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»… quia descendi de caelo, non ut faciliam voluntatem meam …« erklang die Stimme des alten Priesters in der Katharinenkapelle des kalten, dunklen Stephansdomes. Süßlich duftete Weihrauch, aufreizend Nora Hills Parfüm. Sie hatte Valerie Steinfeld alles erzählt, was Jack Cardiff ihr aufgetragen hatte; gehetzt erzählt, so kurz und komprimiert wie möglich. Auch eine dunkle Kirche war kein sicherer Ort. Nun sah sie die Frau an ihrer Seite an, und das Gefühl der Abneigung bei der ersten Begegnung überkam sie wieder angesichts dieses zusammengesunkenen Menschenbündels, das da vor sich hinstarrte, reglos.
»Und der Anwalt, zu dem Sie gehen sollen, heißt Forster. Otto Forster. Seine Kanzlei hat er in der Rotenturmstraße.«
Keine Antwort.
»Frau Steinfeld!«
Keine Antwort.
Nora stieß Valerie an.
Langsam hob diese den Kopf. Sie schien plötzlich um Jahre gealtert. Aber nun hatte Nora keine Zeit mehr für Mitgefühl, selbst wenn sie es verspürt hätte. Ihr Blick war auf Valeries Armbanduhr gefallen. 9 Uhr 40. Sie mußte zu Carl Flemming in dessen Büro Am Hof. Das wurde sonst lebensgefährlich für sie.
»Haben Sie alles verstanden?« flüsterte Nora gereizt.
Valerie nickte.
»Auch den Namen des Anwalts?«
»Doktor Otto Forster … Rotenturmstraße.«
»Und Sie werden hingehen?«
Schweigen.
»Hören Sie, das alles ist kein Spaß. Auch für mich nicht …«
»Das weiß ich! Und ich danke Ihnen. Aber können Sie mich nicht verstehen? Das kam wie ein Blitz … wie ein Erdbeben …«
»… ut omne, quod dedit mihi …«
»Woher weiß Paul denn von solchen Prozessen, wenn ich nichts davon weiß?«
»Ich wußte auch nichts davon. Er ist besser informiert als wir. Meinen Sie, er würde das leichtfertig von Ihnen verlangen? Haben Sie vergessen, daß er auf den Listen der Nazis stand und ihnen entkommen ist? Haben Sie vergessen, was Sie selbst durchmachen mußten deswegen? Auf welche Mischlinge wird man zu allererst losgehen? Warum glauben Sie, drängt Ihr Mann so?«
»Mein Gott, können Sie das denn nicht verstehen? Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. Sie kommen und sagen mir, ich soll einen Prozeß führen …«
»Ihr Mann sagt das. Ihr Mann bittet Sie darum. Ihr Mann rechnet fest damit, daß Sie tun, worum er Sie bittet.«
»Ach, aber er sitzt draußen, wir sitzen hier … Wenn es das Falsche ist, was ich tue … wenn ich den Heinz damit erst recht ins Unglück stürze … Ein so braver Bub ist das … nichts Unrechtes tut er …«
»Was das den Nazis egal ist!«
Wenn ich ein Wort, ein einziges Wort nur verstehen könnte, dachte der Mann im blauen Mantel, mit dem blauen Homburg in den Händen, der im Schatten des Baugerüstes stand.
»Sehen Sie mich nicht so böse an! Bitte, Fräulein! Ich …« Valerie rang nach Atem. »Ich muß es mir doch wenigstens überlegen … und mit dem Martin darüber reden … Es ist doch nichts passiert bisher, weil wir so ruhig und demütig waren …«
Nora Hill wollte aufstehen. Ich kann nicht mehr, dachte sie. Ich muß hier weg. Ich mag diese Frau nicht mehr sehen. Soll sie tun, was sie will. Mein Auftrag ist erledigt.
Sie fühlte, wie Valerie ihren Arm mit beiden Händen umklammerte und festhielt.
»Nicht … gehen Sie nicht so … Wenn Sie den Buben hätten … würden Sie da bedenkenlos zu diesem Doktor Forster laufen?«
»… qui videt Filium et credit in eum …«
»Überlegen Sie sich meinetwegen alles. Tun Sie es. Tun Sie es nicht. Es ist mir egal. Hören Sie, egal ist es mir!« zischte Nora Hill die graugesichtige Frau an und versuchte, sich freizumachen von dem eisernen Klammergriff der fremden Hände.
»Das ist doch ungeheuerlich … das ist doch … ja unmenschlich ist das, was Sie von mir verlangen … Ich soll hingehen und sagen … und es beschwören … und andere sollen es beschwören … und ich habe doch immer nur ihn geliebt, immer nur meinen Paul … Er ist der Vater von Heinz!«
»Leise, verflucht!«
»Natürlich ist er das«, flüsterte Valerie erstickt. »Ich habe meinen Mann nie betrogen … Wir haben uns geliebt … und da soll ich sagen, ich und Martin …«
Mit aller Kraft gelang es Nora, sich zu befreien.
»Lassen Sie mich durch. Ich gehe.«
»Aber wann kommen Sie wieder?«
»Überhaupt nicht. In sechs Wochen fliege ich nach Lissabon zurück. Vorher rufe ich an. Ich stelle die Fragen. Sie sagen nur ja oder nein.« Damit stand Nora auf, schob grob Valeries Beine beiseite und trat aus der Bankreihe. Sie sank leicht in die Knie, bekreuzigte sich und ging schnell zum Ausgang.
Valerie sah ihr nach. Dann holte sie mühsam Atem und blickte nach vorn, in das milde Licht der Kerzen auf dem Altar. Nichts regte sich mehr in ihrem Gesicht, es war wie aus Stein gehauen.
Auch über dich werde ich bald mehr wissen, dachte der Mann mit dem Homburg, der sie genau betrachtete. Dann machte er, daß er aus der Kirche kam. Er hatte es jetzt so eilig wie Nora Hill.
Valerie Steinfeld sah aus, als sei sie soeben gestorben.