47
Irene Waldegg kam aus dem Büro zurückgeeilt. Sie hielt einen Yale-Schlüssel in der Hand und sperrte fahrig die Eingangstür der Apotheke auf. An Manuels Seite hastete sie ins Freie, hinaus in die Kälte. Die Straße lag verlassen, erhellt von den Lampen des neuen Klinikums. An den Straßenrändern parkten viele Wagen, in der Nähe Manuels blauer Mercedes. »Ist er nur ohnmächtig oder …« Manuel, der sich über den Reglosen im Schnee neigte, sprach den Satz nicht zu Ende, denn der Mann sprang plötzlich auf und rannte so schnell er konnte in die Apotheke hinein.
Manuel hatte ihn wiedererkannt. Es war jener Mann, der ihn bei Nora Hill angeredet hatte und verstummt war, als die Chefin herankam. »Das ist ja unglaublich!« Irene lief in den Laden zurück.
»Halt!« rief Manuel. Aber es war schon zu spät. Er sah, wie Irene plötzlich beide Arme hob. Er stürzte ihr nach. Als Silhouette vor der offenen Tür zum Büro stehend, sagte der Mann, der sich in den Schnee gelegt hatte, fließend deutsch, aber mit schwerem slawischen Akzent: »Sie auch, Herr Aranda! Arme hoch, los!« Er hielt einen Revolver in der Hand und kam plötzlich heran. Irene wich zurück. Manuel hob die Arme. Im Moment war da nichts zu machen. Der Eindringling warf die Eingangstür zu, sperrte ab und winkte mit der Waffe.
»Ins Büro!«
Er trieb Irene und Manuel vor sich her. Nun sahen sie ihn genau – die große, hagere Gestalt, die bleiche Haut, die hohen slawischen Backenknochen und den kleinen Schnurrbart. Das schwarze Haar des Mannes glänzte im Licht. Seine Smokingfliege saß schief, der Mantel war voller Schnee und Schmutz.
»Stehenbleiben!« Der Albaner tastete schnell über Manuels Anzug. Er suchte nach einer Waffe und fand keine. Zögernd sah er Irene an. »Wo ist Ihre Pistole? Erzählen Sie keine Märchen. Sie haben eine, wenn Sie Nachtdienst machen. Also?«
»In dem Schränkchen neben dem Schreibtisch«, sagte Irene. »In der obersten Lade.« Sie starrte den Mann entsetzt an, während der schon die bezeichnete Schublade aufriß. Was er sah, stellte ihn zufrieden. »Setzen Sie sich an den Schreibtisch. Beide. Hände auf die Tischplatte!« Er winkte mit dem Revolver. Sie folgten ihm. Er drehte einen Stuhl um und setzte sich ebenfalls, die Ellbogen auf der Rückenlehne, die Waffe im Anschlag. »Ich tue Ihnen nichts, Ehrenwort. Ich muß nur vorsichtig sein. Versuchen Sie also keine Dummheiten.«
»Was wollen Sie?« fragte Irene. Ihre Stimme schwankte.
»Ich muß mit Herrn Aranda sprechen. Herr Aranda kennt mich schon.« Der Albaner verneigte sich leicht im Sitzen. »Ich bitte um Verzeihung für mein Benehmen, Fräulein Waldegg. Ich heiße Zagon, Enver Zagon.«
»Was fällt Ihnen ein, Herr Zagon? Was soll das Klingeln und das Liegen im Schnee, als wären Sie tot?«
»Hätten Sie sonst die Eingangstür aufgesperrt, Fräulein Waldegg? Sehen Sie! Kein Apotheker wird nachts die Tür für einen Fremden öffnen. Und ich mußte hereinkommen, unter allen Umständen. Im übrigen komme ich als Freund.«
»Dann stecken Sie erst einmal die Kanone weg«, sagte Manuel böse.
Zagon überlegte, danach ließ er den Revolver in eine Manteltasche gleiten.
»Was wollen Sie?« schrie Irene plötzlich wild.
»Ich will Herrn Aranda helfen, daß weiß er schon. Nicht wahr, ich sagte es Ihnen bei Frau Hill.«
»Ja. Sie wissen etwas über meinen Vater.«
Enver Zagon nickte.
»Alles.«
»Was alles?«
»Weiß ich. Damit Sie Vertrauen zu mir fassen, muß ich noch etwas erklären: Albanien führt einen erbitterten Kampf gegen die verbrecherische imperialistisch-revisionistische Verräterclique in der Sowjetunion, die alle Ziele des Marxismus-Leninismus verrät. Unsere Verbündeten sind die heldenmütigen Söhne der Volksrepublik China. Die Welt ist aufgeteilt zwischen Washington und Moskau. Nun …«
»Hören Sie, es ist fast zwei Uhr früh. Können Sie uns nicht mit diesem Gesabber verschonen, Herr Zagon?«
»Das ist kein Gesabber! Das ist eine Sache von Tod oder Leben. Die imperialistisch-revisionistische Renegatenclique in der Sowjetunion und die kapitalistisch-reaktionären Kriegsverbrecher und Arbeiterausbeuter in Amerika haben sich zusammengesetzt und Verträge und Abkommen geschlossen. Die beiden Supermächte verfahren mit allen anderen Völkern ganz nach ihrem Belieben. Sie müssen dabei nur eine Bedingung beachten – sich vorher immer heimlich miteinander abzustimmen.«
»Aber was hat das mit meinem Vater zu tun?« fragte Manuel wütend. »Sofort. Manche Illusionisten meinen nun, daß diese Zweiteilung und Bevormundung der Welt Frieden und Ruhe garantieren. Sehen Sie Vietnam! Sehen Sie die Tschechoslowakei! Ruhe? Höchstens Totenruhe wie hier in Wien. Wie im Falle Ihres Vaters.« Enver Zagon zerrte am Kragen seines Smokinghemds. »Auch hier haben Amerikaner und Sowjets zusammengearbeitet. Auf das Innigste. Sie wissen, was sie von Ihrem Vater gemeinsam erwarben, ich muß es nicht erwähnen …« Ich wünschte, du würdest es erwähnen, dachte Manuel. »… und ich will es auch nicht, denn ich weiß nicht, wie weit diese Dame eingeweiht ist.«
»Vollkommen«, sagte Manuel.
»Trotzdem. Ich ziehe es vor, die Sache nicht beim Namen zu nennen. Sie wissen ja, wovon ich spreche.« Zagons Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Oder wissen Sie es etwa nicht?«
Manuel erschrak und hoffte, daß man es nicht bemerkte. Ich muß dieses Theater mitspielen, dachte er und sagte: »Natürlich weiß ich es.«
»Gut. Sie haben die Dokumente Ihres Vaters gelesen. Kam Ihnen nicht das kalte Grauen, als Sie erkannten – entschuldigen Sie, wenn ich so spreche, aber Sie werden meine Erregung begreifen, Sie müssen selber genauso erregt sein –, was Ihr gewissenloser, skrupelloser, verbrecherischer, ja, verbrecherischer Vater mit Amerikanern und Sowjets für ein Geschäft abgeschlossen hat?«
Irenes Augen waren hinter der dunklen Brille erschrocken auf Manuel gerichtet. Der würgte, nickte und schwieg. Wenn ich eine Ahnung hätte, wovon dieser Mann redet, dachte er. Auch Groll hatte schon so ähnlich gesprochen – nicht derart wüst. Was hat mein Vater getan? Was hat mein Vater getan?
»Und es ist typisch, absolut typisch, daß er mit Amerikanern und Sowjets abschloß. Darauf beruht die Kumpanei dieser beiden Totengräber unserer Welt. Das Gleichgewicht des Schreckens zwischen ihnen muß gewahrt bleiben, immer, auf allen Gebieten. Warum sagen Sie nichts?«
»Ich höre Ihnen zu.«
»Sie finden keine Worte, das ist es! Sie sind erschüttert und entsetzt, ich kann das gut verstehen. Wenn Sie, Herr Aranda, dieses Verbrechen hinnehmen, wenn Sie es tolerieren, wenn Sie resignieren, wenn Sie aus Angst schweigen, dann sind Sie ein genauso großer Schuft wie Ihr Vater! Ein größerer noch! Unterbrechen Sie mich nicht! Ihr Vater hat bewußt Böses getan. Das ist schlimm. Sie wissen, daß er es tat. Wenn Sie nicht alles daransetzen, um gegen dieses Böse zu kämpfen, sind Sie schlimmer als er!«
Eine Pause folgte.
»Aber was hat Ihr Vater denn getan?« fragte Irene.
»Ah!« Zagon fuhr triumphierend auf, bevor Manuel antworten konnte. »Sie haben es ihr nicht gesagt! Sehr gut. Und sehr gut auch meine Vorsicht. Sie sind also schon in sich gegangen. Sie sind also auch wie wir der Meinung, daß Ihr Vater seinen Tod hier in Wien mehr als verdient hat!« Verzeih mir, Vater, verzeih mir, dachte Manuel und nickte.
»Auch dieser Tod war typisch, nicht wahr? Man hat ihn gebraucht, man hat ihn beseitigt, bevor er auch noch die dritte Nation bedienen konnte, mit der er verhandelte. Sie wissen, welche …«
»Frankreich …«
»Richtig.«
»Und Amerikaner und Sowjets haben ihn deshalb …«
»… liquidieren lassen, natürlich. Der übliche Vorgang. Sie sehen, wie diese Gangstermächte arbeiten. Skrupel kennen sie nicht!«
Irene sagte zornig: »Wenn Sie behaupten, daß meine Tante Herrn Arandas Vater im Auftrag der Amerikaner und Sowjets …«
»Nicht. Nicht. Sie sind nicht informiert. Sie sollen es auch nicht sein. So leben Sie sicherer.« Zagon sah Manuel an. »Wo sind die Dokumente?«
»In einem Tresor. Bestens verwahrt.«
»Ausgezeichnet. Damit haben Sie diese beiden Verbrecherstaaten praktisch in der Hand. Damit haben Sie die einmalige Chance, ihnen die Masken von den Fratzen zu reißen.«
»Wie?«
»Indem Sie mit uns zusammenarbeiten.«
»Wer ist uns?«
»Die Albanische Volksrepublik und die Volksrepublik China. Wir beschützen Sie …«
»Das können Sie doch gar nicht.«
»Und ob wir das können! Sie sagen zu, wir holen die Dokumente unter stärkster Bewachung – in ein paar Stunden sind wir mit dem Flugzeug in Tirana. Und von Tirana aus geben Sie alles, was in Wien geschehen ist, und alle Originaldokumente über Radio und Television und durch die Presse der Weltöffentlichkeit bekannt! Es passiert Ihnen nichts, das garantieren wir! Die Völker werden sich voll Wut und Entsetzen gegen diese Beherrscher der Erde …«
Das Telefon läutete.
Irene machte eine Bewegung.
»Lassen Sie es läuten!«
»Aber das kann ich nicht! Das darf ich nicht! Ich habe Nachtdienst. Ich mache mich strafbar, wenn ich mich nicht melde. Vielleicht ist das ein Arzt … Vielleicht braucht jemand ganz dringend ein Medikament, das ich vorbereiten muß …«
»Sie lassen den Hörer auf der Gabel! Verflucht, dann machen Sie sich eben strafbar! Hier geht es um ganz andere Dinge. Ein Arzt! Und wenn das Amerikaner sind oder Russen, die mich suchen?«
»Und wenn es Ihre eigenen Leute sind, die eine wichtige Botschaft für Sie haben?« fragte Manuel.
Zagon zögerte.
»Gut«, sagte er zuletzt. »Heben Sie ab.«
Irene meldete sich. Gleich darauf gab sie den Hörer Zagon. »Für Sie.« Der Albaner lauschte. Dann redete er schnell und abgehackt in seiner Muttersprache. Nach kurzer Zeit schon warf er den Hörer in die Gabel und sprang auf. Nun hielt er wieder den Revolver in der Hand.
»Ich hatte recht!« Zagon rang nach Atem. »Amerikaner und Sowjets! Und Franzosen! Alle hinter mir her! Alle schon draußen eingetroffen, sagen meine Leute …« Er eilte in den milchig erhellten Verkaufsraum und preßte sich an die Wand neben der Eingangstür. So sah er hinaus. Er bemerkte, daß Manuel hinter ihn trat. »Vorsicht! Bleiben Sie stehen! Da … da … und da drüben … ich kenne ihre verfluchten Wagen! Vier sind es! Und mein Wagen steht auf der Rückseite des Blocks. Ich soll sofort verschwinden … Aber hier komme ich nicht hinaus!« Er lief in das Büro zurück, gefolgt von Manuel. »Geben Sie mir den Schlüssel zum Hinterausgang!« rief Zagon.
»Es gibt keinen Hinterausgang«, sagte Irene ruhig.
»Natürlich gibt es einen! Drüben, am Ende Ihres Labors! Erzählen Sie mir nichts! Zwei unserer Leute haben ihn gesehen … sie kamen als Lieferanten …«
»Wann?«
»Als der Fall akut wurde. Am Tag, nachdem Ihre Tante den Doktor Aranda vergiftete. Da sahen die beiden sich hier um. Ein Hinterausgang ist da, er führt zum Hof. Drüben liegt eine Autowerkstatt. Dort schlage ich ein paar Fenster ein und komme zu meinem Wagen.«
»Der Hinterausgang ist zugemauert worden«, sagte Irene.
»Was?« Zagons Gesicht wurde grau. »Wann? Warum?«
»In den letzten Tagen. Der Hausbesitzer baut dort Garagen.«
»Was ist mit den Fenstern zum Hof?«
»Alle vergittert«, sagte Irene.
»Zum Teufel … Was mache ich jetzt?«
»Das hätten Sie sich früher überlegen sollen«, sagte Manuel laut und wütend. Was er sich über seinen Vater hatte anhören müssen, war sehr viel für ihn gewesen, besonders, weil er nach allem, was er wußte, die Behauptung des Albaners nicht mehr als bloße Rederei abtun konnte.
»Ich habe es mir überlegt!« Zagon hob den Kopf. »Ich kannte das Risiko. Ich habe es in Kauf genommen und alles so geschickt wie möglich angefangen.«
»Nicht geschickt genug«, sagte Manuel. »Was ist denn mit Ihren Leuten? Können die Ihnen nicht helfen?«
»Da sind auch welche draußen, natürlich. Aber was habe ich davon? Was habe ich von einer Schießerei? Sobald ich aus der Tür trete, geht es los. Und bevor jemand anderer getroffen wird, bin ich längst tot …«
»Bleiben Sie hier«, sagte Manuel. »Mir tut man nichts, dafür ist gesorgt. Wo ich bin, da sind auch Sie in Sicherheit.«
»Bin ich nicht! Ihnen wird man nichts tun … aber mir …«
»Beruhigen Sie sich«, sagte Manuel. »Was kann man Ihnen hier denn schon tun?«
»Das werden Sie gleich erleben. Das kann jede Minute losgehen.«
»Sie meinen eine Schießerei?«
»Was dachten Sie? Die kommen hier herein! Und wie! Die ganze Tür besteht aus Glas. Ein, zwei Schuß, und sie sind im Laden! Und noch ein, zwei Schuß, und ich bin erledigt!«
»Langsam, langsam«, sagte Irene. »Wien ist nicht Chicago.«
»Nein, nicht? Warten Sie doch ab!« Zagons Hand, die den Revolver hielt, zitterte plötzlich.
»Aber das ist doch Unsinn!« Irene regte sich auf. »Mitten in der Stadt! Wir sind ein neutrales Land.« Zagon lachte böse. »Wenn das wirklich so aussieht, dann gibt es nur eines – Polizei muß her!« Irene griff nach dem Telefon. Zagon stieß sie gegen eine Wand zurück.
»Kommt nicht in Frage!«
»Keine Polizei?«
Der Albaner sagte grimmig: »Was wollen Sie denn der erzählen?«
»Die Wahrheit natürlich!«
»Kennen Sie die österreichische Polizei? Die machen sich doch sofort in die Hosen! Die kommen, wenn sie überhaupt kommen, zu spät, oder sie fangen es so an, daß mich die Hunde doch erwischen. Ich bin ja nur ein kleiner Scheißalbaner für die!«
Manuel dachte an alles, was der Hofrat Groll ihm erklärt hatte. »Sie haben recht«, sagte er.
»Ich habe …« Der Albaner sah ihn verblüfft an.
»Recht«, sagte Manuel. »So geht es auch nicht.«
»Dann gibt es doch nur eines: Die Dokumente!« rief Zagon. »Was ist mit denen?«
»Wo sind sie?«
»Bei einem Anwalt.«
»Rufen Sie ihn an! Er muß die Dokumente in die albanische Botschaft schaffen! Sofort … jetzt, nachts … Er tut doch, was Sie sagen, wie? Er muß es tun!«
»Sie sind ja verrückt! Dann haben wir alle keinen Schutz mehr.«
»Aber mein Tod hätte Sinn! Die Welt würde …«
»Hören Sie auf«, sagte Manuel. »Sie machen mich krank.« Er holte ein kleines Notizbuch aus der Tasche und blätterte.
»Was wollen Sie?«
»Telefonieren.«
»Mit wem?«
»Doch mit der Polizei«, sagte Manuel. Im nächsten Moment preßte sich der Lauf des Revolvers gegen seinen Magen.