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Den ersten richtigen Anzug mit langen Hosen trägt Heinz. Seine Mutter hat einen alten Schneider gefunden, der einen der von Paul Steinfeld zurückgelassenen Anzüge änderte: dunkelgrau, mit breitwattierten Schultern. Ein weißes Hemd und eine blaue Krawatte trägt Heinz, dem geschlossene Hemden und Krawatten ein Greuel sind. Aufrecht und hochgeschossen ist er, das blonde Haar, die blauen Augen und das schmale Gesicht der Mutter hat er, die Haut voller Sommersprossen. Stramm und tadellos die Haltung. Laut und deutlich die Stimme, höflich, eifrig, leidenschaftlich, plötzlich wild.
Da steht er vor dem Richtertisch, die Hände an der Hosennaht, mein Bub, mein kleiner Heinz, den ich geboren und großgezogen und behütet habe und weiter behüten muß, da steht er und gibt Rede und Antwort – dem Richter, dem Kurator, dem Dr. Forster.
Da steht er und sagt: »Nein, Herr Direktor, ich habe meinen Vater nie leiden können. Und er mich auch nicht.«
Und sagt: »Er ist mir immer fremd gewesen, mein Vater. Ich habe immer gespürt, er versteht mich nicht, und er mag mich nicht. Und ich habe ihn auch nicht verstanden. Er hat so viele Sachen gesagt, die ich nicht begriffen habe, oder, wenn ich sie begriffen habe, dann haben sie mich abgestoßen.«
»Abgestoßen? Wieso?«
»Weil er so zynisch geredet hat. So zersetzend. Über alles hat er nur seine Witze gemacht. Alles hat er in den Dreck gezogen.«
»Was denn zum Beispiel?«
»Zum Beispiel die Heimat, Herr Direktor. Und dann Begriffe wie Glauben und Treue und Ehre und Kameradschaft …«
Ach, Heinz, Heinz, wie gut hast du dich mit Paul verstanden, früher, als Kind, als Junge, bis die Nazis kamen! Wie viele Stunden habt ihr debattiert, wie hast du ihn bewundert, wie hat er dir alles erklärt, dir immer neue Bücher gebracht, Geschichten erzählt, wie stolz warst du darauf, wenn er im Radio gesprochen hat! Und jetzt ist da nur noch Haß in dir. Furchtbar …
»Wunderbar«, flüstert der Doktor Forster. »Der Bub macht sogar auf die beiden Kerle Eindruck.«
Das tut er.
Ein erstaunlicher Junge, findet Gloggnigg, der selber einen Sohn hat. Das könnte ja direkt sein Bruder sein, wie der ausschaut, wie der spricht, die Haltung, die Würde …
»Nein, Herr Richter, ich habe nicht gewußt, daß mein Vater – dieser Mann meine ich –, daß der Jude ist. Das habe ich erst erfahren, als ich in der Schule den kleinen Ariernachweis erbringen mußte. Da hat es mir meine Mutter gesagt. Ich war sehr unglücklich, jawohl … Weil ich Juden hasse … Sie sind das größte Gift unter den Völkern … Nein, daran glaube ich fest … In der Hitlerjugend? Einer von den besten und eifrigsten war ich, das kann mein Fähnleinführer bezeugen … Der schlimmste Tag? Als ich erfuhr, daß mein Vater Jude ist natürlich … Da habe ich auch begriffen, warum wir uns nie verstanden haben …«
Weiter, Heinz, weiter, mehr so …
»Herrn Landau? Mit dem habe ich mich immer verstanden! Mit dem habe ich reden können! Das war ein guter Deutscher, ein wirklich anständiger Mensch … Der glücklichste Tag in meinem Leben? Als meine Mutter mir gesagt hat, daß Herr Landau mein Vater ist und nicht der andere … dieser Jude …«
Der Kurator Dr. Hubert Kummer, der denkt: Aus jetzt die Packelei mit dem Richter. Der soll sehen, wie er allein weiterkommt. Ich muß mich korrekt verhalten, streng korrekt. Fehlte noch, daß hier etwas schiefläuft und ich einen Rüffel bekomme, eine Rüge, einen Verweis, etwas Schlimmeres. Wo ich endlich die große Kanzlei und die Wohnung von diesem Dr. Blaustein, der in meinem Bezirk alles an sich gerissen hatte, endgültig überschrieben erhielt. Nach der Arisierung haben mich die Kollegen, die lieben, immer wieder angegriffen deshalb, und es hat vier Jahre gedauert, bis ich mir alles aufgebaut habe. Vorsichtig also jetzt. Ist ja ein prächtiger Junge. Muß man anständig behandeln. Auch gegen die Mutter muß ich höflich sein. Da habe ich mich hinreißen lassen. Und wenn sie lügt! Und wenn das da ein Halbjud ist! Aber hat er Glück, und die Untersuchungen fallen günstig für ihn aus? Nein, nein, das kann ich mir nicht leisten.
»Sie hassen also Ihren Vater, Herr Steinfeld?«
»Meinen sogenannten Vater! Jawohl, den hasse ich, Herr Direktor. Mehr als alles andere auf der Welt hasse ich ihn!«
Ja, gut so, Heinz, gut so, weiter so. O Gott …
»Wenn ich hören würde, daß er tot ist? Überhaupt nichts würde ich empfinden! Er ist doch nicht mein Vater! Herr Landau ist doch mein Vater!« Wie düster dieser Landau mich anstarrt, denkt der Kurator Kummer unruhig. Der brütet auf Rache. Ich muß da sofort etwas tun.
»Herr Vorsitzender, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf … Wir haben nun alle Beteiligten vor uns … den Paul Israel Steinfeld nur in Form von Fotos … Aber die Fotos zeigen nach meinem Dafürhalten zahlreiche unverkennbare Eigenarten der jüdischen Rasse. Der junge Mann da, Herr Vorsitzender, scheint mir von diesen Eigenarten absolut frei zu sein. Absolut … Ich möchte unter diesen Umständen den Antrag stellen, erbbiologische und anthropologische Sachverständige herbeizuziehen und …«
»Diese Entscheidung treffe immer noch ich, Herr Doktor, nicht wahr? Ich leite die Verhandlung.«
Rechtsanwalt im Dritten Reich! Ein feiner Beruf! Wenn sie einem wenigstens immer genau sagen würden, wie sie es gern haben wollen, was für einem Recht man das Wort reden soll …
»Ich wollte wirklich nicht vorgreifen, Herr Vorsitzender, aber ich denke doch, ich werde den Antrag stellen …«
Jetzt lächelt mich diese Steinfeld zum erstenmal an. Zurücklächeln, los! Was lächeln die so? denkt der Landgerichtsdirektor Gloggnigg. Weiß der Kummer, dieser Scheißer, vielleicht mehr als ich? Ist der schon sicher, wie die Untersuchungen ausgehen werden? Dann wäre ich der Blamierte, wenn ich hier weiter herumbrülle. Das ist natürlich eine einzige Komödie, die man mir hier vorspielt, aber der Junge sieht wirklich arisch aus, und wenn nun auch noch die Blutgruppen stimmen …
»Herr Steinfeld, bitte nehmen Sie Platz.«
»Jawohl, Herr Direktor.« Die Hacken klappt er zusammen, der Junge, zur Zeugenbank marschiert er. Ernst sieht er dabei seine Mutter an. Und die denkt: ›Bitte‹ hat das Vieh gesagt, Paul, ›bitte‹! Zu unserem Buben! ›Bitte nehmen Sie Platz!‹ Paul, Paul, halt uns die Daumen jetzt, geliebter Paul …