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»Daß Albert mich mit diesem Mantel und diesem Homburg beschattete, ja, daß er überhaupt stets hinter mir her war, das wußte ich damals natürlich noch nicht«, sagte Nora Hill. »Das hat er mir erst später erzählt, viel später – der Dreckskerl.« Sie trank das Glas, das Manuel Aranda während ihres Berichtes noch zweimal gefüllt hatte, aus und zerdrückte eine Zigarette im Aschenbecher. Das Feuer des offenen Kamins brannte mit hohen, züngelnden Flammen. Funken sprühten, wenn ein Holzscheit brach. »Ach, was heißt Dreckskerl – ein Mensch eben«, sagte die so jugendlich wirkende Mittfünfzigerin in dem silbernen Abendkleid.
Manuel fragte hastig: »Was geschah mit diesem Chauffeur? Was geschah überhaupt weiter?«
Nora Hill lächelte, ihr breiter Mund öffnete sich und zeigte die schönen Zähne.
»Hier, mein Freund, unterbreche ich.«
»Wieso? Hören Sie …«
»Es tut mir leid. Aber ich bin nun zu einem Punkt gekommen, der es erfordert, daß andere eine Lücke in meiner Erzählung füllen. Was mit mir in den nächsten sechs Wochen geschah, ist uninteressant. Mit Valerie Steinfeld geschah eine Menge, wovon ich bis zum heutigen Tag nichts weiß. Sie wollen doch die Geschichte Valerie Steinfelds – oder?«
»Natürlich!«
»Nun, die ganze Geschichte kenne ich auch nicht. Ich sagte Ihnen eingangs, dies ist kein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Es ist eine böse Geschichte. Auch andere Menschen haben wichtige Rollen in ihr gespielt. Diese Menschen sollen nun erzählen, was sie wissen – wie ich. Ich weiß noch einiges, und ich werde es Ihnen berichten – später. Zuerst müssen Sie herausfinden, was in jenen sechs Wochen geschah, die meiner Begegnung mit Valerie Steinfeld folgten. Es interessiert mich selber. Sehen Sie, ich habe Ihnen das Ende eines Wollknäuels in die Hand gegeben, das weit und wirr abgerollt ist. Sie müssen den Faden nun entlanggehen und ihn wieder zum Knäuel wickeln – nur so kommen Sie aus dem Labyrinth heraus, in das ich Sie geführt habe …«
»Großartig macht sie das«, sagte in dem Kleinmädchenzimmer Fedor Santarin.
»Yeah«, grunzte Gilbert Grant. »Großartig. Und was tun wir, bis Aranda die ganze Wahrheit zusammengesucht hat?«
»Er muß die ganze Wahrheit zusammensuchen, Gilbert, Sie Narr«, sagte der Russe ruhig. »Nur so wird er Noras Bitte erfüllen.«
In dem großen Wohnzimmer des Appartements sagte Manuel: »Was läßt Sie glauben, daß Valerie Steinfeld in diesen sechs Wochen viel erlebt hat?«
»Tatsachen«, sagte die Frau mit den gelähmten Beinen. »Bevor ich am sechzehnten November nach Lissabon flog, rief ich die Steinfeld an, wie verabredet. Wir trafen uns wieder in der Stephanskirche. Ja, sagte sie, nun habe sie sich doch entschlossen, den Prozeß zu führen. Sie sei auch schon bei diesem Doktor Forster gewesen. Die Sache laufe bereits.«
»Und sie sagte Ihnen nicht, was sie zu diesem Entschluß gebracht hatte?«
»Ich fragte sie. Sie wollte es nicht sagen. Ich bin ganz sicher, daß etwas Schwerwiegendes geschehen war. Sie hatte wahrscheinlich Angst, ihren Mann zu beunruhigen. Der sollte über mich und Jack Cardiff nur erfahren, daß sie tat, worum er sie ersucht hatte. Er sollte beruhigt sein.« Noras Blick glitt zur Seite. »Sie war eine großartige Frau«, sagte sie leise. »Der einzige Mensch in meinem Leben …« Nora goß sich selbst Whisky pur ein und trank hastig. »Sie müssen sehen, daß Sie Doktor Forster finden, mein Freund. Sie müssen mit Martin Landau reden. Dann komme wieder ich an die Reihe.« Sie lächelte nochmals und sah aus wie eine junge Frau. Aber ihr Lächeln war seltsam starr.
Grübelnd fragte Manuel: »Sie sagen, vor sechsundzwanzig Jahren hätten Sie Frau Steinfeld die Zyankali-Kapseln gegeben?«
»1943, im Sommer, ja. Die Situation war da schon viel gefährlicher geworden. Sie hatte mich darum gebeten. Ich verschaffte mir das Zyankali und gab es ihr. Wenn etwas passierte, dann wollte Valerie Steinfeld Gift für sich und den Jungen. Gutes, schnell wirkendes Gift, das unbegrenzt … entschuldigen Sie.«
Manuel schüttelte den Kopf.
»Nichts zu entschuldigen. Ich danke für Ihre Aufrichtigkeit. Aber …« Er hatte plötzlich Mühe, zu sprechen. »… aber warum brachte sie dann zuletzt meinen Vater und sich selber um mit diesen Kapseln?«
»Ich weiß es nicht, Herr Aranda.«
»Er war doch Argentinier! Er kann doch mit dieser Geschichte nichts zu tun gehabt haben! Oder?«
»Ein unsinniger Gedanke.«
»Nicht wahr?«
»Aber vielleicht doch nicht ganz so unsinnig.«
»Was heißt das?«
»Nichts, Herr Aranda. Sie wollen die Wahrheit finden. Es wird schwer sein.«
Manuel stützte den Kopf in die Hände.
»Sie sind nun noch viel verwirrter, als Sie es zuvor waren, natürlich. Und Sie werden weiter verwirrt werden, das ist sicher. Doch zuletzt werden Sie die Wahrheit kennen, die häßliche Wahrheit.«
»Wieso häßlich?«
»Die Wahrheit ist immer häßlich. Das wissen Sie doch – oder sind Sie noch zu jung dafür?«
Anstatt zu antworten, fragte er, aufstehend: »Und Herr Steinfeld? Und der Junge? Was wurde aus ihnen?«
Nora zuckte die Schultern.
»Ich war nach Kriegsende lange Zeit sehr krank. Es ist nämlich gerade damals passiert …«
Manuel blickte schnell auf die Krücken und wieder weg.
»Ich sah Frau Steinfeld erst Mitte März 1948 wieder. Da besuchte ich sie, in der Buchhandlung. Und fragte natürlich, wie sich die Dinge für sie entwickelt hätten. Wir waren vor Kriegsende oft zusammen gewesen – aber dann riß die Verbindung eben ab.«
»Und was hat sie gesagt?«
»Sie war sehr elend und traurig. Beinahe verwirrt. Sie erzählte mir, ihr Mann habe sich scheiden lassen, und ihr Sohn habe eine Einladung angenommen, in den Vereinigten Staaten zu studieren und zu arbeiten. Er würde in Los Angeles leben.«
Manuel sagte hilflos: »Jemandem andern … ihrer Nichte … erzählte Frau Steinfeld, ihr Mann sei im Krieg gefallen, und der Junge sei nach Kanada ausgewandert, weil sie sich nicht miteinander verstanden. Das zeigt, daß ihre Nichte von der ganzen Geschichte überhaupt nichts weiß. Frau Steinfeld hat sie belogen.«
»Vielleicht belog sie uns beide«, sagte Nora Hill.
»Aber warum?«
»Sie kann Gründe dafür gehabt haben.«
»Wenn es stimmt, was sie Ihnen erzählt hat, dann müßte man doch ihren Mann finden können, falls der noch lebt – oder zumindest den Jungen, diesen Heinz!« Manuel wurde lauter. »Wenn es stimmt, was sie Ihnen erzählt hat, dann bedeutet das doch jedenfalls, daß sie den Prozeß damals gewann!«
»Nicht unbedingt. Heinz kann auch so durchgekommen sein. Und es muß nicht stimmen, was sie mir erzählt hat. Sie war verwirrt, ich sagte es schon. Als ich sie fragte, wie der Prozeß geendet hätte, behauptete sie, er sei überhaupt nicht zu Ende geführt worden.« Nora hob eine Hand. »Es ist alles sehr geheimnisvoll, was damals geschah. Auch für mich – heute noch.«
»Wenn der Junge in Amerika lebt – warum ist er dann nicht einmal jetzt nach Wien gekommen, nach dem Tod seiner Mutter?«
»Tja, warum nicht, Herr Aranda?« Nora Hill erhob sich, auf die Krücken gestützt. »Sie stehen am Anfang eines langen Weges. Ich will Ihnen helfen, soweit ich es vermag. Das letzte Rätsel müssen Sie selber lösen …«
»Erste Klasse«, sagte Fedor Santarin, ein künstliches Glied betrachtend, auf das Vergißmeinnicht-Blüten gemalt waren. Er hatte es aus einer Spielzeugkiste genommen. »Den bringt jetzt nichts mehr von der Verfolgung der Spur ab. Den hat das Jagdfieber gepackt – dank Nora. Trinken Sie einen Schluck auf ihr Wohl, Gilbert …«
»Es ist spät geworden«, sagte Nora zu Manuel. »Sie werden müde sein.«
»Ich muß fort«, sagte Manuel, dem in diesem Augenblick etwas eingefallen war.
Gemeinsam verließen sie das Appartement. An Manuels Seite schwang Nora Hill, fast graziös, auf ihren Krücken die Treppe in die Halle hinab, in der es nun sehr laut zuging. Neue Gäste waren gekommen. Sie tranken, redeten und tanzten mit den Mädchen. Jazz erklang aus Lautsprechern. Kellner eilten hin und her. Nora Hill grüßte nach verschiedenen Seiten. Manuel fühlte sich, als hätte er Fieber. Menschen stießen ihn an. Plötzlich stand der Diener Georg da. Er sagte Nora etwas ins Ohr. Sie nickte und wandte sich halb ab, um Georg ihrerseits etwas zu sagen. Im gleichen Moment verspürte Manuel eine Berührung. Er sah auf. Dicht neben ihm, in einem Nylon-Spitzencape, auf hochhackigen Schuhen, tanzte die rothaarige Yvonne mit einem Farbigen. Durch das Cape sah man ihren nackten Körper. Blitzschnell glitten Yvonnes Finger über Manuels Jacke. Dann verschwand das Mädchen schon wieder in der Menge. Manuel steckte eine Hand in die Tasche. Ein Zettel befand sich jetzt darin.
»Ich begleite Sie zum Ausgang«, sagte Nora Hill. Er fuhr herum. Sie sah ihn ernst an. Hat sie etwas gemerkt? überlegte er. Georg, der Diener, steuerte durch die Halle auf eine Tür zu, hinter der er verschwand.
»Der Schneefall hat aufgehört«, sagte Nora Hill, als Manuel in der Garderobe seinen Mantel anzog. Sie reichte Manuel eine Hand. »Sobald Sie mit den anderen gesprochen haben, besuchen Sie mich gleich wieder …« Sie blieb in der offenen Eingangstür stehen und sah ihm nach, wie er zu seinem Wagen ging. Er drehte sich um und winkte. Nora Hill hob eine Krücke und winkte mit ihr zurück. Dann schloß sie die Tür und eilte schnell durch den Gang der Garderobe in die Halle und auf jene Tür zu, hinter der Georg verschwunden war. Sie öffnete die Tür und trat in ein prächtig orientalisch eingerichtetes Zimmer. Georg gab eben einem eleganten Mann mit blassem Gesicht, umschatteten Augen, langen Wimpern und graumeliertem Haar Feuer für seine Zigarette.
»Guten Abend, cher ami«, sagte Nora Hill.
»Madame«, sagte Jean Mercier, Chef des französischen Reisebüros ›Bon Voyage‹ in Wien, sich schnell erhebend und zu ihr tretend, »ich bin entzückt, Sie zu sehen.« Er verneigte sich tief und küßte ihre Hand. »Ist er fort?«
»Ja.«
»Ich sagte Georg, daß ich ihn nicht sehen will. Er soll nicht wissen, wie ich ausschaue …«
»Das ist doch ganz klar. Sie können gehen, Georg.«
»Sehr wohl, Madame.« Der Diener verschwand.
Sofort fragte Mercier: »De Brakeleer ist gekommen?«
Nora nickte.
»Und?«
»Alles in bester Ordnung. Die Filmaufzeichnung muß tadellos geworden sein.«
»Wunderbar.« Mercier rieb sich die Hände.
»Die Aufzeichnung liegt in einer Recorder-Kassette. Ihre Kollegen erwarten Sie übrigens schon«, sagte Nora Hill.
»Mein Citroën steht direkt hinter der alten Kastanie, Madame. Hier sind die Schlüssel. Bitte legen Sie die Kassette in das Handschuhfach, sperren Sie ab und geben Sie mir die Schlüssel später zurück, wenn – oh!« Mercier hatte endlich Noras ironischen Blick bemerkt. »Wie konnte ich das vergessen.« Er entnahm seiner Brieftasche einen Scheck, den er ihr überreichte. Nora steckte ihn in den Ausschnitt des Kleides.
»Ich bin nur eine hilflose Frau«, sagte sie. »Ich darf kein Risiko eingehen. Das verstehen Sie doch, nicht wahr?«
»Gewiß.«
»Und deshalb werde ich mir erlauben, diesen Barscheck morgen vormittag erst einzulösen, bevor ich Ihnen die Aufzeichnung gebe. Am Nachmittag können Sie die Kassette holen.«
»Aber Madame …«
»Manche Leute kommen auf die seltsamsten Ideen. Zum Beispiel auf die, Schecks sperren zu lassen. Stellen Sie sich vor, so etwas gibt es. Ich muß wirklich achtgeben. Hier, Ihre Autoschlüssel, cher ami …«
Zu dieser Zeit fuhr Manuel Aranda schon durch eine stille, verschneite Villenstraße ostwärts, der Stadt entgegen. Es war kein Mensch zu erblicken. Manuel hielt und nahm aus der Tasche seiner Jacke den Zettel, den Yvonne dorthin gesteckt hatte. Er knipste die Lampe über dem Armaturenbrett an. In der nervösen, phantasievollen Schrift einer Intellektuellen waren diese Worte gekritzelt:
›Ich kann Ihnen vielleicht helfen. Habe bis Sonntag in der Villa Dienst, danach frei. Rufen Sie Sonntag gegen Mittag an. 86 57 41. Kommen Sie dann zu mir. Ihr Vater ist auch zu mir gekommen. Yvonne Werra.‹