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Arandas Stimme vibrierte. Groll betrachtete den jungen Mann, der so hektisch erregt und dabei todmüde war, voller Besorgnis. Eine Uhr zeigte fast Mitternacht. Der Hofrat antwortete betont ruhig: »Ihr Vater wurde vor fünf Tagen getötet, Herr Aranda, schon am neunten Januar. Am Abend dieses …«
»Ich wäre früher gekommen, wenn wir in Buenos Aires nicht bis gestern einen Streik des gesamten Flugsicherungspersonals gehabt hätten!«
»Das weiß ich doch. Bitte, bleiben Sie gefaßt. Am Abend dieses neunten Januar, zwischen 19 Uhr 24 und 19 Uhr 39, rief eine Frau viermal das Kommissariat Innere Stadt an.«
»Woher weiß man, daß es jedesmal dieselbe Frau war?«
»Die Anrufe kamen alle ins Wachzimmer. Stets hob der Diensthabende ab, der Wachkommandant Revierinspektor Kemal. Er erkannte die Stimme immer wieder, hat er ausgesagt. Es fiel ihm nicht schwer. Dieses Gestammel, diese Aufregung … Und dann sagte die Frau auch stets dasselbe: »Getötet! Getötet habe ich ihn!«
»Aber auf dem Tonband …«
»Die ersten drei Male sagte die Frau weiter nichts, Herr Aranda. Da legte sie immer bald wieder auf. Vielleicht aus Schwäche. Vielleicht verließ sie der Mut. Die Stimme klang immer verschmierter, hat der Revierinspektor Kemal ausgesagt. Tatsächlich wurde bei der Obduktion von Frau Steinfelds Leiche eine große Menge Alkohol festgestellt. Sie muß sich zwischen den Anrufen mehr und mehr betrunken haben.«
»Ich verstehe.«
»Dieser Revierinspektor Kemal ist ein guter Mann, ich kenne ihn. Er alarmierte den Technischen Dienst, Telefonüberwachung. Vom zweiten Anruf an bemühten sich Spezialisten, festzustellen, woher der Anruf kam. Der Revierinspektor schaltete auch ein Tonbandgerät ein, das mit dem Telefon gekoppelt ist. Als Frau Steinfeld dann um 19 Uhr 39 zum viertenmal anrief, ließ er das Band laufen. Es ist dieses Band hier.«
»Woher wußte der Revierinspektor, daß die Frau Valerie Steinfeld war?«
»Zur Zeit des Gesprächs wußte er es natürlich noch nicht. Ich spreche von Frau Steinfeld, weil wir, wie gesagt, drei Zeugen haben, die bereit sind, zu beeiden, daß dies die Stimme von Frau Steinfeld ist – den Besitzer der Buchhandlung, Martin Landau, seine Schwester Ottilie und die Nichte der Frau Steinfeld, Fräulein Irene Waldegg.«
»Beim viertenmal hängte diese Frau also nicht wieder ein.«
»Nein. Der vierte Anruf dauerte eine ganze Weile. Vermutlich war Frau Steinfeld da schon sehr betrunken und wußte nicht mehr recht, was sie tat. Sie wollte plötzlich reden, sie mußte reden. Der Revierinspektor reagierte geschickt und hielt sie am Apparat.«
Die Hälfte eines Fensters in Grolls Zimmer stand offen. Sie stand fast immer offen, denn der Hofrat hatte ein ständiges Bedürfnis nach frischer Luft. Schneeflocken sanken in der milchigen Dunkelheit vor dem Fenster in die Tiefe, landeten auf dem weißen Brett über der Zentralheizung, zerschmolzen …
Weil stets frische Luft hereinkam, wurde Grolls Zimmer im Winter stets überheizt, damit es nicht abkühlte. Der Hofrat hatte die Jacke ausgezogen und die Weste geöffnet. Der Krawattenknoten war herabgezogen, der Hemdkragen geöffnet. Die Hemdsärmel hatte Groll hochgekrempelt. Während er sprach, sog er von Zeit zu Zeit an einer ›Virginier‹ – einer langen, sehr dünnen und festen, typisch österreichischen Zigarre.
Grolls Zimmer war mit hellen Büromöbeln aus Lärchenholz nüchtern und praktisch eingerichtet. Neben einem großen Schreibtisch, an dem der Hofrat saß, gab es einen zweiten, runden Tisch, um diesen fünf Stühle mit Lehnen, Aktenschränke und ein altes, brüchiges Ledersofa, das sehr deplaciert wirkte. Groll liebte dieses Sofa, er pflegte sich daraufzulegen, wenn er intensiv nachdachte. Das Möbelstück hatte ihn während der letzten fünfundzwanzig Jahre durch viele Büros begleitet. Nun saß Aranda darauf. Er öffnete und schloß unentwegt die Finger, seine Lider flatterten, er atmete und redete hastig. Dabei war es dem Hofrat bereits gelungen, ihn sehr zu beruhigen. Als er ankam, hatte Manuel vor Aufregung keinen ordentlichen Satz sprechen können. Groll beobachtete ihn ständig. Auf seinem Schreibtisch brannte eine helle Lampe. Der Hofrat hatte ihren Metallschirm herabgedrückt. Das Zimmer lag im Halbdunkel.
Wolfgang Groll war neunundfünfzig Jahre alt, beleibt und groß. Er hatte silbergraues Haar, das er nach hinten gekämmt trug, und ein breites Gesicht mit buschigen Brauen über grauen Augen, die stets klar und glänzend waren. Der Mund war groß. Groll lachte gerne und häufig. Als Folge einer schweren Kriegsverletzung besaß er praktisch nur noch eine arbeitende Lunge, und mitunter litt er an Kreislaufstörungen. Trotzdem gab es im ganzen Sicherheitsbüro keinen Menschen von seiner Energie. Jeden Morgen um 8 Uhr war er in seinem Zimmer. Er konnte Nächte hindurch arbeiten, er war anscheinend nicht zu ermüden.
In seiner Freizeit – dieser Mann brauchte wirklich kaum Schlaf – beschäftigte Groll sich mit naturwissenschaftlichen Arbeiten. Er hatte eigentlich Biologe werden wollen. In seiner großen Wohnung an der Porzellangasse besaß er eine riesige Bibliothek mit naturwissenschaftlichen, philosophischen und zeitgeschichtlichen Werken, Zettelkästen, ein eigenes Archiv, Enzyklopädien und spezielle Nachschlagewerke. Diese in vielen Jahren zusammengetragene Sammlung von alten und neuen Büchern, die er schon zu Lebzeiten der Wiener Nationalbibliothek vermacht hatte, umfaßte weit über 8000 Bände und war in drei Zimmern der Wohnung untergebracht.
Wenige Menschen wußten, daß Wolfgang Groll seit Jahren an einem Buch mit dem Titel ›Neuer Mensch im Neuen Kosmos‹ schrieb. Was er erträumte, das war ein gemeinverständliches Werk, in dem, unter Fortlassung aller Details, von der Summe dessen berichtet wurde, was die moderne Astronomie, Physik, Chemie, Astrophysik, Biologie, Molekularbiologie, Psychochemie und die unzähligen anderen modernen Spezialwissenschaften zur Schaffung eines neuen Kosmos (hoch und beständig stand Groll der alte ›Kosmos‹ des großen Alexander von Humboldt vor Augen!) für einen neuen Menschen geleistet hatten. Darüber und über die Nutzanwendung für den neuen Menschen, für sein Weltbild und sein Verhalten zu berichten, das war Wunsch und Ziel des einsamen Kriminalisten, der zuerst von der Naturwissenschaft fasziniert gewesen war, sich später im besonderen für Biologie und seit vielen Jahren (tagein, tagaus in seinem Beruf) für Verhaltensforschung interessierte …
Sechs Semester hatte er hinter sich gebracht, als die Wirtschaftskrise und der Zusammenbruch des Unternehmens seines Vaters ihn 1931 zwangen, vom Studium Abschied zu nehmen. Er landete bei der Polizei. Doch seinen Traum verfolgte und behütete er ein Leben lang: Konnte er schon nicht Naturwissenschaftler werden, so blieb er doch den Naturwissenschaften treu. Sie brachten ihm, zusammen mit seiner beruflichen Arbeit, ein erfülltes Dasein.
Unter der Glasplatte des großen Schreibtisches in seinem Büro lag, auf grünem Löschpapier, das gepreßte, besonders schöne Blatt eines Ginkgo-Baumes. Um diesen geheimnisvollen Baum kreiste Grolls ganzes Leben und Denken. An allen bedeutungsvollen Stationen seines Daseins war er ihm begegnet, jenem Baum: Im Park von Schönbrunn, durch den er an dem Tage wanderte, da er den Entschluß faßte, Naturwissenschaftler zu werden; im Institutsgarten der Universität an dem Tage, da er sein Studium aufgeben mußte; in jenem alten Burggarten, in dem er seine Frau Olga kennenlernte, mit der er die glücklichste Ehe geführt hatte bis zu ihrem Tod vor neun Jahren; beim Eingang des Krankenhauses, in das er sie brachte und das sie nicht mehr verlassen sollte; am Tag ihrer Hochzeit; am Tag, da er Soldat wurde; vor dem ukrainischen Landsitz, der das Lazarett beherbergte, in welches man ihn nach seiner Verwundung brachte; im Park des Sanatoriums, wo er sich langsam und mühevoll von einer Thorakoplastik erholte, die Jahre später, 1947, notwendig geworden war und zwar eine Lungenhälfte ausschaltete, ihm, dem schon Todgeweihten, aber ein neues, sozusagen geschenktes zweites Leben beschert hatte, das in jenem Sanatorium, in jenem Park begann … immer wieder, an den seltsamsten Orten und immer zu einschneidenden Anlässen, war Groll einem oder mehreren Ginkgo-Bäumen begegnet.
Der Ginkgo-Baum (Ginkgo biloba KAEMPFER) kann bis dreißig Meter hoch werden. In der Jugend wächst er mit schmaler, kegelförmiger Krone, im Alter wird diese unregelmäßig und der Baum nicht selten breiter als hoch. Obwohl ein Verwandter der Nadelhölzer, sieht der Ginkgo-Baum doch aus wie ein Laubbaum, und er wirft im Herbst auch sein dann wunderbar goldgelb leuchtendes Laub ab.
In China und Japan wird der Baum, den man für den Sitz von Geistern hält, als heilig verehrt. Nach Europa gelangte der Ginkgo als erste ostasiatische Baumart um 1730. Seine dreieckigen oder fächerförmigen Blätter sind tief gelappt, der mittlere Einschnitt ist am tiefsten, er spaltet das Laub fast in zwei Hälften. Dadurch gelangte die seltsame Gewächsart zu ihrer Bezeichnung ›biloba‹, was zweilappig bedeutet.
Der Hofrat Wolfgang Groll hatte vor vielen Jahren damit begonnen, Blätter des Ginkgo-Baumes zu sammeln – die silbriggrünen des Sommers, die honiggelben des Herbstes. Er verwahrte sie zwischen den Seiten seiner Bücher, in seiner Brieftasche, in seinem Paß, unter Glas auf seinen Schreibtischen.
Natürlich kannte der Hofrat Goethes Gedicht ›Ginkgo biloba‹. Es war ein Liebesgedicht, aber es drückte auch aus, was Goethe immer wieder beschrieb: die Polarität des Universums, dieser Welt, allen Lebens, aller Formen des Existierenden.
Die Polarität, nicht den Dualismus! Der Dualismus trennt, zersetzt. Polarität, das ist die äußerste Verschiedenartigkeit eines dennoch nicht zu Trennenden, eines eben dadurch nicht zu Trennenden! Ohne die beiden Pole gäbe es niemals die Einheit.
Immer wieder hatte Goethe über solche Polaritäten nachgesonnen: Einatmen – Ausatmen. Gesundheit – Krankheit. Unglück – Glück. Systole – Diastole. Ebbe – Flut. Tag – Nacht. Mann – Weib. Muskeln dehnen – Muskeln strecken. Erde – Himmel. Leben – Tod. Dunkel – Licht. Negativ – Positiv. Gut – Böse.
Diese Polarität, zum Beispiel auf die Elektrizität angewandt, zeigte deutlich, woran Goethe gedacht hatte und was Groll beschäftigte – sein Leben lang: Wenn es nicht ein ›Positives‹ und ein ›Negatives‹ gab, dann gab es keine Spannung, keinen Strom. Beide mußten da sein, das Plus und das Minus, damit das Ganze da sein konnte! Oder wie, ein anderes Beispiel, war es mit dem Wunsch: ›Ich möchte immer so unendlich glücklich sein?‹ Ein unsinniges, unerfüllbares Verlangen. Man kann immer nur ganz kurze Zeit ›unendlich glücklich‹ sein, denn hätte man es länger oder immer sein können, so wäre man es nie gewesen. Erst durch das Unglück nimmt man das Glück wahr, entstehen Spannung und Gefälle, entsteht die Ganzheit.