22
»Wo ist Friedjung?« fragte Manuel, außer Atem. Seinen Mantelkragen hochgeschlagen, stand er im Büro des Hofrats Groll, den er mit schnellem Händedruck begrüßt hatte. Ein dritter Mann, der eine Hornbrille trug und einen traurigen, mutlosen Eindruck machte, lehnte hinter Groll. Der Inspektor Ulrich Schäfer hielt Papiere in der Hand. Er hatte, bedrückt wie stets, Manuel zugenickt, als dieser hereingestürmt war.
»Sagen Sie es Herrn Aranda, Schäfer«, forderte Groll den tristen Inspektor, einen der fähigsten Männer seiner Abteilung, auf.
»Ettinghausenstraße eins«, erklärte Schäfer trübe. Er hatte am Nachmittag mit dem Chefarzt des Sanatoriums in Baden bei Wien telefoniert. Freitags fuhr er sonst immer hinaus und sah den Professor persönlich, heute war er zu beschäftigt gewesen. Die Stimme des Arztes hatte voll jener Zuversicht geklungen, die Schäfer seit einer Ewigkeit kannte und haßte: »Ihre Frau hat gerade eine schlechte Strähne. Das wird sich wieder bessern, glauben Sie mir, Herr Inspektor. Sie wissen doch, die Multiple Sklerose ist eine sehr schwere Krankheit. Wir müssen glücklich sein – es grenzt an ein Wunder! –, daß ihre Frau noch die Kraft …« Er hatte sich schnell verbessert: »… daß Ihre Frau die Kraft besitzt, so gegen sie anzukämpfen. Zwei, drei Wochen, und sie hat die Krise überwunden.«
Ja, hatte Schäfer gedacht, zwei, drei Wochen, und Carla hat die Krise überwunden und kann sich dann vielleicht nicht einmal mehr aufrichten im Bett und sitzen ohne Stütze. Er war sehr unglücklich an diesem Abend. Das alles konnte noch viele Monate, Jahre dauern, und das Geld ging zur Neige. Was geschah, wenn er den teuren Aufenthalt Carlas nicht mehr zu bezahlen vermochte?
»Ettinghausenstraße eins, wo ist das?« fragte Manuel hastig.
»Im Neunzehnten Bezirk. Beim Kaasgraben. Friedjungs Frau haben wir Ettinghausenstraße elf gefunden. Ich war dort. Ich habe mit ihr gesprochen. Eine alte Dame. Zweiundsiebzig. Aber noch ganz gesund und munter«, sagte Schäfer bitter. Carla war achtundzwanzig.
»Und Friedjung … haben Sie mit dem auch gesprochen?« Manuels Worte kamen abgehackt.
»Nein.«
»Warum nicht?«
»Weil man mit Toten nicht sprechen kann«, sagte der Hofrat Groll. »Ziehen Sie Ihren Mantel aus, Herr Aranda. Ja, werfen Sie ihn einfach auf das Sofa.« Er rauchte wieder eine Virginier.
»Er ist tot?« Manuel sank auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch.
»Ja.«
»Aber Sie sagten doch, er lebt Ettinghausenstraße eins!«
»Nein, das hat Inspektor Schäfer nicht gesagt. Er sagte, dort sei er.«
»Was heißt das?«
»Ettinghausenstraße eins ist die Adresse einer Kirche. Bei ihr liegt ein Friedhof. Wegen Überfüllung seit langem geschlossen. Nur noch in den Familiengräbern ist Platz. Die Friedjungs wohnen schon seit drei Generationen in der Ettinghausenstraße elf. Sie haben hinter der Kirche – ›Maria Schmerzen‹ heißt sie – so ein Familiengrab. Deshalb konnte Frau Friedjung ihren Mann auch dort bestatten lassen, in ihrer unmittelbaren Nähe.«
»Wann?« fragte Manuel.
»Wann, Schäfer?« fragte Groll.
Der traurige Inspektor blätterte in seinen Papieren.
»Am 27. Februar 1945«, sagte er dann.
»Am …« Manuel konnte nicht weitersprechen.
»Sie haben schon richtig gehört«, sagte Groll. Er hatte wieder seine Jacke ausgezogen, die Weste über dem Bauch geöffnet und den Krawattenknoten herabgezerrt. »Ich habe Schäfer mit der ganzen Sache beauftragt«, sagte der rundliche Hofrat und strich durch sein Silberhaar. »Ich wollte, daß Sie schnell und erschöpfend Auskunft erhalten und daß die Sache unter uns bleibt. Schäfer war im Einwohnermeldeamt – da fing er an –, er klapperte eine Masse falscher Friedjungs ab, bevor er die richtige Witwe fand, er war im Magistrat für den Neunzehnten Bezirk und ließ sich den Totenschein und die Eintragungen in den Registern zeigen, er sprach mit dem Pfarrer von ›Maria Schmerzen‹, und er hat mit einer Minox alle Daten fotografiert, überall beglaubigte Bescheinigungen verlangt – er war sehr fleißig.«
»Ich danke Ihnen«, sagte Manuel. Ihm war wirr im Kopf. Er hatte sich, bemerkte er jetzt, schon fast an den Gedanken gewöhnt, daß Friedjung vor Kriegsende nach Argentinien geflüchtet und sein Vater war. Idiot, sagte er nun zu sich selbst, idiotischer Idiot! Also doch ein reiner Spionagefall. Und Valerie Steinfeld tötete meinen Vater im Auftrag von – von wem? Amerikanern? Russen? Franzosen? Albanern? Chinesen? Ich muß achtgeben, daß ich nicht verrückt werde!
»… 25. Februar 1945, gegen Mittag, ein schwerer Angriff amerikanischer Bomber statt«, klang die Stimme Schäfers an Manuels Ohr. Er nahm sich zusammen. Der Inspektor breitete Papiere vor ihn auf den Schreibtisch, unter dessen großer Glasscheibe das plattgepreßte, grün-silberne Ginkgo-Blatt lag, wies auf mit Hand oder Maschine geschriebene Daten, Namen, Zeiten, Anmerkungen. »Besonders schwer betroffen wurden der Zweite, der Zwanzigste und der Einundzwanzigste Bezirk. Schäden entstanden auch in der Innenstadt und in den nordwestlichen Vororten. Die Staatsschule für Chemie wurde bei diesem Angriff völlig zerstört …«
Davon hatten die Barrys gesprochen, erinnerte Manuel sich.
»Es kamen fünfunddreißig Menschen ums Leben – achtundzwanzig Studenten, sieben Lehrer, darunter Karl Friedjung. Sie saßen alle in dem linken Luftschutzkeller des Gebäudes. Eine Bombe durchschlug das oberste Stockwerk, explodierte in der Mitte, und der linke Keller stürzte teilweise ein. Die Leichen wurden mühsam geborgen … Hier der Bericht der Rettungsmannschaft.«
»Das heben Sie heute noch auf?« Manuel starrte auf drei stark vergrößerte Fotografien von vergilbten Blättern.
»Es war ein öffentliches Gebäude. Da gibt es ein Archiv.« Schäfer sprach leise und beklommen. »Einhundertneunundzwanzig Lehrer und Studenten in dem andern, rechten Keller überlebten, zum Teil verletzt. Im linken Keller überlebte niemand. Die Leichen waren stark verstümmelt …«
»Wie konnte man ihre Identität nachweisen?«
»Durch ihre Personaldokumente, die sie bei sich trugen, und durch ihre Angehörigen. Hier, der polizeiliche Bericht, hier der Bericht des Notarztes. Aus dem polizeilichen Bericht geht hervor, daß Frau Friedjung ihren Mann identifizierte. Der betreffende Tote hatte auch seine Dokumente … Ich fragte Frau Friedjung heute noch einmal. Sie war und ist ihrer Sache ganz sicher. Am 27. Februar 1945 wurde ihr Mann dann hinter der Kirche ›Maria Schmerzen‹ beigesetzt.«
»Was macht Frau Friedjung jetzt?«
»Sie hat die untere Etage der Villa vermietet. Und sie erhält eine Rente. 2115 Schilling und 30 Groschen. Hier, bitte.« Ein neues Papier. »Es sagten damals übrigens auch noch andere Lehrer und Studenten aus, daß dieser Tote Karl Friedjung, ihr Direktor, sei. Es gibt keinen Zweifel. Das ist eine Aufnahme des Grabes.«
Es war eine sehr gute Aufnahme. Man konnte sogar die kleinen Inschriften auf dem großen Stein lesen. Danach wurde Karl Friedjung am 2. April 1904 geboren. Das hieß, er war bei seinem Tode einundvierzig Jahre alt gewesen …
Und mein Vater, dachte Manuel, wurde 1908 geboren. Am 25. August. Da haben wir immer seinen Geburtstag gefeiert. Natürlich, wenn er mit gefälschten Dokumenten lebte … Hör auf! sagte Manuel zu sich. Hör sofort auf! Dein Vater war nicht Friedjung, daran ist nicht zu rütteln!
»Das wäre alles, Schäfer«, sagte Groll. »Ich danke Ihnen sehr für Ihre gute Arbeit. Gehen Sie nun nach Hause, Sie werden todmüde sein. Die Papiere lassen Sie hier, damit Herr Aranda sie in Ruhe ansehen kann.«
»Jawohl, Herr Hofrat.« Schäfer verabschiedete sich, höflich und traurig.
»Ich danke Ihnen auch«, sagte Manuel.
»Es freut mich, wenn ich helfen konnte«, antwortete der Inspektor.
»Das haben Sie. Wir dürfen jetzt eine Möglichkeit in diesem Fall mit Gewißheit ausschließen«, sagte Manuel, und der Hofrat nickte.
Inspektor Ulrich Schäfer verließ das Büro seines Chefs. Mit einem Volkswagen fuhr er heim. Er wohnte im Siebenten Bezirk, in der Seidengasse, ganz nahe der Neubaugasse. Zwei Drittel aller Häuser Wiens sind älter als hundert Jahre. Das Haus, in dem Schäfer wohnte, gehörte zu diesen ehrwürdigen, aber heillos unmodernen Gebäuden. Es war wenigstens noch gut erhalten. Aber es gab keinen Lift, keine Zentralheizung. Seit langer Zeit lebte Schäfer allein hier – ohne Carla …
In dieser Nacht sperrte er die Wohnungstür auf, trat in die frostige Diele, bückte sich mechanisch nach der Post, die durch den Briefschlitz auf den Fußboden gefallen war, und sah sie durch. Rechnungen. Rechnungen. Von Fachärzten. Laboratorien für Blut- und Serumuntersuchungen, vom Sanatorium in Baden. (Er wagte gar nicht, sie gleich zu öffnen.) Der farbenprächtige Prospekt einer Gesellschaft, die höchst preiswerte Luxus-Bungalows an der Costa Brava offerierte. Ein Bankauszug. Eine Vermählungsanzeige von Leuten, an die er sich nicht erinnerte. Und ein blaues, billiges Kuvert, das weder Adresse noch Briefmarke trug. Jemand mußte es durch den Schlitz geworfen haben. Schäfer überlegte kurz, dann riß er den Umschlag auf und entfaltete das graue, dünne Blatt Papier, welches sich darin befand.
Aus lauter ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben waren diese Worte auf den Bogen geklebt worden:
sIE HaBeN SoRGeN eiNe krANke FrAU nICht
mEhR vIel gELD wAs soLL werDEn? WiR
HelFEN GErne weNN Sie unS heLFen Falls SIe
an EINzeLheiTEn interessIERT sind laSSen Sie
koMMenden DienStaG iM »KuRieR« uNtEr
»VErschIEdenes« dieSE AnzeiGE erScheiNen:
orCHesterMusiKer erTeilt GeiGen-
UnTerRicht KomMt ins HaUs
ZuschRiFten Unter ›pAGaniNi 500‹
an Die ExpediTion.
SiE hÖren dann WeiteREs von Uns WeNN sIE
PoLIZEi oder eIneN dRitTen beNachrichtigEN
werDEn SiE es sEhr bereUen.
Der Inspektor Ulrich Schäfer ging in Mantel und Hut, die Handschuhe noch an den Fingern, schnell in das große Wohnzimmer, machte Licht und hob den Hörer des Telefons, um Hofrat Groll anzurufen und ihm von dem anonymen Schreiben sofort Mitteilung zu machen. Er hatte drei Ziffern gewählt, da brach er ab, starrte den Brief an und ließ danach den Hörer langsam wieder sinken. Inspektor Schäfer stand im hellen Licht einer starken Deckenlampe reglos da und konnte, wie es schien, die Augen nicht mehr von dem Papier mit den aufgeklebten Buchstaben nehmen.