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»Ich glaube Ihnen kein Wort«, sagte Dr. Karl Friedjung mit böser, kalter Stimme. Er saß hinter einem großen Arbeitstisch in seinem Empfangszimmer im ersten Stock der Staatsschule für Chemie auf der Hohen Warte. Der Novembertag war trüb, es regnete in dichten, heftigen Schlieren. Wind trug sie wie Schleier vor sich her. »Kein einziges Wort glaube ich Ihnen, Frau Steinfeld, das wollen wir gleich einmal festhalten, ja?«
Valerie biß sich auf die Lippe. Sie saß dem Direktor der Anstalt gegenüber auf einem unbequemen, harten Stuhl. Neben ihr saß der große, schlanke Dr. Forster. Valerie trug ein blaues, zweiteiliges Kleid mit Faltenrock, die Männer trugen zweireihige Anzüge mit den damals modernen, besonders breiten, wattierten Schultern. Friedjungs Empfangszimmer war groß und spartanisch eingerichtet – kein Teppich, billige Möbel aus hellem Holz, Bücherwände, Aktenschränke. Durch ein mächtiges Fenster blickte man auf den verlassenen Sportplatz, der zum großen Teil unter Wasser stand. Die Bäume hatten das letzte Laub verloren, ihr Holz glänzte schwarz. Eine Tür des Raums war halb geöffnet. Man sah in Friedjungs privates Laboratorium.
»Aber ich sage die Wahrheit! Herr Direktor, ich …«
Friedjung winkte verächtlich ab.
»Lügen! Nichts als Lügen. Wenn ich gewußt hätte, daß Sie mir mit so etwas kommen, hätte ich Sie überhaupt nicht empfangen!« Sein schmales Gesicht war blaß und wutverzerrt.
Warum ist dieser Mann derartig wütend? überlegte Forster, während er, an seinem rechten Ohr zupfend, ruhig einwarf: »Sie hätten uns empfangen müssen, Herr Direktor.«
»Meinen Sie!«
»Ich bin überzeugt davon. Wir haben in dieser Angelegenheit nämlich auch bereits den Herrn Gauleiter aufgesucht. Er empfing uns ohne weiteres. Und ohne eine derartige Reaktion, Herr Direktor.«
»Sie waren beim Gauleiter …«
»Gewiß.« Dreckskerl, verfluchter, dachte Forster. Nazischwein, elendes. Er lächelte höflich. »Es gehört zu meinen Pflichten, den Herrn Gauleiter und Sie persönlich davon zu verständigen, daß ich in meiner Eigenschaft als Rechtsfreund der Frau Steinfeld beim Landgericht Wien Klagebegehren des Inhalts eingebracht habe, daß Heinz Steinfeld nicht jüdischer Mischling Ersten Grades ist, sondern von durchwegs arischen Elternteilen abstammt. Die Klage hat die Nummer 25 Cg 4/42.«
»Die Nummer interessiert mich nicht! Das ist doch alles ein einziger jüdischer Dreh!«
Forster stand auf, er sagte: »Herr Direktor, ich bin zugelassener Anwalt. Ich bin Arier wie Sie. Sie werden sich für diese letzten Worte entschuldigen, oder ich werde eine Beleidigungsklage gegen Sie erheben.« Das wirkte. Friedjung verzog das Gesicht zu einem häßlichen Grinsen. »War nicht so gemeint. Also gut, Herr Doktor, ich entschuldige mich bei Ihnen, ja? Bei Ihnen! Und nun setzen Sie sich wieder.«
Forster setzte sich wortlos.
Eine Klingel schrillte draußen im Haus. Gleich darauf flogen Türen auf, und viele jugendliche Stimmen erklangen. Man hörte Schritte, Gelächter, Geschrei. Eine Pause hatte gerade begonnen.
Valerie sagte mit fester Stimme: »Der Herr Gauleiter hat uns zugesichert, daß, solange dieser Prozeß läuft, keinerlei Schritte gegen meinen Sohn unternommen werden. Das sollen wir auch Ihnen mitteilen.«
Friedjung ballte die Fäuste auf der Tischplatte. Er schien – Valerie berichtete dem nicht anwesenden Martin Landau später, was sich in der Staatsschule für Chemie ereignet hatte – kaum fähig, seine Erregung zu beherrschen.
Ist das nur ein Choleriker? dachte Forster unruhig. Oder was regt diesen Mann so auf, wenn Valerie Steinfeld spricht, wenn er sie bloß ansieht? Sind die beiden schon einmal aneinandergeraten? Gibt es da ein Zerwürfnis zwischen ihnen? Forster nahm sich vor, seine Mandantin danach zu fragen.
Friedjung sagte, jetzt mit gepreßter Stimme: »Keinerlei Schritte, ja? Gut. Sehr gut. Ausgezeichnet. Hervorragend ausgedacht.«
»Herr Direktor, bitte!« Überwertigkeitskomplexe, dachte Forster. Der Lump. Der Supermensch. Herrenrasse. So sieht das aus. »Es ist genau, wie Frau Steinfeld sagt. Jedes Verfahren gegen Heinz ruht bis zum Abschluß des Prozesses.«
Draußen, auf den Gängen, lachten Jungen laut.
»Wie lange wird der Prozeß dauern?«
»Das ist völlig unbestimmt. Vielleicht lange …«
»Ah, ja?«
»… vielleicht ist er schon sehr bald beendet. In einem für Heinz positiven Sinn, der die Wahrheit ein für allemal festlegt.«
»Welche Wahrheit?«
»Daß er Arier ist.« Forster und Valerie waren in den letzten drei Wochen häufig zusammengewesen, sie hatten alle Einzelheiten genau durchgesprochen, gemeinsam das Klagebegehren aufgesetzt, und Valerie befand sich in einem Zustand, den man fast manisch-depressiv nennen konnte: Einmal war sie euphorisch und sah alles in glücklicher Weise sich lösen, gleich darauf befiel sie Angst, und sie hatte furchtbare Träume. Immer wieder aber war es in diesen Wochen Forster gewesen, der ihr neuen Mut gegeben hatte.
»Arier!« schrie Friedjung plötzlich los, so heftig, saß selbst Forster zusammenfuhr. »Ich will Ihnen mal was sagen, Frau Steinfeld! Ihr Sohn ist kein Arier! Ihr Sohn ist ein jüdischer Mischling!«
»Herr Direktor, zum letztenmal …« rief Forster.
»Ach, Sie! Sie sollten sich schämen, so etwas zu verteidigen! Meinetwegen beschweren Sie sich doch beim Gauleiter! Er kennt mich!« Friedjung schrie weiter, über den Schreibtisch geneigt, Valerie direkt ins Gesicht: »Ich kann nicht verhindern, daß jetzt gemauschelt und das Recht verdreht werden wird. Nein, das kann ich nicht! Aber eines kann ich, denn hier bin ich der Herr, Frau Steinfeld, ja? Nehmen Sie gefälligst zur Kenntnis: Was sich Ihr Sohn erlaubt hat, das ist unverzeihlich, ja? Das vergebe ich ihm nie! Die Würde dieses Hauses verbietet es.« Leise wurde die Stimme, noch weiter neigte Friedjung sich über den Tisch. »Sie führen also jetzt einen Abstammungsprozeß, ja? Wir werden sehen, was dabei herauskommt. Es hängt natürlich auch vom Zufall ab, ja, und von dem Glück, das Sie bei diesem Lügenwerk haben …«
»Herr Direktor!« Forster sprang wieder auf.
»… und ob Sie eine gute Lügnerin sind, ja, oder eine schlechte, ja, und ob man Ihnen Ihre Lügen glaubt!« (Warum ist dieser Mann nur so erregt, so außer sich? grübelte Forster): »Ihnen sage ich, Frau Steinfeld: Der Judenbengel …«
»Jetzt ist es aber genug!« schrie Forster. Vielleicht hilft schreien, dachte er. Es half nicht.
»Genug? Dann gehen Sie doch. Das hier ist mein Büro, ja? Hier sage ich, was ich denke. Und ich sage: Der Judenbengel kommt mir nicht mehr an mein Institut – und wenn Sie noch so gut lügen, und wenn Sie noch so viel Glück haben, und wenn Sie das Gericht betrügen und diesen Prozeß gewinnen! Er kommt mir nicht mehr ins Haus, haben Sie das verstanden, ja?«
Friedjung keuchte. Er sah noch bleicher aus und ließ sich in seinen Sessel fallen. Forster sah, daß Valeries Hände zitterten, daß sich ihre Lippen bläulich verfärbt hatten. Er ergriff ihren Arm.
»Kommen Sie, gnädige Frau. Jedes weitere Wort an diesen Herrn ist vergeudet. Ich werde Sie und mich vor seinem Betragen zu schützen wissen.« (Ach, wie denn? dachte Forster. Dieser Mann ist ja nicht zurechnungsfähig! Was gibt es bloß zwischen ihm und Frau Steinfeld? Auch der wildeste Nazi würde sich nicht so aufführen.) Forster warf einen Blick zurück.
Dr. Karl Friedjung saß hinter dem großen Arbeitstisch und starrte Valerie, die gleichfalls zurücksah, mit einem Ausdruck pathologischen Hasses an. Er keuchte noch immer. Sein Mund war halb geöffnet. Und seine Hände waren so fest geballt, daß die Knöchel weiß unter der Haut hervortraten.
Im Vorzimmer, wo zwei Sekretärinnen auf ihren Maschinen eifrig tippten, half Forster Valerie in den Mantel. Er zog seinen an, nahm die Regenschirme und seinen Hut, grüßte kurz und verließ mit Valerie den Raum.
Die Gänge des Hauses und die breite Treppe waren erfüllt von plaudernden, rufenden und fröhlich herumrennenden Jungen in weißen Mänteln. Es roch nach Chemikalien im ganzen Institut. Vor dem Eingang blieb Forster stehen. Während er seinen Schirm aufspannte, fragte er: »Haben Sie eine Erklärung für dieses wahnwitzige Benehmen des Herrn Friedjung, gnädige Frau?«
Valeries Gesicht war ausdruckslos.
»Keine Erklärung.«
»Aber das war doch nicht normal! Gnädige Frau!«
Valerie sagte: »Er ist eben so ein Mensch. Ein Mensch zum Fürchten. Ich … ich fürchte mich schrecklich vor ihm, Herr Doktor.«
»Aber warum?«
»Weil er so ist … weil er immer so war ..«
»Was heißt immer?«
»Seit ich ihn kenne.«
»Und seit wann kennen Sie ihn?«
»Wie meinen Sie …« Valerie fuhr herum. Ihre Augen flackerten. »Seit Heinz mit ihm zu tun hat, natürlich. Was dachten Sie?«
Zwecklos, dachte Forster. Entweder sie sagt die Wahrheit, oder sie will mir etwas verschweigen. Das wäre schlimm. Aber tun kann ich nichts dagegen. Er meinte, einen Arm um ihre Schulter legend: »Nun beruhigen Sie sich. Dieser feine Herr hat zum Glück in unserem Prozeß nicht das Geringste zu sagen. Kommen Sie, schnell, da sehe ich eine Straßenbahn!« Sie eilten beide unter ihren Schirmen durch den eisigen Regen und den böigen Wind zur nahen Haltestelle.
Warum sagt Valerie Steinfeld mir nicht die Wahrheit? grübelte Forster, während er durch Pfützen lief, die hoch aufspritzten. Warum nicht? Er war davon überzeugt, daß sie ihm etwas verschwieg, er hatte ein feines Gefühl für so etwas. Und, dachte er, sie wird mir die Wahrheit nicht gestehen, ich werde sie nie erfahren.