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»… und andere Schuhe und einen Koffer voll Wäsche im Wagen«, klang die Stimme aus dem Lautsprecher eines starken Senders, dessen graugestrichener Kasten auf einem langen Chromstahltisch ruhte. Dieser Sender war, wie der im Lincoln von David Parker, mit Zerhacker und Entzerrer ausgestattet.
Der silberne Tisch stand in einem Raum, in dem sich neue Kotflügel, Autotürbleche, Scheinwerfer, Blinker, Rücklichter und Scheibenwischer befanden. Der Raum lag zu ebener Erde einer sehr langen und sehr hohen Halle. Wie in einer Miniatur-City sah es aus – große und kleinere Kisten türmten sich hier zu Gebäuden. Zwischen ihnen liefen schmale Straßen. Es war das Lagerhaus einer Firma, die sich AMERICAR nannte und Ersatzteile für fast alle amerikanischen Wagentypen liefern konnte. Zwischen den Kistenschluchten mühten sich Arbeiter mit Winden und Seilzügen. Elektrokarren fuhren hin und her.
Das Lagerhaus stand auf jener Seite des Hietzinger Kais, der die Fortsetzung der Westautobahn-Einfahrt bildet, nahe der Stadtbahnstation Ober-Sankt-Veit. Die U-Bahn läuft da unter dem Straßenniveau, aber offen. Eine Mauer trennt ihre Gleise von dem Bett des Wien-Flusses.
Der Geschäftsführer der AMERICAR hieß Gilbert Grant. Er war ein großer, schwerer und lebhafter Mann von zweiundfünfzig Jahren, mit roter Gesichtshaut und blauen Augen, die leicht tränten und von roten Äderchen durchzogen waren wie die eines Gewohnheitstrinkers.
Der Raum, in dem sich der Sender befand, besaß eine elektrisch gesteuerte Stahltür und war schalldicht. Fenster gab es nicht. Ein Ventilator sorgte für Frischluft. Die Arbeiter des Lagerhauses waren davon überzeugt, daß in jenem Raum, den nur Grant, seine amerikanischen Angestellten und seine gelegentlichen Gäste betreten durften, alle Geschäftsunterlagen, Scheckbücher und viel Bargeld untergebracht waren. Die Arbeiter wurden gut bezahlt und behandelt, sie kümmerten sich um nichts, was sie nichts anging. Gilbert Grant hatte sie daraufhin ausgesucht.
Zwei junge, schlaksige Amerikaner, welche den Sender bedienten, waren zur Seite getreten. Gilbert Grant saß vor dem Mikrophon. Elektrisches Licht einer starken Deckenlampe ließ sein pechschwarzes Haar glänzen. »Ist gut, Charlie Baker«, sagte er. »Fahr gleich raus zum Flughafen. Wann geht deine Maschine? Over.«
»In etwa zwei Stunden«, erklang David Parkers Stimme aus dem Lautsprecher. »Over.«
»Fein. Du läßt den Wagen auf dem dritten Parkplatz stehen, wie besprochen. Abgesperrt natürlich. Wir holen ihn abends ab. Vielen Dank und guten Flug! Das ist alles. Over.«
»Okay. Ich danke auch. Bis zum nächsten Mal also. Ende.«
»Ende«, sagte Gilbert Grant und lehnte sich auf einem elastischen Chromstahlstuhl zurück, wobei er diesen drehte. Seitlich neben ihm saß ein vierter Mann. Er war so groß wie Grant, etwas jünger, schlank und hatte ein aristokratisches Aussehen. Fedor Santarin war Präsident der ›Vereinigung für österreichisch-sowjetische Studentenfreundschaft‹, die ihren Sitz in einem alten Palais an der Wollzeile, nahe der Stephanskirche, im Stadtzentrum hatte. Grant und Santarin sprachen fließend Englisch, Französisch, Deutsch und Russisch. Höflicherweise in englischer Sprache sagte Santarin, der einen erstklassig geschnittenen Maßanzug trug – im Gegensatz zu dem leicht zerdrückten Konfektionsanzug Grants –, mit schiefem Lächeln: »Das war aber wirklich sehr knapp, lieber Freund.«
»Tja, ohne ein wenig Glück wären wir glatt verloren in diesem Beruf«, antwortete Gilbert Grant, den Knoten seiner allzu bunten Krawatte, die er zu einem blau-weiß karierten Hemd trug, hochziehend. »Ich habe mich am Mikrophon mächtig zusammengenommen. Mir ist ganz schlecht. Ich muß ein Schlückchen haben.« Er ging zu einem Wandschrank. Der Russe lächelte trist. Gilbert Grant mußte in regelmäßigen, ziemlich kurzen Abständen immer wieder ein Schlückchen haben, Fedor Santarin wußte das natürlich. Gilbert Grant war in der Tat ein Säufer. Er hielt es aus. Noch hält er es aus, dachte der Russe. Früher oder später wird er seinen Zusammenbruch kriegen. Schade, ich mag ihn. Wie oft und wie gut haben wir schon zusammengearbeitet.
»Ich brauche euch jetzt mal nicht, schaut euch draußen ein bißchen um«, sagte Grant, der so mächtig und aufgeschwemmt aussah wie Orson Welles, mit dem er große Ähnlichkeit aufwies, zu den beiden jungen Amerikanern.
»Ist gut, Mister Grant.«
Die beiden gingen zu der elektrisch gesteuerten Stahltür.
»Moment!« Fedor Santarin lächelte wieder. Er holte mit einer eleganten Bewegung – alle seine Bewegungen waren elegant, im Gegensatz zu den schwerfälligen seines Kollegen – eine längliche, hohe Goldkartonpackung aus einer Innentasche der Jacke seines tadellosen Anzugs. (Er ließ in Wien nur bei ›Knize‹ am Graben arbeiten.) Die Packung enthielt Spezial-Konfekt der berühmten Konditorei Demel. Santarin trug stets solche Packungen mit sich herum, und er liebte es, Süßigkeiten anzubieten. Nun öffnete er den tütenförmigen Karton und hielt ihn den jungen Männern hin.
»Darf ich mir erlauben?«
Die beiden kannten das seit langem. Sie nahmen jeder zwei Stücke Konfekt, bedankten sich und verschwanden, nachdem sie die Stahltür durch Knopfdruck geöffnet hatten. Auf Schienen glitt die schwere Platte hinter ihnen wieder zurück und schloß sich lautlos. Grant hatte ein großes Glas gut zur Hälfte voll Bourbon geschüttet. Er nahm kein Wasser dazu, kippte das Glas, blies Luft aus und füllte es neuerlich halb. Dann setzte er sich auf eine Kiste, in der Autoscheinwerfer verpackt waren, und legte die Füße mit den klobigen Schuhen auf eine andere Kiste.
Wie ein dickköpfiger Bauer aus der Ukraine sieht er aus, dachte Santarin, der wie ein englischer Aristokrat aussah.
»Auf Clairon«, sagte Grant und hob sein Glas. »Er ruhe in Frieden.« Der Amerikaner nahm einen großen Schluck.
»Amen«, sagte der Russe und steckte ein Stückchen Konfekt in den Mund. Er spielte mit der goldenen Tüte. An der linken Hand trug er einen kostbaren Brillantring.
»Ich konnte es Parker natürlich nicht sagen. Auch den beiden Jungs nicht«, murmelte Grant.
»Natürlich nicht.« Fedor Santarin wählte ein Stückchen Nougat.
»Aber es ist schon eine verdammte Scheiße«, erklärte Grant zornig, »daß Parker den Clairon doch noch rechtzeitig gefunden hat und der nicht diesen Aranda erledigen konnte.«
»Machen Sie sich keine Vorwürfe, Gilbert. Wir haben Parker so spät losgeschickt, daß er nach menschlichem Ermessen keine Chance mehr hatte.«
»Er ist aber eben ein so verflucht guter Mann«, sagte der Amerikaner trübe. »Leider. Kein anderer hätte das geschafft.« Er rülpste und trank wieder. »Den Mund habe ich mir fusselig geredet bei meinen Bonzen. Weg mit Aranda! Nichts wie weg mit ihm, habe ich gesagt. Laßt uns selig sein, wenn die Franzosen uns das abnehmen! Loswerden müssen wir ihn auf alle Fälle. Aber nein, nichts zu machen. Diese Hurensöhne!« sagte Gilbert Grant erbittert. »Alles wissen sie immer besser.«
»Dasselbe bei mir«, sagte Santarin. »Angefleht habe ich meinen Führungsoffizier. Dieser Aranda ist eine ganz große Gefahr, sagte er mir. Nicht nur für die Franzosen. Für alle. Folge? Meine Bonzen haben sich mit Ihren Bonzen zusammengetan, Gilbert, und wir bekamen einen Anpfiff und die Order, Clairon zu erledigen, bevor er Aranda erledigt! Das nenne ich Logik, wie? Eine ganz große Gefahr – aber er muß um Himmels willen lebenbleiben!«
»Stardust, ich rufe Stardust, hier ist Noble George …« erklang eine Stimme aus dem Lautsprecher des eingeschalteten Senders. Der Amerikaner glitt von seiner Kiste, ging mit dem Glas in der Hand zum Tisch und meldete sich.
»Ein weiterer Wagen mit Kriminalbeamten ist zum ›Ritz‹ gekommen, Stardust. Die Männer sind alle ins Hotel gegangen.«
»Wie viele Kriminalbeamte?«
»Drei.«
»Okay, fein. Bleibt auf Posten, Noble George. Ende.« Grant setzte sich auf den Tisch. »Da«, sagte er wütend. »Sie hören es! Alles läuft wie am Schnürchen. Genau wie gewünscht.«
»Genauso, wie wir es eingefädelt haben.«
»Ja, wir!« Grant stieß mit einem Zeigefinger nach dem Russen. »Wir zwei! Wir machen die Arbeit, nicht die Bonzen! War das vielleicht kein guter Plan? Die ganze Kripo ins Hotel. Alles fliegt auf. Und Clairon killt inzwischen Aranda. Hätten sie ihn bloß gelassen, die Scheißer! Dann nur noch eine kleine Vorsprache beim zuständigen hohen Herrn – von Ihrem und meinem Boß –, und die Österreicher hätten sich in die Hosen gemacht wie jedesmal, wenn unsere Bosse vorsprechen, und sie hätten das Zeug ausgeliefert oder vernichtet, und wir könnten den Fall abschließen. Aber nein, Gott verdamm’ mich, Manuel Aranda darf nichts zustoßen, um Himmels willen, der muß unbedingt beschützt werden!« Er ahmte eine Stimme nach. »Sie sind mir persönlich haftbar dafür, daß Clairon rechtzeitig beseitigt wird.« Er glitt vom Tisch und ging zum Schrank, wo er sein Glas neuerlich füllte. »Das ist ein Befehl!« äffte er die andere Stimme nach, zweifellos die eines Vorgesetzten, den er haßte. »Befehl, mein Arsch.«
»Wenn wir uns bei einem B-Fall einem Befehl direkt widersetzt hätten, wäre das unser Ende gewesen, darauf können Sie Gift nehmen.«
»Gift ist gut!« Grant lachte böse. »Ist das ein Leben?« Er neigte zu Depressionen.
»Ein schönes nicht«, sagte Santarin, »aber ein ganz angenehmes. Wir kommen auch mit dem lebenden Aranda zurecht, Gilbert, Mut!« Er sah auf seine Schweizer Armbanduhr. »Noch Zeit. Aber bald werden wir zu mir in die Wollzeile fahren. Ich habe Nora Hill gebeten, hinzukommen. Wir müssen ihr genau erklären, was sie zu tun hat – jetzt, wo Aranda also weiterleben wird.«
»Nora Hill«, wiederholte Grant träumerisch. »Das ist eine Frau. Wenn wir die nicht hätten …«
»Wir haben sie aber, das Goldstück.« Santarin lächelte zufrieden.