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»Am nächsten Tag begann der russische Angriff. Ich bin im ersten Durcheinander abgehauen. Habe mich durchgeschlagen bis nach Tirol«, sagte Erwin Traun am 12. Dezember 1945 im Teekammerl der Buchhandlung Landau. »Jetzt habe ich mich wieder nach Wien gewagt … Ich bin seit gestern hier … Heinz hat mir so viel von Ihnen erzählt, Frau Steinfeld … So habe ich gewußt, wo Sie arbeiten …«
Erwin Traun, mager, in einem Monteuranzug, der ihm nicht paßte, hockte frierend auf dem defekten Sofa und sah ängstlich Valerie Steinfeld an, die vor ihm saß. Hinter Valerie stand Martin Landau, der eine Hand an das Herz gepreßt hielt und stammelte: »Entsetzlich … das … das ist ja entsetzlich …«
Erwin Traun war die schmale Frau mit dem hellen Haar und den erloschenen Augen unheimlich. Warum sagte sie nichts? Warum schrie sie nicht? Warum brach sie nicht zusammen? All das hatte er erwartet und befürchtet und war entschlossen gewesen, es in Kauf zu nehmen. Doch diese Stille, diese Starre …
»Heinz hat gewiß kaum leiden müssen, er war gleich tot. Glauben Sie mir! Bitte, glauben Sie mir doch!«
»Ich glaube Ihnen«, sagte Valerie. Sie sah über den Jungen hinweg die Bücherwand an. Ihr Blick blieb auf zwei dicken Bänden haften. Es waren der erste und der zweite Band eines Werkes mit dem Titel: ›Der Glaube der Hellenen‹ von Karlheinz Trockau in der Bearbeitung von Merian und Stähelin.
»Valerie! Ich … ich hole schnell den … den Doktor Billa!« stotterte Landau.
»Unsinn, bleib da!«
»Aber wie du ausschaust … Der Doktor Billa hat gesagt, nach deinem ersten Kollaps müssen wir …«
»Sei still«, sagte Valerie. »Sei still, Martin. Ich habe gewußt, daß Heinz tot ist.«
»Was?« rief der Junge auf dem Sofa.
»Was?« rief Landau. »Wieso hast du es gewußt? Seit wann?«
»Seit der russische Offizier kam und sagte, daß Paul gestorben ist. Damals, bevor ich zusammenbrach, draußen bei dem Bären, ehe ich das Bewußtsein verlor, da habe ich einen Moment lang ganz genau gewußt: Auch Heinz ist tot. Und seither habe ich mit dieser Gewißheit gelebt …«
»Die Granate, die ihn getötet hat …«, begann Erwin, aber Valerie unterbrach ihn: »Es war nicht eine Granate.«
»Ich verstehe nicht …«
»Meinen Jungen hat nicht eine Granate getötet«, sagte Valerie Steinfeld, die beiden Bücher betrachtend, mit denen vor so langer Zeit ein großes Abenteuer begonnen hatte …