nun sang er, leise und mit tiefer Stimme: »Willst du dein Herz mir schenken, so fang es heimlich an – daß unser beider Denken niemand erraten kann …«
Manuel und Irene saßen ganz still. Sie sahen sich nicht an.
Seelenmacher sang die zweite Strophe: »Die Liebe muß bei beiden allzeit verschwiegen sein. Drum schließ die größten Freuden in deinem Herzen ein …«
»Die größten Freuden«, sagte Manuel. Er starrte auf die Holzplatte des Tisches. »Die größten Freuden …«
»Es wird vorübergehen«, sagte Irene. »Alles geht vorüber. Als Valerie tot war, da dachte ich, die Welt müßte zu Ende sein. Sie ist es nicht.«
Er hob den Kopf.
»Das Geheimnis wurde verraten. Amerikaner und Russen kennen es. Genügt das nicht?«
»Sie werden dafür sorgen, daß es nicht auch noch andere Länder kennenlernen. Sie werden …«
»Jajaja«, sagte er verzweifelt. »Ich werde! Ich werde! Und was erreiche ich damit? Natürlich muß ich es tun. Sofort. Schnellstens. Der Staat muß mir helfen dabei. Er wird mir helfen. Mein Land kann es nicht riskieren, in einen Weltskandal verwickelt zu werden. Aber mein Vater war nicht allein! Die Männer in diesem geheimen Werk – ich ahne noch nicht einmal, wo es ist –, die mit ihm arbeiteten … so etwas ist immer Teamarbeit … Alle diese Männer wissen Bescheid. Was macht man mit ihnen? Kann man sie töten, damit sie auch bestimmt schweigen? Kann man sie einsperren für den Rest ihres Lebens? Man kann es nicht! Wie viele von ihnen haben wohl auch schon verraten, was sie wissen?« Er sah völlig hilflos aus. »Ich bin zu jung, Irene … zu jung für all das, was passiert … Ich bin allein … ich weiß nicht, was nun werden soll … Ich weiß nur, daß ich nach Hause muß, um zu versuchen, noch Schlimmeres zu verhindern, als mein gottverfluchter Vater schon angerichtet hat …«
Er sah aus wie ein Schüler in diesem Moment, und Irene hatte Angst, daß er in Tränen ausbrechen würde. Seine Unterlippe zitterte. Er hielt das Glas mit beiden Händen, als er trank. Auch die Hände zitterten.
Irene sagte: »Dieser Cayetano wird Ihnen helfen.«
»Und wenn nicht? Wenn er mit meinem Vater unter einer Decke gesteckt hat?«
»Das glaube ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Warum hat Ihr Vater seine Geschäfte in Wien abgewickelt?« Er starrte sie an, das Glas noch in den Händen.
»Ja, das ist richtig …«
Sie sprach schnell weiter: »Warum hat er es nicht von Buenos Aires aus erledigt? Nein! Heimlich und mit allen Vorsichtsmaßnahmen hat er es hier getan. Das muß doch einen Grund haben. Und vielleicht ist der Grund der, daß Cayetano eben nichts davon ahnte …«
»Ja, das wäre möglich. Möglich wäre es …«
»Vielleicht war Ihr Vater der einzige, der über alles Bescheid wußte. Vielleicht … Ich meine, Sie sagten doch selber, das sei immer eine Teamarbeit … Die Mitarbeiter, die Ihr Vater hatte, die kennen vielleicht jeder nur ihr Gebiet des Projekts … ein kleines Teilgebiet …«
Er wurde lebhaft.
»Dann muß ich erst recht schnellstens heim!«
»Aber Ihre Sicherheit!« Irene schrak auf. Der Gedanke war ihr plötzlich gekommen. »Wie wollen Sie sich schützen?«
»Das Material bleibt bei dem Anwalt.«
»Sie können ihn doch nicht täglich von drüben anrufen – in alle Ewigkeit!«
»Ich werde ihm vor meinem Abflug mitteilen, daß ich nicht mehr anrufe. Wenn mir etwas passiert, wird er davon erfahren. Dann ist es immer noch Zeit, das Material der Öffentlichkeit zu übergeben.«
»Und wenn er es nicht erfährt?« Nun war Irenes Stimme unruhig. »Wenn Ihnen etwas zustößt drüben … und es wird vertuscht … so geschickt, daß man hier glaubt, es ginge Ihnen gut …«
»Der Hofrat Groll meint, das ist unmöglich, weil ich mich sofort mit den Behörden in Verbindung setzen werde. Ich bleibe ja auch deshalb noch hier bis morgen nacht: Sobald Cayetano da ist, gehe ich mit ihm zur Botschaft und erstatte Strafanzeige gegen meinen Vater und das Werk. Die Botschaft muß das zur Kenntnis nehmen. Der Staat auch …« Manuels Stimme war immer leiser geworden.
»Hoffentlich«, sagte Irene, noch leiser. Sie sahen sich an.
»… daß unser beider Denken niemand erraten kann«, erklang die Stimme Ernst Seelenmachers. Er hatte das Lied ein zweites Mal gesungen, jetzt erst bemerkten sie es.