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Die Hausmeisterin des Gebäudes Kohlmarkt 11 wohnte im Erdgeschoß des Nebengebäudes. Sie war für zwei Häuser zuständig. Am Montag, dem 27. Januar 1969, pünktlich um 21 Uhr, schaltete sie die Flurbeleuchtung beider Gebäude um, so daß die Lampen in den Gängen und Stockwerken nun nicht mehr ständig brannten, sondern nur jeweils sechzig Sekunden, wenn jemand auf einen Lichtschalter drückte. Danach verschloß die Hausmeisterin das alte, grüne Eingangstor von Nummer 11 und ging schnell durch das Schneetreiben in das Nachbarhaus zurück, dessen Eingang sie gleichfalls absperrte. Die ältere Frau begab sich bald zu Bett. Zehn Minuten nach 21 Uhr standen zwei Männer vor der Eingangstür zur Kanzlei der Rechtsanwälte Dr. Rudolf Stein und Dr. Heinrich Weber. Sie trugen Filzpantoffel. Ihre Schuhe steckten in den Manteltaschen. Es waren Jean Mercier und der große, schlanke Anton Sirus, das legendäre Vorbild aller Schränker Europas. Der Mann mit dem mächtigen Kopf, den scharfen Augen des Chirurgen, den schönen, kraftvollen Händen des Operateurs, dieser leidenschaftliche Liebhaber und Sammler französischer Impressionisten, hatte die letzten beiden Stunden neben Mercier auf dem zugigen, eiskalten Dachboden des Hauses gewartet, in dem nur Büros untergebracht waren. Das Schloß der Tür zum Dachboden hatte der ›Professor‹ mit zwei Handbewegungen geöffnet. Der Mann aus Bremen war mit der Mittagsmaschine gelandet und hatte den Nachmittag in einem Hinterzimmer des Reisebüros ›Bon Voyage‹ verbracht. Getrennt waren sie dann hierhergekommen. Bei der bevorstehenden Unternehmung mußte Mercier dabei sein, denn nur er konnte feststellen, was in dem großen Tresor des Dr. Stein für ihn und seine Auftraggeber von Wert war.

Zitternd vor Kälte hielt er eine Taschenlampe, deren Lichtkreis auf das Yale-Schloß der Kanzleitür gerichtet war. Der ›Professor‹ arbeitete mit zwei Drähten, die Mercier an jene erinnerten, welche man durch Rouladen steckt. Die Drähte hatten allerdings an ihren vorderen Enden spitze Zacken und Verformungen. Sirus schien ein Mann ohne Nerven zu sein. Neben sich, auf dem Boden, hatte er eine große Koffertasche gestellt, wie sie früher von Ärzten benutzt wurde. Nach sechs Minuten schnappte das Yale-Schloß auf. Für das Türschloß brauchte der Professor vier Minuten. Sie traten in die dunkle Kanzlei ein.

Anton Sirus schloß die Tür und versperrte die Schlösser wieder. Er versicherte sich, daß die Vorhänge in sämtlichen Büros ordentlich geschlossen waren – lautlos huschte er von Zimmer zu Zimmer –, dann erklomm er im Sekretariat einen Stuhl und öffnete ein schwarzes Kästchen, das hinter einem Aktenschrank verborgen war. Der Professor hatte es trotzdem sofort gefunden. Mit wenigen Handgriffen schaltete er eine Alarmanlage aus. Nun ging er neben Mercier in das Büro Dr. Steins, wo er die starke Schreibtischlampe anknipste und so drehte, daß ihr Licht die matt glänzende Riesenwand des Tresors traf.

Die Männer zogen ihre Mäntel aus, Sirus auch seine Jacke. In dem Büro war es sehr warm. Mercier setzte sich auf einen Sessel vor dem Schreibtisch. Er trug, wie Sirus, Handschuhe aus schwarzem Trauerflor. Der Professor hatte ihm ein Paar mitgebracht.

»So gibt es keine Fingerabdrücke. Ich verwende nur Trauerflor, niemals Gummi. Man hat bei Gummi nicht das nötige Gefühl in den Fingern.«

Mercier sah schweigend zu, wie der große Mann nun seine Koffertasche öffnete. Zuoberst lag ein blütenweißer Chirurgenmantel, den der Professor schnell über den Kopf streifte. Zwei Gürtelschnüre band er im Rücken zusammen. Er reichte Mercier einige Gazetücher.

»Sie werden mir von Zeit zu Zeit die Stirn abtupfen müssen.«

Mercier nickte nur. Er erinnerte sich, daß der Professor darum gebeten hatte, nicht unnötig angesprochen zu werden. Der Franzose, der das Haus seit Tagen beobachten ließ, wußte, daß es hier keine Männer der Wach- und Schließgesellschaft gab. Die Fenster von Steins Büro gingen zum Kohlmarkt hinaus …

Nun holte der Professor ein Stethoskop aus der großen Tasche und hängte es sich um den Hals. Danach breitete er auf dem Schreibtisch ein Tuch aus und legte auf dieses mindestens drei Dutzend seltsam geformte, dünne und lange Stahlwerkzeuge. Das Ganze sah aus wie ein chirurgisches Besteck. Der Professor nahm eine kleine weiße Kappe und setzte sie auf.

»Hält den Schweiß der Kopfhaut zurück«, sagte Sirus. Er trat nun vor, betrachtete den Tresor brütend wie einen Kranken auf dem Operationstisch, wandte sich noch einmal um und nahm einen großen Notizblock und einen Bleistift aus der Tasche.

Die Aufgabe, vor der Anton Sirus stand, war gewaltig – Mercier hatte eine kurze Erklärung des Professors erhalten, während sie auf dem eisigen Dachboden warteten, er wußte ungefähr Bescheid.

Die Tresorwand wies etwa in Brusthöhe ein verchromtes Steuerrad auf. Über diesem befand sich, in Schulterhöhe, ein konischer Knopf von knapp zehn Zentimetern Durchmesser, der etwa ebenso hoch und an der Seitenwand mit Rillen überzogen war. Rund um diesen abgeschnittenen Kegel war an der Tresorwand ein Dreiviertelkreis aus Silber angebracht. Das Viertel links oben fehlte. In das silberne Band waren Zahlen eingraviert. Die erste Zahl lautete 00. Dann folgten neun eingeritzte Striche und danach die Zahl 10. Das ging so weiter rund um den Konus bis zu der Zahl 90. Sie befand sich am Ende des Dreiviertelkreises. Der Konus besaß einen aufgemalten kurzen schwarzen Strich. Er befand sich ganz oben am Rande des Knopfes.

»Nullnull, zehn, zwanzig, dreißig und so weiter sind die Einrastpunkte für die Zahlen null, eins, zwei, drei und so weiter«, hatte der Professor erklärt. »Der Konus läßt sich nach rechts und nach links drehen, normal und um etwa fünf Millimeter herausgezogen. Die siebenstellige Kombination ist nun in unregelmäßiger Folge zusammengesetzt aus Zahlen, die man durch Rechtsdrehen, Linksdrehen, normales Drehen oder gezogenes Drehen des Konus einrasten lassen muß. Kommt man dabei nur einen einzigen Strich über die Zahlenmarke hinaus, dann sperrt sich augenblicklich das Gesamtsystem, und alle Arbeit war umsonst.«

»Was macht man dann?« hatte Mercier gefragt.

»Dann muß man die Sperre wieder lösen.«

»Wie?«

»Indem man alle Bewegungen nach rechts und nach links, normal oder gezogen, die man ausgeführt hat, umgekehrt vornimmt, bis das Schloß im Leerlauf steht.«

»Das bedeutet, man muß sich jede einzelne Drehung genau merken!«

»Darum ist es nötig, sich dauernd Notizen zu machen. Harmlos, wenn man gleich zu Beginn einen Fehler begeht. Aber bei der sechsten oder der siebenten Zahl bedeutet das schon arges Pech.«

»O Gott.«

»Sagen Sie noch nicht zu früh o Gott! Das ist erst der Anfang. Hat man tatsächlich endlich die ganze siebenstellige Kombination, dann öffnen sich nur die kleinen Türchen an der Tresorwand, sie lassen sich beiseiteschwenken …«

Je ein solches Türchen aus Stahl, einen Zentimeter hoch, drei Zentimeter breit und acht Zentimeter lang, befand sich über dem Konus und unter dem chromblitzenden Steuerrad.

»Hinter diesen Türchen erblicken wir dann zweimal zwei Öffnungen, die in den Tresor hineinführen. In je einer Öffnung steckt ein Arretierschlüssel – zwanzig Zentimeter lang etwa. Diese Arretierschlüssel lassen sich, wenn die Kombination eingestellt ist, herausziehen. Nun muß man den Tresor oben und unten aber auch noch aufsperren, die beiden Schlösser oben und unten öffnen.«

»Wie?«

»Das werden Sie schon sehen«, hatte der Professor gesagt. »Sind auch sie entsichert, dann erst kann man das Steuerrad bewegen! Durch eine Drehung heben sich armdicke Stahlbolzen, die in der Decke, in der Seite und im Boden der Tresorwand stecken, aus ihren Vertiefungen und gleiten in die Panzerplatte zurück. Danach zieht man an dem Steuerrad, und der Tresor öffnet sich.«

»Und Sie glauben … Ich meine … Das trauen Sie sich wirklich zu?«

Anton Sirus hatte Mercier nur stumm angesehen ..

Nun steckte er sich die geschwungenen Bügel des Stethoskops in beide Ohren und preßte den Gummipfropf am Ende des langen roten Schlauches dicht neben den Konus und den Zahlenkreis. Er sagte dabei: »Von jetzt an muß ich um absolute Ruhe bitten.«

Mercier saß reglos. Er wagte kaum zu atmen.

Durch das Stethoskop, dachte er, hört der Professor nun, viele Male verstärkt, wie ein Arzt, der das Herz oder die Lunge eines Patienten untersucht, alle Geräusche in der Tresorwand, besonders bei dem Kombinationsschloß. Dem Einrasten gehen gewiß solche Geräusche voraus. Sirus kennt die Bedeutung jedes einzelnen. Er weiß, wann er auf dem rechten Weg ist, wann Gefahr droht, wann er weiterdrehen kann, wann er schnellstens zurückdrehen muß. Mercier starrte zu dem Professor hinüber.

Dessen edle, schlanke Finger hatten begonnen, den Konus zu bewegen, Millimeter um Millimeter gezogen, normal, stockend, pausierend, vor und zurück, je nach den Geräuschen zweifellos, die er über das Stethoskop empfing, Mercier fühlte, wie seine Hände feucht wurden. Der Professor arbeitete methodisch. Er hatte zuerst den Konus nach rechts gedreht, also zur 10 und endlich bis zur 20. Nun drehte er nach links, zur 90 und zur 80. Immer wieder zögerte er, immer wieder korrigierte er. Um Bruchteile von Millimetern bewegte der Konus sich unter seinen Fingern.

Ich hoffe, ich halte das durch, dachte Mercier.

Der Professor arbeitete ohne Anzeichen von Nervosität. Nach 26 Minuten drehte er sich plötzlich um und nahm die Bügel des Stethoskops aus den Ohren.

»Eingerastet«, sagte er gleichmütig.

»Die erste Zahl?« Mercier sprang auf.

»Nicht so laut! Es ist erst die erste Zahl, ja. Die 8.«

»Eine von sieben Zahlen haben wir schon!« Mercier war plötzlich außer sich. »Mit etwas Glück …«

Der Professor hob eine Hand. Die Knöchel der anderen klopften auf den Schreibtisch.

»Sagen Sie dieses Wort nie wieder«, sprach er streng.

»Verzeihung«, stammelte Mercier.

»Die erste Zahl findet jeder Idiot.« Der Professor hob die Brauen über den klaren Augen des scharfgeschnittenen Gesichts. »Wissen Sie, was die erste Zahl ist?«

»Was?«

»Der Eingang in das Labyrinth, sonst nichts.« Sirus nickte versonnen. »Nun sind wir im Irrgarten.« Er trat an den Schreibtisch, und in einer eigenen Kurzschrift hielt er auf dem Block fest, mit welchen Bewegungen des Konus er zu der ersten richtigen Zahl gekommen war. Danach wandte er sich wieder dem Tresor zu. Seine Finger ergriffen neuerdings den Einstellknopf und begannen ihn zu bewegen, Millimeter um Millimeter …

Und Jimmy ging zum Regenbogen
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