36
Der kleine Ofen im Teekammerl donnerte richtig.
»Es geht Ihrem Mann gut, Frau Steinfeld«, sagte Nora.
Valerie schloß kurz die Augen, senkte den Kopf und biß sich auf die Unterlippe. Als sie sprach, sah sie zu Boden und ihre Stimme war unsicher: »Vier Jahre … mehr als vier Jahre lang habe ich auf diese Stunde gewartet …« Sie hob den Kopf und sah ihre Besucherin mit blauen Augen an, die nun feucht und so erfüllt von Glück waren, daß Nora ganz elend wurde. »Ich danke Ihnen. Danke. Ich danke Ihnen …« Sie sagte immer wieder dasselbe. Und immer elender wurde Nora bei dem Gedanken, was sie dieser Frau noch zu berichten hatte. Ausgerechnet ich, dachte sie erbittert. Ich bin nicht geschaffen für so etwas. Zum Kotzen ist das alles. »Warum sehen Sie mich so böse an?« fragte Valerie verständnislos.
Ich lasse mich gehen, dachte Nora, zornig auf sich selber, und antwortete: »Böse? Was für ein Unsinn! Weshalb sollte ich sie böse ansehen?«
»Oder geht es Paul doch nicht gut? Ist er krank? Seine Leber! Er hat doch immer mit seiner Leber zu tun gehabt! Bitte, sagen Sie mir die Wahrheit! Ich …«
»Hören Sie auf! Sie müssen mir glauben, was ich sage. Es ist die reine Wahrheit. Wenn Sie mir nicht glauben wollen …«
»Ich will, ich will!« Valerie wischte mit staubiger Hand eine Haarsträhne fort, die in die Stirn gefallen war. »Bitte, Fräulein Hill! Sie müssen das doch verstehen: Vier Jahre habe ich nichts gehört von ihm! Keine Zeile habe ich erhalten. Beschlagnahmt, sie werden alles beschlagnahmt haben, was er schrieb.«
»Sicherlich. Mußten Sie viel durchmachen?«
»Schön war es nicht. Hausdurchsuchungen. Verhör im Hotel ›Metropol‹, bei der Gestapo. Den Paß haben sie mir weggenommen, wie der Mann damals es prophezeit hat. Und immer wieder muß ich ins ›Metropol‹ kommen, und sie stellen Fragen, Fragen … Und ich weiß keine Antwort, ehrlich nicht! Das müssen die sogar merken, und da lassen sie mich immer wieder laufen … Wirklich getan haben sie mir nichts … dem Buben auch nicht …« Valerie fragte abrupt: »Woher wissen Sie von meinem Mann und mir?«
»Ich bin … im diplomatischen Dienst … als Kurier«, antwortete Nora. »Ich fliege zwischen Lissabon und Wien hin und her.«
»Ach, so ist das.«
»So ist das. Lissabon quillt über von Menschen wie mir, Männern und Frauen aller Nationalitäten …«
»Ja, davon habe ich gehört.«
»Nun also. In Lissabon hatte ich mit einem englischen Kollegen zu tun. Wir … befreundeten uns. Da erzählte er mir, daß er gerade Ihren Mann kennengelernt hat. In London. So kam die Verbindung zustande.« Valerie nickte.
»Sie lieben diesen Engländer, nicht?«
»Ja«, sagte Nora.
»Mein Gott, und wie soll das mit Ihnen werden?«
»Wir wollen heiraten, sobald der Krieg zu Ende ist. Kann uns hier bestimmt niemand hören?«
»Kein Mensch.«
Nora sagte, für einen Moment entrückt und glücklich: »Ja, Jack und ich werden heiraten. Und in England leben. Er hat da einen alten Landgasthof geerbt. An der Küste von Sussex. In der Nähe von Hastings. Ich habe Fotos gesehen. Riesige alte Bäume rundherum, an einer Landstraße mit lauter Pappeln …« Sie unterbrach sich: »Was interessiert Sie das? Es geht um Ihren Mann!« Valeries Blicke hingen an Noras Lippen. »Er wollte Ihnen schreiben. Aber das hat mein Freund ihm ausgeredet. Es wäre zu gefährlich gewesen für mich, einen solchen Brief nach Deutschland zu schmuggeln, nicht wahr?«
»Natürlich …«
»Also bin ich der Brief Ihres Mannes. Vertrauen Sie mir?«
»Ja«, sagte Valerie und fuhr mit dem schmutzigen Handrücken über die Augen. »Ich vertraue Ihnen.«
»Gut. Ihr Mann hat eine kleine Wohnung in London. 30, Eaton Mews South. Zuerst mußte er natürlich auf die Isle of Man – wie alle Flüchtlinge. Und dann benötigte er noch die Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung. Aber die bekam er schon vor drei Jahren. Sie brauchen Leute wie ihn. Ihr Mann ist Nachrichtensprecher im Deutschen Dienst der BBC.« Valeries Gesicht wurde von einem Lächeln erhellt.
»Also doch! Also doch! Er hat es geschafft! Und ich habe seine Stimme wirklich erkannt!« Valerie preßte eine Hand an die Schläfe. »Ich wußte doch nichts von ihm. Nicht einmal, ob seine Flucht gelungen war … So entsetzlich lange wußte ich überhaupt nichts. Ich sagte mir, daß er vielleicht als Radiosprecher in London arbeitet – wenn er London erreicht hat. Aber wie sollte ich das herauskriegen? Mit dem alten Radio bei mir zu Hause kann man BBC nur am Abend empfangen. Und da geht es nicht.«
»Wegen des Jungen.« Nora nickte.
»Wegen Heinz, ja. Dann kam endlich dieser ›Minerva 405‹ auf den Markt.« Valerie wies zu dem großen Radioapparat. »Gleich habe ich einen gekauft. Und ich habe gebetet: Laß mich seine Stimme hören, lieber Gott, laß mich doch seine Stimme hören, bitte! Es dauerte ein paar Tage. Dann hörte ich eine Stimme, die klang wie seine. Je öfter ich sie hörte, um so mehr klang sie wie Pauls Stimme. Zuletzt war ich schon ganz sicher – fast. Und glücklich. So glücklich! Und dazwischen immer wieder so verzweifelt. Denn vielleicht war es doch nicht seine Stimme. Aber nun weiß ich es: Sie ist es! Sie ist es! Seine Stimme … Glauben Sie, daß ich überhaupt kaum begreife, was Paul spricht? Nur an ihn denken kann ich dann. Es ist, als ob er wieder bei mir wäre …«
Nora sagte nervös: »Er wird wieder bei Ihnen sein, Frau Steinfeld.«
»Wann?«
»Wenn wir den Krieg verloren haben.«
Valerie sank zusammen.
»Was haben Sie? Glauben sie etwa, wir gewinnen diesen Krieg?«
»Nein, natürlich nicht. Aber wie lange kann es dauern, bis wir ihn verloren haben? Immer noch siegen wir.«
»Nicht mehr überall. Und gar nicht mehr lange.«
»Und dann? Die Nazis geben doch nicht auf, solange noch ein Stein auf dem anderen steht! Ob wir es überhaupt erleben?«
»Wir werden es erleben«, sagte Nora. Jetzt hatte sie Mitleid mit der einsamen Frau. Mein Gott, dachte sie, und was erwartet dich noch, was muß ich dir noch sagen, mir graut davor, mehr und mehr. »Natürlich werden wir es erleben! Ich gehe dann nach England mit meinem Freund, und Sie leben wieder mit Ihrem Mann zusammen. Sie hatten doch eine besonders glückliche Ehe, sagte man mir.«
Valerie nickte versonnen. »Besonders glücklich, ja. Alles haben wir zusammen getan. Reisen, Theater, Kino. Nicht einmal essen ist er allein gegangen, wenn ich krank war! Dann hat er auch nicht die Köchin für mich sorgen lassen, dann kochte er selber! Gut. Das konnte er wunderbar!« Sie senkte die Stimme. »Und bis zum letzten Tag haben wir zusammen in einem Bett geschlafen. In einem Bett. All die vielen Jahre … Manchmal, nachts, da habe ich wahnsinnige Angst, daß es noch viele Jahre dauert. Dann bin ich eine alte Frau. Sie schütteln den Kopf, aber sehen Sie sich meine Augen an. Die Krähenfüße. Tränensäcke kriege ich auch schon.« Tatsächlich, dachte Nora. Da sind Fältchen und Schatten unter den Augen, und Runzeln, feine, ganz feine. Wie lange werden sie noch so fein bleiben? In dem schlechten Licht draußen habe ich es nicht gesehen. Jetzt, da diese Frau sich vor die Lampe neigt, kann ich es deutlich erkennen … Nora lachte.
»Aber das ist doch Unsinn, Frau Steinfeld! Das reden Sie sich ein! Jung und schön werden Sie aussehen, wenn Ihr Mann wiederkommt.«
»Wissen Sie, mein Paul, der hat nie eine andere angeschaut. Er hat gesagt, für ihn bin ich die Aufregendste von allen! Dabei war ich nie wirklich hübsch …«
»Sie sind schön, Frau Steinfeld«, sagte Nora, und immer größer wurde ihr Mitleid.
»Ach, hören sie auf! Er! Er hat gut ausgesehen! Was glauben Sie, was dem die Frauen nachgelaufen sind! Sein Charme! Der Mann hat einen Charme! Aber immer wollte er nur mich.« Valerie blinzelte vertraulich. »In Wirklichkeit war er bloß so verrückt nach mir, weil ich ihn so amüsiert habe. Sie glauben nicht, was er gelacht hat über mich.«
»So komisch waren Sie?«
»Nie bewußt. Aber wenn ich etwas beurteilt oder mich empört habe, wenn ich meine Ansichten sagte – Gott, hat er da immer über mich lachen können! Bis heute weiß ich nicht genau, warum.«
»Und Herr Landau gestattet, daß Sie hier London hören?«
Valerie winkte ab.
»Der stirbt immer noch jedesmal. Am liebsten möchte er mich umbringen, solche Angst hat er. Es ist doch streng verboten, und er ist in der Partei.«
»Ja, das habe ich gesehen.«
»Nur aus Angst hineingegangen. Der beste Mensch von der Welt, der Martin … der Herr Landau. Wir kennen uns so gut und so lang, darum sage ich Martin. Wir duzen uns, wenn wir allein sind.«
»Das weiß ich auch.«
»Seine Schwester, die Tilly, die würde es mir ja verbieten. Er verrät mich aber nicht! Ich höre täglich die Mittagssendungen, wissen Sie. Ich koche für ihn und mich etwas hier im Teekammerl – oft bringe ich schon Vorgekochtes mit –, und dann treibe ich ihn an, schnell, schnell, damit ich den Anfang von der Sendung nicht verpasse. Über Mittag haben wir doch gesperrt. Ich räume rasch ab und spüle die Teller, und dann nehme ich das da« – Valerie wies zu einer großen, bunten Wolldecke, die auf dem alten Sofa lag – »und setze mich ganz nahe an den Apparat, das da über dem Radio und über dem Kopf, und dann höre ich London … oft … so oft höre ich ihn … das letzte Mal gestern …«
»Wann?«
»Gestern. Am Abend. Ich bleibe auch häufig nach Geschäftsschluß da, wenn er schon weg ist, der Martin. Noch klarer wird der Empfang dann. Meine glücklichste Stunde ist das … Ich sitze da, und seine Stimme ist bei mir … ganz nah … ganz nah …« Valeries Gesicht war plötzlich so weich und schutzlos, daß es Nora das Herz zusammenkrampfte. »Sogar an Sonntagen und an Feiertagen, zu Weihnachten und zu Ostern komme ich her. Heinz ist doch noch so jung, den will ich nicht belasten … Wenn ich zu Mittag London höre, läuft mein armer Martin immer weg, rund um den Häuserblock. Er will nicht dabei sein! Solche Angst hat er!«
»Gestern erst …« wiederholte Nora Hill. Sie dachte: Diese Frau glaubt, gestern die Stimme ihres Mannes gehört zu haben. Und dabei sagte mir Jack noch, daß Paul Steinfeld in dieser Woche Urlaub hat. Es kann also nicht seine Stimme gewesen sein.
»Sie wird natürlich glauben, genau die Stimme ihres Mannes zu erkennen«, hatte Jack Cardiff zu Nora gesagt. »Steinfeld nimmt das auch an. Laß sie in dem Glauben, er wird sie glücklich machen. Auch wenn sie sich irrt und irrt und irrt.«
»Aber wieso?«
»Nach dem, was Steinfeld mir erzählt hat«, hatte Jack Cardiff gesagt, »werden die Sprecher zwar nicht auf einen bestimmten Tonfall gedrillt; aber es ist ganz so wie in einer großen Familie: Die Stimmen werden einander ähnlich. Es hat sich ein ganz bestimmter Rhythmus entwickelt. Sogar die Sprecher drüben selbst können nicht mehr genau sagen, wer da gerade redet. Stimmen kann man ohnedies schwer unterscheiden – und dann noch am Radio, mit den Störsendern dazwischen. Vielleicht hatte Frau Steinfeld auch schon manchmal Zweifel …«
Ja, Zweifel hatte diese Frau manchmal gehabt – früher. Doch nun hörte sie die Stimme des geliebten Mannes, sie war da ganz sicher. Es bedeutete all ihr Glück, dieser Stimme zu lauschen.
Das also ist das Glück, dachte Nora Hill. So kann man es auch definieren. Was für eine dreckige Welt. Und ich muß es ihr jetzt sagen. Schnell jetzt! »Ich habe eine Nachricht für Sie, Frau Steinfeld.«
»Eine Nachricht?«
»Als sie damals Ihren Mann zum Westbahnhof brachten, da war dort furchtbarer Lärm, nicht wahr?«
»Ja …«
»Eine Hitler-Rede. Ihr Mann schrie Ihnen noch etwas zu, aber Sie verstanden es nicht.«
»Woher wissen Sie … ach so.«
»Ihr Mann hat es meinem Freund erzählt. Der hat es mir erzählt. Ihr Mann schrie: ›Du mußt alles tun, alles, alles, alles, um den Buben zu schützen!‹«
Valerie war hochgefahren. Ihr Gesicht wurde grau. Die Augen flackerten wieder.
»Schützen? Ist er denn in Gefahr, der Heinz?«
»Ja«, sagte Nora. Ich muß nun brutal sein, dachte sie. Ich kann es ihr nicht ersparen. Deshalb bin ich ja hier. Ich kann nicht ewig darum herumreden.
»Hören Sie, Fräulein Hill, der Bub ist alles, was ich habe! Wenn ihm etwas zustößt …«
»Es stößt ihm nichts zu.«
»Aber Sie sagen doch, er ist in Gefahr!«
»In Gefahr, ja, das ist er. Aber es wird ihm nicht das geringste passieren, wenn Sie genau tun, was ich empfehle – was Ihr Mann empfiehlt. Es handelt sich um eine reine Vorsichtsmaßnahme.«
»Was heißt Vorsichtsmaßnahme?«
Nora sagte leise: »Frau Steinfeld, Ihr Mann ist doch Jude. Sie sind Arierin, wie man so sagt. Also ist Ihr Sohn ein sogenannter Mischling Ersten Grades.« Plötzlich trat Schweiß auf ihre Stirn.
Jemand stand da draußen in dem dunklen Magazinraum.
Er war ganz leise durch die Finsternis herangekommen und stand erst seit ein paar Sekunden da. Nora hatte ein überfeines Gehör. Sie vernahm kurzen, hastigen Atem.
Von mir aus gesehen, steht er auf der rechten Seite des Eingangs in diese Kammer, also auf jener, die zu den Magazinen führt. Martin Landau ist im Laden, und der Laden liegt links. Ich habe den Eingang die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen. Landau ist nicht vorübergegangen. Also kann es nicht Landau sein, der da jetzt auf der rechten, auf der Magazinseite steht und uns belauscht. Eine Falle, dachte Nora. Ich bin in eine Falle gelaufen. Wer immer da steht – er hat zumindest die letzten Sätze gehört, die wir gesprochen haben. Das genügt vollkommen. Es ist nicht die erste Falle, in die ich im Laufe meiner Karriere getappt bin, dachte Nora Hill – all dies und das Folgende in Sekundenschnelle –, aber dadurch wird die Sache nicht angenehmer. Nur bekannter. Ich weiß, wie ich mich zu verhalten habe. Sie bringen einem das Verhalten für solche Situationen bei der Ausbildung bei. In der Praxis erweist sich die Ausbildung dann meistens als kindisch. Man lernt nur durch Erfahrung. Wenn man nichts lernt, stirbt man. Ich lebe noch. Ich habe nicht die Absicht, mein Leben zu verlieren für die Familie Steinfeld, für irgendwen.
Noras Stimmung schlug wieder um. Vorbei das Mitleid, die Sentimentalität. Eiskalt dachte und handelte sie nun. Sie hatte sich geräuschlos erhoben, sobald sie die ersten Atemzüge von draußen vernahm. Valerie starrte sie an. Was ist, wenn dieser Herr Landau mich in seiner maßlosen Angst verraten hat? dachte Nora. Wenn er die Polizei verständigt hat, die Gestapo? Wenn da draußen, rechts von mir, einen Meter entfernt, so ein Saukerl steht, entschlossen, mich zu verhaften, die Steinfeld zu verhaften. Ach was, die Steinfeld – mich!
Mich wird man nicht verhaften, wenn es mir gelingt, hier herauszukommen. Nur bis zu meinem Chef Carl Flemming muß ich es schaffen. Der ist wirklich ein hohes Tier, seine Schwester hat den Adjutanten Kaltenbrunners geheiratet, und Kaltenbrunner hat Flemming gern. Wenn ich bis zu Flemming komme, diesem elenden Hund, dann bin ich vor der Gestapo sicher. Ich werde rnatürlich niemals zugeben, daß ich in dieser Buchhandlung war, und wenn die Steinfeld und Herr Landau und der Gestapokerl es hundertmal beschwören. Wenn es ein Dutzend Gestaposchweine beschwört!
Sie kommen doch immer in Paaren! Wo ist der andere? Wo? Ich erledige auch ihn noch. Und ich war nie hier, Schluß! Ob Flemming mir glaubt oder nicht, ist egal. Er wird mich auf alle Fälle schützen, denn er ist geil auf mich, Gott sei Dank so geil, daß er mich nicht verlieren möchte, um nichts in der Welt. Ich habe mir schon immer die richtigen Herren ausgesucht in diesem Dritten Reich. Sollte Herr Landau unschuldig sein und der Gestapokerl (oder die Gestapokerle, mein Gott!) mich verfolgt haben und heimlich durch einen Hintereingang in den Laden gekommen sein, dann ist das Pech für die Steinfeld und Herrn Landau. Ich könnte ihnen dann nicht helfen, und ich würde ihnen nicht helfen.
Das alles dachte Nora Hill, während sie ihren letzten Satz sprach. Sie öffnete dabei ihre Krokodilledertasche und entnahm ihr Jacks Pistole. Valerie Steinfeld sah sie entsetzt an, aber sie sagte kein Wort. Alles, was geschah, geschah viele Male schneller, als man es berichten kann. Die Pistole, die Jack Cardiff Nora mitgab, war eine automatische Smith & Wesson, Baujahr 1940, Kaliber 6.35. Nora fühlte sich plötzlich unendlich froh darüber, daß Jack ihr die Waffe praktisch aufgezwungen hatte. Diese Pistole sollte sie Flemming zeigen, ja, und nun mußte sie es sogar tun! Denn sie brachte nicht nur falsche Nachrichten, wie schon seit langem, sondern auch die frohe, wenn auch erlogene Botschaft, daß vermutlich ein britischer Agent mit ihr in Verbindung treten werde. Das hatte sich Jack Cardiff ausgedacht. Zu meinem Schutz, dachte Nora, die Pistole am Lauf packend, weil er mich liebt und so besorgt um mich ist.
»Du begibst dich zusätzlich in Gefahr mit dieser Mission«, hatte Jack gesagt, »und dann wollte ich schon längst, daß du eine Pistole in Deutschland hast.«
Die Walther, die man Nora jedesmal zur Verfügung stellte, wenn sie in Lissabon ankam, mußte sie vor dem Abflug (Munition war gezählt) beim Militärattaché der deutschen Botschaft wieder abliefern. Die Nazis wünschten nicht, daß außer ihnen Menschen mit Pistolen in Deutschland herumliefen.
Jack Cardiff hatte eine Lösung gefunden.
»Flemming erzählst du, der Agent sei ein Verräter, der ein britisches Netz auffliegen lassen will. Er wird dich irgendwann, an einem bestimmten Wochentag, in einem bestimmten Restaurant oder Café ansprechen. Suche dir Tag und Ort aus. Der Mann wird ein Erkennungszeichen verlangen. Und selber eines vorweisen. Dieselbe Waffe, dasselbe Kaliber, dasselbe Baujahr, die gleiche Seriennummer im Einschlagstempel und ein volles Magazin. Er wird freilich nie auftauchen, dieser Mann. Aber so hast du das Recht und sogar die Pflicht, in Deutschland eine Waffe bei dir zu tragen – ständig!«
Ich werde den Kerl da vor dem Durchbruch natürlich nicht erschießen, dachte Nora Hill. Nur niederschlagen. Mit der flachen Seite des Griffs. So wird man später nie beweisen können, daß meine Pistole das Werkzeug war.
Damit duckte sie sich und sprang vor. Valerie hatte das Licht draußen abgedreht, als sie in den kleinen Raum getreten waren. Infolgedessen konnte Nora nun kaum etwas erkennen – nur einen hellen Fleck, das Gesicht dieses Kerls.
Der weiße Fleck war das einzige, was Nora einen Anhalt bot. Sie ließ die Hand, die den Lauf von Jack Cardiffs Pistole hielt, vorsausen und schlug so fest zu, wie sie nur konnte, oben und seitlich. Sie wollte eine Stirnseite treffen. Die Stirnseiten waren das sicherste, das hatte sie schon zweimal festgestellt. Jetzt stellte sie es zum drittenmal fest. Der weiße Fleck rutschte weg. Etwas gurgelte. Stürzte. Der Kerl. Jemand schrie auf. Valerie Steinfeld. Danach war es totenstill.
Nora Hill rannte los, durch den Gang raste sie in den Verkaufsraum hinaus, die Pistole dabei noch in der Hand, eines zweiten Gegners gewärtig. Sie rannte so schnell, daß sie gegen den alten Bären beim Eingang stieß. Er schwankte. Nora Hill hatte die Tür erreicht und riß die Klinke herunter. Die Tür ließ sich nicht öffnen, so sehr Nora Hill an ihr rüttelte. Die Tür war versperrt.