26
»… daß ich meinen Mann vor vielen Jahren mit einem gewissen Martin Landau betrogen habe. Die Folge dieser Verbindung war ein Kind, mein Sohn Heinz. Ich möchte gerne, daß Sie die Vertretung übernehmen, Herr Doktor, wenn ich jetzt vor Gericht gehe und einen Vaterschaftsprozeß führe.« Valerie saß Dr. Otto Forster im Büro seiner großen Kanzlei am unteren Ende der Rotenturmstraße gegenüber. Man sah den Donaukanal, der sich durch die Stadt zieht, und eine von vielen Brücken. Es herrschte starker Verkehr auf der Marienbrücke an diesem Samstag vormittag. Eine schier endlose Wehrmachts-Kolonne passierte eine überlebensgroße Figur der Mutter Gottes, die aus Bronze gegossen war und matt glänzte.
Soldaten mit ernsten, müden und verschlossenen Gesichtern saßen, dicht gedrängt, auf den Lastern.
Niemand hätte sich vorstellen können, daß alle Brücken über den Donaukanal knapp zweieinviertel Jahre später beim Kampf um Wien von zurückgehender SS ausnahmslos gesprengt werden sollten. Der große, schlanke Dr. Otto Forster mit dem schmalen Gesicht, den grauen Augen und den enganliegenden, wohlgeformten Ohren unterbrach durch eine rasche Bewegung einer seiner schönen Hände den Redestrom Valeries. »Ihr Mann heißt Paul Steinfeld?«
»Ja.«
»Ich kannte einen Paul Steinfeld.« – Vorsicht! – »Ein, hm, alter Klient … arbeitete bei einer Zeitung. Danach war er lange Radiosprecher, glaube ich …«
»Das ist mein Mann«, sagte Valerie. Sie biß sich auf die Lippe, eben noch rechtzeitig, denn sie hatte hinzufügen wollen: Darum komme ich zu Ihnen, er schickt mich!
Das ging natürlich nicht.
Der Anwalt mußte glauben, daß das, was sie erzählte, der Wahrheit entsprach. Wie sollte er sonst ihre Vertretung übernehmen? Das hatte sie alles genau mit Martin durchgesprochen. Valerie saß sehr aufrecht. Sie trug ein braunes Kostüm, die Jacke mit betonten Schultern, und einen gerade modernen Glockenhut aus Filz der gleichen Farbe. Das blonde Haar quoll unter dem Hut hervor.
»Ihr Mann!« Forster, in seinem zweireihigen Anzug mit dem Fischgrätenmuster, richtete sich auf. »Wir kannten uns lange …«
»Mein Mann hat oft Ihren Namen genannt.« (Das war das Äußerste.)
»Er ist Jude, nicht wahr?«
Valerie mußte schlucken.
»Ja«, sagte sie dann. Und fügte – auch das war mit Martin besprochen – hinzu: »Einer der Gründe wahrscheinlich, warum wir schon fast von Anfang an in unserer Ehe nicht harmonierten. Ich wollte es ja nicht wahrhaben. Meine Eltern hatten es mir prophezeit! Sie sagten …«
Forster winkte ab.
»Was ist mit Ihrem Mann geschehen, gnädige Frau?«
»Er emigrierte nach England. Sofort nach dem Anschluß.«
»Ich verstehe.« Forsters Gesicht blieb unbewegt. Auch er mußte das gleiche Spiel wie Valerie spielen. Hinter ihm, an der Wand, hing ein großes Bild – eine Rötelzeichung, darstellend junge Bacchanten in einem Weinberg. Der Anwalt zupfte an seinem rechten Ohr – das schien eine Angewohnheit von ihm zu sein. »Haben Sie Verbindung zu Ihrem Mann, gnädige Frau?«
»Jetzt? Im Krieg?«
»Nun ja, es ist unwahrscheinlich, aber es könnte doch möglich sein. Haben Sie?«
»Natürlich nicht!« (Mit Martin besprochen, alles besprochen.)
»Ich verstehe«, sagte Forster zum zweitenmal und dachte: Also wieder so ein Fall. Er fragte: »Und Ihr Mann? Ihm haben Sie gesagt, daß nicht er …«
»Der Vater von Heinz ist? Nein, das habe ich niemals zugegeben! Obwohl er mich immer wieder verdächtigte, ihn betrogen zu haben …« – natürlich, dachte Forster – »… und obwohl er mir immer wieder Szenen gemacht hat …« – na freilich, dachte Forster – »… habe ich es bis zuletzt energisch abgestritten!«
»Bis zuletzt, mhm.« Forster sah, daß Valerie vor Nervosität an einem kleinen Spitzentaschentuch zog und zerrte. Er half ihr – in diesem Fall war schnelles und direktes Handeln am Platz. »Das bedeutet, daß Ihr Sohn … wie alt übrigens?«
»Sechzehneinhalb.«
»… kein Mischling ist.«
»Deshalb will ich ja den Prozeß führen! Ich schäme mich so.« Wie ich das alles kenne, dachte Forster traurig. »Aber es muß sein. Jetzt muß es sein!«
»Warum muß es jetzt sein, gnädige Frau?« Forster sagte stets ›gnädige Frau‹ zu weiblichen Mandanten, er grüßte niemals mit ›Heil Hitler‹, auch seine Briefe unterschrieb er nicht so und auch nicht ›mit deutschem Gruß‹, sondern stets ›mit besten Empfehlungen‹ und ›Ihr ergebener‹ oder bei Frauen mit ›Handkuß, ergebenster‹.
Valerie war bereits voller Vertrauen zu diesem Mann, dessen Gesicht, dessen Stimme und dessen Augen aussahen, als hätten sie noch niemals das Gefühl der Angst verspürt. Sie berichtete, was Heinz in der Staatsschule für Chemie widerfahren war, und schloß: »Deshalb kann ich jetzt nicht weiter schweigen. Deshalb komme ich zu Ihnen. Es heißt, daß Sie auf solche Prozesse spezialisiert sind.«
»Heißt es das?« sagte Forster und dachte: Hat sich also auch schon herumgesprochen. Na, egal! Paul Steinfeld – was haben wir zusammen gelacht, was für Prozesse während seiner Zeitungszeit erlebt. Und jetzt sitzt seine Frau vor mir. Eine kleine Welt.
»Ja, das heißt es. Jedenfalls sagte es mir eine … eine Freundin. Und deshalb möchte ich Sie zum Vertreter haben. Es muß sein. Das finden Sie doch auch, nicht wahr?«
Er nickte.
»Ja, ich fürchte, gnädige Frau. Wenn Schirach bereits verständigt worden ist … Außerdem sind dauernd Pläne über die Behandlung von Mischlingen im Gespräch.«
Also doch, dachte Valerie. Also stimmt, was Nora Hill gesagt hat. Also weiß Paul mehr, als wir hier wissen.
»Solange der Prozeß läuft, ist Ihr Sohn aber geschützt.«
»Ja, das ist im Moment das Wichtigste. Sein Direktor, dieser Professor Friedjung, der ist nämlich …« Valerie brach ab, während sie ein zusammengefaltetes Blatt Papier aus einer Tasche der Kostümjacke zog. In der Bewegung erstarrte sie, als sei ihr etwas eingefallen, murmelte einige unverständliche Worte und schob das Papier zurück.
»Was ist mit Professor Friedjung, gnädige Frau?«
»Ach nichts … Ich dachte an etwas Unwesentliches … Völlig verrückt!«
Forster sah sie grübelnd an. Was hatte diese Frau sagen wollen? Was war das für ein Papier? Er erfuhr es nicht.
Schnell sagte Valerie: »Nichts von Bedeutung … Geschützt, solange der Prozeß läuft, ja. Und dann? Wie groß sind die Chancen, daß man in einer solchen Sache gewinnt?«
»Das kommt auf mancherlei an.«
»Wie viele Prozesse haben sie schon gewonnen?«
»Einen«, sagte er. Und fügte, als er ihr Erschrecken sah, schnell hinzu:
»Aber die anderen laufen noch, und das ist die Hauptsache.«
»Ich verstehe nicht …«
»Es sind immer ziemlich komplizierte Prozesse. Sie können nicht Bescheid wissen, gnädige Frau. Zunächst einmal sind nicht Sie es, die Klage erheben darf.«
»Nicht ich? Wer denn?«
Forster zupfte an seinem rechten Ohrläppchen – der Stelle, an der Manuel Aranda im Januar 1969 den unteren Rand einer großen, wulstigen Narbe erblicken sollte.
»Ihr Sohn allein darf klagen, gnädige Frau.«
»Heinz?«
»Ja, Heinz. Und zwar wird er in seiner Klage fordern, daß ihm, wegen blutsmäßiger Abstammung, die eheliche Geburt abgesprochen wird. So heißt das. Warten Sie, langsam! Da er noch minderjährig ist, braucht er einen Vormund. Dieser Vormund werden Sie sein. Sie müssen sofort zum Amtsgericht Währing gehen und sich zur Vormünderin Ihres Sohnes bestellen lassen. Denn nur als Vormünderin Ihres minderjährigen, klagenden Sohnes darf ich Sie vertreten.« Forster lachte absichtlich laut, als er Valeries betroffenes Gesicht sah. »Juristenkram! Es kommt noch schöner! Wie bei jedem Prozeß gibt es auch hier so etwas wie einen Staatsanwalt, der unser Gegner ist und zu erreichen versucht, daß die Klage abgewiesen wird. Obwohl er selber die ›beklagte Partei‹ darstellt.«
»Wer ist das?« Valerie zerrte an dem Spitzentuch.
»Ein anderer Anwalt«, sagte Forster. »In Juristendeutsch: ›Ein zur Verteidigung der ehelichen Geburt und der blutsmäßigen Abstammung vor Gericht zu bestellender Kurator‹.«
»Aber das ist doch verrückt! Das Gericht setzt einen Anwalt ein, der unter allen Umständen beweisen soll, daß Heinz der Sohn eines Juden und nicht, wie in Wahrheit, der Sohn eines Ariers ist?« Valerie bekam es mehr und mehr mit der Angst zu tun.
»Das ist gar nicht verrückt, gnädige Frau. Wenn da niemand wäre, der bezweifelt, widerspricht, die Rolle des Ungläubigen, des ›Feindes‹ übernimmt, dann wären diese Prozesse ein Kinderspiel, dann hätte man drei davon in einer Stunde erledigt – zur Zufriedenheit der Mütter.«
»Heinz ist der Sohn von einem Arier und nicht von meinem Mann!« rief Valerie. »Glauben Sie mir nicht?«
Forster zupfte an seinem Ohr.
»Wenn ich Ihnen nicht glaubte, könnte ich doch den Fall nicht übernehmen.« Er sah Valerie ausdruckslos an. »Genügt Ihnen das?«
Er glaubt mir natürlich nicht, aber er übernimmt den Fall, gerade deshalb, ich habe verstanden, dachte Valerie – ihre Stimmung schwankte unentwegt zwischen Verzweiflung und Hoffnung – und sagte: »Selbstverständlich genügt mir das, Herr Doktor.«
»Gut. Der Prozeß wird, sobald ich als Rechtsvertreter der Vormünderin des Jungen seine Klage eingebracht habe, im Justizpalast stattfinden. Vor einem Einzelrichter.«
»Einzelrichter? Gibt es mehrere für diese Fälle?«
»Ja, leider«, sagte Forster. »Und sie sind ganz verschieden. Wir wollen hoffen, daß wir Glück haben und auf einen sachlichen, klugen und erfahrenen Richter stoßen.« Er sprach jetzt mit Betonung, sie erfaßte sogleich, daß er seine Worte ›verkleiden‹ mußte: »Wer immer Vorsitzender ist – es steht Ihnen eine schwere Zeit bevor, gnädige Frau. Eine sehr schwere Zeit. Mit der Behauptung, Sie hätten ihren Mann betrogen, ist es natürlich nicht getan. Zunächst brauche ich von Ihnen eine ausführliche schriftliche Erklärung, die dann vor Gericht zur Grundlage des Falles gemacht wird.«
»Was für eine Erklärung?«
»Nun, über Ihre schlechte Ehe, die Sie gegen den Widerstand der Eltern geschlossen haben und die gleich von Anfang an unglücklich verlaufen ist. Ich vermute, es gab Streit, Zerwürfnisse, Szenen?«
»Ja«, sagte Valerie. In unserer ganzen Ehe hat es das niemals gegeben, dachte sie.
Forster nickte und sprach mit monotoner Stimme weiter. Ich muß der armen Person doch wenigstens ein paar Anhaltspunkte geben, dachte er. Wenn sie mir die Erklärung bringt, und sie genügt nicht, muß ich ihr beibringen, wie man sie besser schreibt. Er sagte: »Sie haben unglücklicherweise erst nach der Eheschließung festgestellt, daß Sie und Ihr Mann geistig überhaupt nicht zueinander paßten, wie?«
»Ja!« Valerie kam wieder in Fahrt. (Das hatte sie sich mit Martin Landau überlegt.) »Mein Mann dachte nur an seine Zeitung und an Politik, Politik, Politik!«
»Typisch«, sagte Forster und dachte: Sie begreift schon, na also. »Während Sie, gnädige Frau …«
»Während ich mich stets für künstlerische Dinge interessierte. Ich habe mich sehr intensiv mit Kunstgeschichte befaßt. Habe Kurse besucht. Auf sein Drängen gab ich das auf.«
»Nur mit großem Bedauern?«
»So ist es. Und er … er machte sich lustig über meine Interessen, er verhöhnte mich dafür!« rief Valerie.
Sie versteht, dachte Forster und sagte: »Die andere Rasse, da sehen Sie es wieder einmal, gnädige Frau. Ein krasser Materialist, Ihr Mann – so habe auch ich ihn noch in Erinnerung.« Sie sahen sich an, ohne mit der Wimper zu zucken. »Natürlich konnte das nicht gutgehen, als er Sie dann auch noch betrogen hat, schlecht behandelt, vernachlässigt … wie?«
Nie, nie hat Paul mich betrogen, dachte Valerie, immer hat er nur mich geliebt und ich ihn, aber nun geht es um den Buben, nun muß es sein!
»Ja, dauernd diese Weibergeschichten«, murmelte sie. »Schrecklich war das.«
Sie wird ihr Taschentuch noch zerreißen, dachte Forster, und: Sie ist der Typ der klaren, sauberen, gesund empfindenden Frau, das sieht jeder. Ich werde ihr vielleicht am besten die Tour suggerieren, mit der ein Kollege in Frankfurt Erfolg hatte. Außerdem ist es wichtig zu wissen, was sie aushält, diese Frau, was man ihr zumuten kann. Er sagte: »Hat Ihr Mann Sie vielleicht betrogen, weil Sie – entschuldigen Sie, gnädige Frau, aber ich ich muß diese Frage stellen –, weil Sie ihm gewisse sexuelle Praktiken, widernatürliche natürlich, nicht gestatteten?«
Valerie schoß das Blut ins Gesicht. Sie konnte nicht antworten.
»Das Gericht wird noch viel intimere Dinge wissen wollen, gnädige Frau. Am besten, Sie bereiten sich gleich darauf vor. Sie sind eine Dame, die aus einem angesehenen, soliden Elternhaus kommt. Viele Fragen, die der Richter und der Kurator Ihnen stellen werden, wären auch für eine weniger ordentliche Frau als Sie beschämend, erniedrigend und peinigend. Aber es wird unerläßlich sein, daß Sie antworten – die Wahrheit natürlich«, sagte Forster, sein rechtes Ohr bearbeitend. »Die reine Wahrheit, immer. Denn Sie müssen damit rechnen, vereidigt zu werden. Das müssen alle Beteiligten. Und das sollten auch alle Beteiligten gleich von Anfang an wissen. Besonders der Vater des Kindes.« Er tat, als hätte sie seine Frage beantwortet: »Also widernatürliche sexuelle Wünsche, ich habe mir schon etwas Derartiges gedacht …«
Seine Stimme wurde leiser für Valeries Gehör, während sie dachte: So also bringt er mir bei, wie ich mich verhalten muß, was uns bevorsteht.
So bringt er mir bei, daß ich werde lügen, lügen, lügen müssen, meinen Paul mit Dreck bewerfen, verleumden, schlechtmachen, als ein Schwein hinstellen – und daß auch Martin Landau das tun muß. Er will sehen, ob ich durchhalte. Ich halte durch! Lieber Gott im Himmel, hilf mir jetzt, bitte. Es geschieht für den Buben, du weißt es. Hab Erbarmen. Paul will es. Laß alles gutgehen. Und mach, daß mir der Martin nicht zusammenbricht …
»Die Niederschrift, um die ich Sie gebeten habe, gnädige Frau, muß präzise Angaben enthalten: Namen, Orte, Gelegenheiten, Ereignisse. Alle diese Dinge müssen räumlich und zeitlich stimmen, was die Geburt des Jungen angeht. Und für alle diese Dinge brauchen wir Zeugen.«
»Ich habe eine Zeugin. Agnes Peintinger. Unsere Wirtschafterin. Sie war schon vor der Geburt meines Sohnes bei uns. Sie hat alles miterlebt. Sie wird meine Angaben bestätigen.« (Wenn Hochwürden Pankrater es ihr gestattet, dachte Valerie und fühlte, wie ihre Knie zu zittern begannen.)
»Eine Zeugin ist sehr wenig.«
»Da wäre noch die Schwester des Vaters. Die hat auch alles miterlebt … Aber die wird nicht aussagen.«
»Warum nicht?«
»Sie fürchtet sich … will nichts mit Gerichten zu tun haben … will in nichts hineingezogen werden …«
»Sehr bedauerlich. Aber verständlich. Völlig verständlich. So ein Prozeß ist gefährlich. Er kann – unter Umständen, wenn man bei krassen Lügen ertappt wird – lebensgefährlich werden, gnädige Frau.«
Valerie dachte: Wenn Martin das jetzt gehört hätte, daß es lebensgefährlich sein kann, was wäre dann, Allmächtiger, was wäre dann?
»Das Gericht darf auf Antrag des Kurators, also des Verteidigers der ehelichen Geburt, unseres Gegners, Zeugen vorladen und sie zur Aussage auffordern.«
»Tilly – ich meine die Schwester des Vaters – wird aber nicht aussagen!«
»Böse«, sagte Forster.
»Wieso böse?«
»Wenn sie von ihrem Recht der Aussageverweigerung Gebrauch macht, dann zieht das Gericht natürlich Schlüsse daraus. Es muß doch noch andere Zeugen geben, die bereit sind, Ihnen zu …« Fast hätte ich ›helfen‹ gesagt, dachte Forster, verärgert über sich selbst. »Ich meine: Ihnen bei diesem Prozeß durch eigene Wahrnehmungen zu bestätigen, daß Sie und der wirkliche Vater die Wahrheit sagen. Wir brauchen unbedingt noch jemanden.«
Valeries Gesicht war grau geworden. Ihre Hände öffneten und schlossen sich ununterbrochen, Forster bemerkte es. Nicht schön, dachte er, gar nicht schön. Aber was soll ich tun? Wegschicken die Frau? Mit dem Brief dieses Schweines von einem Direktor schon auf dem Tisch des Herrn Schirach? Was wird dann aus dem Jungen? Man muß es versuchen, versuchen muß man es immer und immer wieder im Kampf gegen diese verfluchte braune Pest.
Valerie blickte auf.
»1923, als wir heirateten, da herrschte solche Wohnungsnot in Wien! Da lebten wir über ein Jahr in Untermiete bei einer gewissen Frau Hermine Lippowski. In Dorbach draußen. Sie hatte uns eine Etage ihrer Villa abgetreten.«
»Würde Frau Lippowski Ihre Angaben als Zeugin bestätigen?«
»Das weiß ich nicht …«
Forster wurde plötzlich wütend.
»Wie haben Sie sich denn das vorgestellt, gnädige Frau? Sie kommen zu mir und sagen: mein Kind hat einen anderen Vater, los, jetzt weißt du es, sieh zu, daß es zum Arier erklärt wird! Was dachten Sie sich denn? Daß die Na … daß die Gerichte solche Prozesse gern sehen?«
Valerie sagte bebend: »Ich werde heute noch Frau Lippowski aufsuchen und mit ihr sprechen.«
»Das werden Sie, ja! Wir müssen so sicher wie möglich gehen. Wir müssen die größten Chancen haben zu gewinnen, bevor wir den Prozeß anfangen. Verzeihen Sie, daß ich laut wurde. Ich denke an Sie … und die Menschen, die Sie hineinziehen in diese Sache.«
»Ich begreife schon«, sagte Valerie leise.
»Nein. Sie begreifen leider immer noch nicht! Es ist das reine russische Roulette, so ein Prozeß – auch mit den besten Zeugenaussagen, auch wenn alles stimmt, auch wenn man einen verständnisvollen Richter bekommt!«
»Was geschieht denn noch?« stammelte Valerie.
»Es wird eine ausführliche, anthropologische Untersuchung geben«, sagte Forster. »Also Untersuchungen der körperlichen und seelischen Eigenschaften des Jungen, der Ihren und der des Vaters – im Sinne der Rassengesetze. Ferner eine Untersuchung des Herrn Steinfeld …«
»Aber der ist doch in England!«
»… auf Grund von Fotografien, soweit das möglich ist. Das Gericht wird Professoren als Gutachter einsetzen. Und dann kommt die Blutgruppenbestimmung. Von ihrem Ausgang hängt alles ab.«
»Ich verstehe nicht …« Valerie atmete schneller.
Etwas knirschte.
Nun hat sie ihr Tuch also zerrissen, dachte Forster und sagte: »Ruhig, gnädige Frau, ganz ruhig. Sehen Sie: Die Blutgruppe des Kindes hat bestimmte Blutgruppen der Eltern zur Voraussetzung, Das können verschiedene Gruppen sein.« Valerie hob den Kopf. »Aber nach den Mendelschen Regeln schließt die Kombination gewisser Blutgruppen bei den Eltern eine bestimmte Blutgruppe des Kindes absolut aus.« Valeries Kopf sank wieder. »Mit anderen Worten: Hat das Kind eine solche Gruppe, und haben Kindesmutter und angeblicher Kindesvater die gewissen anderen Gruppen, dann kann mit Sicherheit behauptet werden, daß der vorgebliche Kindesvater unter keinen Umständen der wirkliche Kindesvater ist.« Danach entstand eine Stille, die so groß war, daß durch die geschlossenen Fenster der grollende Lärm der schweren Wehrmachtslaster hereindrang, die immer noch über die Donaukanalbrücke rollten.
»Sie brauchen doch keine Angst zu haben, gnädige Frau. Sie sind doch ganz sicher, daß Ihr Mann nicht der Vater ihres Sohnes ist, sondern der Mann, dessen Namen Sie mir noch nennen müssen … oder?«
Valerie sagte eilig: »Ganz sicher!«
»Nun also!« Forster dachte: Arme Person. Verfluchtes Nazigesindel.«
Dann wird das auch die Blutgruppenbestimmung ergeben.«
»Ich meine …« Valerie war ins Stammeln gekommen, ihr Gesicht hatte sich wieder blutrot gefärbt, ihre Augen flackerten. »Ich meine … so sicher ich eben sein kann …«
»Wieso? War da – entschuldigen Sie die Frage, gnädige Frau – war da noch ein dritter Mann?« Immer dasselbe Elend, dachte der Anwalt, immer dasselbe.
»Ja … nein … ja …« Valerie war jetzt den Tränen nahe. »Einmal war da noch ein Mann … Aber er kann es nicht gewesen sein … bestimmt nicht … Ich meine … Ich kann es mir nicht vorstellen … Doch, ich bin sicher, es war …«
Der Martin darf von dieser ganzen Blutgruppengeschichte überhaupt nichts hören, dachte Valerie entsetzt. Der kippt mir ja um. Ein Mann wie er! Und in der Partei!
»Wenn Sie nicht absolut sicher sind«, sagte Dr. Forster, »kann natürlich der Fall eintreten, daß trotzdem alles gutgeht, selbst falls der von Ihnen Angegebene – verzeihen Sie – doch nicht der Kindesvater sein sollte. Voraussetzung dafür: Der wirkliche Vater hat dieselbe Blutgruppe wie Ihr Mann – oder eine, die in Verbindung mit der Ihren die des Jungen möglich macht.«
»Sie wird möglich sein! Sie muß möglich sein!« Valerie fuhr hoch.
»Trotzdem … Die lange Zeit, die man da wartet, die Nervenanspannung … Ist es … ist es nicht zu machen, daß wir vor dem Prozeß zu einem Arzt gehen und unsere Blutgruppen feststellen lassen? Nur zu unserer Beruhigung? Sie verstehen schon …«
»Ich verstehe schon«, sagte Forster traurig. »Nein, gnädige Frau, das ist nicht zu machen.«
»Aber wieso nicht?«
»Weil zu einer solchen Untersuchung ein serologisches Laboratorium gehört. Nach einer Bestimmung des Reichssippenhauptamtes haben alle Ärzte oder Institute, die solche Untersuchungen durchführen, diese sofort dem Reichssippenhauptamt zu melden – mit allen Namen und Einzelheiten. Und bei Prozessen wie dem von Ihnen angestrebten erkundigt sich das Gericht gleich zu Beginn beim Reichssippenhauptamt, ob schon eine Blutgruppenuntersuchung vorgenommen worden ist. Wenn ja, dann erblickt das Gericht darin … ich brauche nicht weiterzusprechen.«
»Nein«, sagte Valerie, »das brauchen Sie nicht.« Sie fragte mit sehr leiser Stimme. »Und wenn nun die Untersuchung ergibt, daß der, den ich für den Vater halte, daß der – wegen dieses anderen Mannes, ich kann es mir nicht vorstellen, aber ich muß es wissen –, daß der als Vater doch nicht in Frage kommt, was geschieht dann?«
»Dann«, sagte Forster, und das Herz tat ihm weh, »wäre allerdings eine sehr unangenehme Situation entstanden, die man auch dann noch in den Griff bekommen könnte, schwer zwar, aber doch, ja, ja, seien Sie beruhigt. Nur den Prozeß, den Prozeß hätten Sie dann natürlich verloren. Nun, also wie ist es? Ich mußte Ihnen das alles vorher sagen, Sie verstehen. Wollen Sie immer noch auf jeden Fall …« Er unterbrach sich selbst, denn das Telefon auf seinem Schreibtisch läutete. Er hob ab. »Ja?« Er rief erfreut: »Klever? Ich lasse ihn bitten, in das Konferenzzimmer zu gehen und ein wenig zu …« Er lauschte wieder. »Aber ich habe eine wichtige Besprechung! Eine halbe Stunde dauert das sicherlich noch …« Er hörte zu. »Na schön«, sagte er dann, »wenn das so ist … ich komme.« Er legte auf und erhob sich. »Verzeihen Sie bitte, gnädige Frau. Dringender Besuch, der nicht warten kann. Wollen Sie mich kurz entschuldigen?«
Valerie gab keine Antwort.