44

»Daß Albert mich mit diesem Mantel und diesem Homburg beschattete, ja, daß er überhaupt stets hinter mir her war, das wußte ich damals natürlich noch nicht«, sagte Nora Hill. »Das hat er mir erst später erzählt, viel später – der Dreckskerl.« Sie trank das Glas, das Manuel Aranda während ihres Berichtes noch zweimal gefüllt hatte, aus und zerdrückte eine Zigarette im Aschenbecher. Das Feuer des offenen Kamins brannte mit hohen, züngelnden Flammen. Funken sprühten, wenn ein Holzscheit brach. »Ach, was heißt Dreckskerl – ein Mensch eben«, sagte die so jugendlich wirkende Mittfünfzigerin in dem silbernen Abendkleid.

Manuel fragte hastig: »Was geschah mit diesem Chauffeur? Was geschah überhaupt weiter?«

Nora Hill lächelte, ihr breiter Mund öffnete sich und zeigte die schönen Zähne.

»Hier, mein Freund, unterbreche ich.«

»Wieso? Hören Sie …«

»Es tut mir leid. Aber ich bin nun zu einem Punkt gekommen, der es erfordert, daß andere eine Lücke in meiner Erzählung füllen. Was mit mir in den nächsten sechs Wochen geschah, ist uninteressant. Mit Valerie Steinfeld geschah eine Menge, wovon ich bis zum heutigen Tag nichts weiß. Sie wollen doch die Geschichte Valerie Steinfelds – oder?«

»Natürlich!«

»Nun, die ganze Geschichte kenne ich auch nicht. Ich sagte Ihnen eingangs, dies ist kein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Es ist eine böse Geschichte. Auch andere Menschen haben wichtige Rollen in ihr gespielt. Diese Menschen sollen nun erzählen, was sie wissen – wie ich. Ich weiß noch einiges, und ich werde es Ihnen berichten – später. Zuerst müssen Sie herausfinden, was in jenen sechs Wochen geschah, die meiner Begegnung mit Valerie Steinfeld folgten. Es interessiert mich selber. Sehen Sie, ich habe Ihnen das Ende eines Wollknäuels in die Hand gegeben, das weit und wirr abgerollt ist. Sie müssen den Faden nun entlanggehen und ihn wieder zum Knäuel wickeln – nur so kommen Sie aus dem Labyrinth heraus, in das ich Sie geführt habe …«

»Großartig macht sie das«, sagte in dem Kleinmädchenzimmer Fedor Santarin.

»Yeah«, grunzte Gilbert Grant. »Großartig. Und was tun wir, bis Aranda die ganze Wahrheit zusammengesucht hat?«

»Er muß die ganze Wahrheit zusammensuchen, Gilbert, Sie Narr«, sagte der Russe ruhig. »Nur so wird er Noras Bitte erfüllen.«

In dem großen Wohnzimmer des Appartements sagte Manuel: »Was läßt Sie glauben, daß Valerie Steinfeld in diesen sechs Wochen viel erlebt hat?«

»Tatsachen«, sagte die Frau mit den gelähmten Beinen. »Bevor ich am sechzehnten November nach Lissabon flog, rief ich die Steinfeld an, wie verabredet. Wir trafen uns wieder in der Stephanskirche. Ja, sagte sie, nun habe sie sich doch entschlossen, den Prozeß zu führen. Sie sei auch schon bei diesem Doktor Forster gewesen. Die Sache laufe bereits.«

»Und sie sagte Ihnen nicht, was sie zu diesem Entschluß gebracht hatte?«

»Ich fragte sie. Sie wollte es nicht sagen. Ich bin ganz sicher, daß etwas Schwerwiegendes geschehen war. Sie hatte wahrscheinlich Angst, ihren Mann zu beunruhigen. Der sollte über mich und Jack Cardiff nur erfahren, daß sie tat, worum er sie ersucht hatte. Er sollte beruhigt sein.« Noras Blick glitt zur Seite. »Sie war eine großartige Frau«, sagte sie leise. »Der einzige Mensch in meinem Leben …« Nora goß sich selbst Whisky pur ein und trank hastig. »Sie müssen sehen, daß Sie Doktor Forster finden, mein Freund. Sie müssen mit Martin Landau reden. Dann komme wieder ich an die Reihe.« Sie lächelte nochmals und sah aus wie eine junge Frau. Aber ihr Lächeln war seltsam starr.

Grübelnd fragte Manuel: »Sie sagen, vor sechsundzwanzig Jahren hätten Sie Frau Steinfeld die Zyankali-Kapseln gegeben?«

»1943, im Sommer, ja. Die Situation war da schon viel gefährlicher geworden. Sie hatte mich darum gebeten. Ich verschaffte mir das Zyankali und gab es ihr. Wenn etwas passierte, dann wollte Valerie Steinfeld Gift für sich und den Jungen. Gutes, schnell wirkendes Gift, das unbegrenzt … entschuldigen Sie.«

Manuel schüttelte den Kopf.

»Nichts zu entschuldigen. Ich danke für Ihre Aufrichtigkeit. Aber …« Er hatte plötzlich Mühe, zu sprechen. »… aber warum brachte sie dann zuletzt meinen Vater und sich selber um mit diesen Kapseln?«

»Ich weiß es nicht, Herr Aranda.«

»Er war doch Argentinier! Er kann doch mit dieser Geschichte nichts zu tun gehabt haben! Oder?«

»Ein unsinniger Gedanke.«

»Nicht wahr?«

»Aber vielleicht doch nicht ganz so unsinnig.«

»Was heißt das?«

»Nichts, Herr Aranda. Sie wollen die Wahrheit finden. Es wird schwer sein.«

Manuel stützte den Kopf in die Hände.

»Sie sind nun noch viel verwirrter, als Sie es zuvor waren, natürlich. Und Sie werden weiter verwirrt werden, das ist sicher. Doch zuletzt werden Sie die Wahrheit kennen, die häßliche Wahrheit.«

»Wieso häßlich?«

»Die Wahrheit ist immer häßlich. Das wissen Sie doch – oder sind Sie noch zu jung dafür?«

Anstatt zu antworten, fragte er, aufstehend: »Und Herr Steinfeld? Und der Junge? Was wurde aus ihnen?«

Nora zuckte die Schultern.

»Ich war nach Kriegsende lange Zeit sehr krank. Es ist nämlich gerade damals passiert …«

Manuel blickte schnell auf die Krücken und wieder weg.

»Ich sah Frau Steinfeld erst Mitte März 1948 wieder. Da besuchte ich sie, in der Buchhandlung. Und fragte natürlich, wie sich die Dinge für sie entwickelt hätten. Wir waren vor Kriegsende oft zusammen gewesen – aber dann riß die Verbindung eben ab.«

»Und was hat sie gesagt?«

»Sie war sehr elend und traurig. Beinahe verwirrt. Sie erzählte mir, ihr Mann habe sich scheiden lassen, und ihr Sohn habe eine Einladung angenommen, in den Vereinigten Staaten zu studieren und zu arbeiten. Er würde in Los Angeles leben.«

Manuel sagte hilflos: »Jemandem andern … ihrer Nichte … erzählte Frau Steinfeld, ihr Mann sei im Krieg gefallen, und der Junge sei nach Kanada ausgewandert, weil sie sich nicht miteinander verstanden. Das zeigt, daß ihre Nichte von der ganzen Geschichte überhaupt nichts weiß. Frau Steinfeld hat sie belogen.«

»Vielleicht belog sie uns beide«, sagte Nora Hill.

»Aber warum?«

»Sie kann Gründe dafür gehabt haben.«

»Wenn es stimmt, was sie Ihnen erzählt hat, dann müßte man doch ihren Mann finden können, falls der noch lebt – oder zumindest den Jungen, diesen Heinz!« Manuel wurde lauter. »Wenn es stimmt, was sie Ihnen erzählt hat, dann bedeutet das doch jedenfalls, daß sie den Prozeß damals gewann!«

»Nicht unbedingt. Heinz kann auch so durchgekommen sein. Und es muß nicht stimmen, was sie mir erzählt hat. Sie war verwirrt, ich sagte es schon. Als ich sie fragte, wie der Prozeß geendet hätte, behauptete sie, er sei überhaupt nicht zu Ende geführt worden.« Nora hob eine Hand. »Es ist alles sehr geheimnisvoll, was damals geschah. Auch für mich – heute noch.«

»Wenn der Junge in Amerika lebt – warum ist er dann nicht einmal jetzt nach Wien gekommen, nach dem Tod seiner Mutter?«

»Tja, warum nicht, Herr Aranda?« Nora Hill erhob sich, auf die Krücken gestützt. »Sie stehen am Anfang eines langen Weges. Ich will Ihnen helfen, soweit ich es vermag. Das letzte Rätsel müssen Sie selber lösen …«

»Erste Klasse«, sagte Fedor Santarin, ein künstliches Glied betrachtend, auf das Vergißmeinnicht-Blüten gemalt waren. Er hatte es aus einer Spielzeugkiste genommen. »Den bringt jetzt nichts mehr von der Verfolgung der Spur ab. Den hat das Jagdfieber gepackt – dank Nora. Trinken Sie einen Schluck auf ihr Wohl, Gilbert …«

»Es ist spät geworden«, sagte Nora zu Manuel. »Sie werden müde sein.«

»Ich muß fort«, sagte Manuel, dem in diesem Augenblick etwas eingefallen war.

Gemeinsam verließen sie das Appartement. An Manuels Seite schwang Nora Hill, fast graziös, auf ihren Krücken die Treppe in die Halle hinab, in der es nun sehr laut zuging. Neue Gäste waren gekommen. Sie tranken, redeten und tanzten mit den Mädchen. Jazz erklang aus Lautsprechern. Kellner eilten hin und her. Nora Hill grüßte nach verschiedenen Seiten. Manuel fühlte sich, als hätte er Fieber. Menschen stießen ihn an. Plötzlich stand der Diener Georg da. Er sagte Nora etwas ins Ohr. Sie nickte und wandte sich halb ab, um Georg ihrerseits etwas zu sagen. Im gleichen Moment verspürte Manuel eine Berührung. Er sah auf. Dicht neben ihm, in einem Nylon-Spitzencape, auf hochhackigen Schuhen, tanzte die rothaarige Yvonne mit einem Farbigen. Durch das Cape sah man ihren nackten Körper. Blitzschnell glitten Yvonnes Finger über Manuels Jacke. Dann verschwand das Mädchen schon wieder in der Menge. Manuel steckte eine Hand in die Tasche. Ein Zettel befand sich jetzt darin.

»Ich begleite Sie zum Ausgang«, sagte Nora Hill. Er fuhr herum. Sie sah ihn ernst an. Hat sie etwas gemerkt? überlegte er. Georg, der Diener, steuerte durch die Halle auf eine Tür zu, hinter der er verschwand.

»Der Schneefall hat aufgehört«, sagte Nora Hill, als Manuel in der Garderobe seinen Mantel anzog. Sie reichte Manuel eine Hand. »Sobald Sie mit den anderen gesprochen haben, besuchen Sie mich gleich wieder …« Sie blieb in der offenen Eingangstür stehen und sah ihm nach, wie er zu seinem Wagen ging. Er drehte sich um und winkte. Nora Hill hob eine Krücke und winkte mit ihr zurück. Dann schloß sie die Tür und eilte schnell durch den Gang der Garderobe in die Halle und auf jene Tür zu, hinter der Georg verschwunden war. Sie öffnete die Tür und trat in ein prächtig orientalisch eingerichtetes Zimmer. Georg gab eben einem eleganten Mann mit blassem Gesicht, umschatteten Augen, langen Wimpern und graumeliertem Haar Feuer für seine Zigarette.

»Guten Abend, cher ami«, sagte Nora Hill.

»Madame«, sagte Jean Mercier, Chef des französischen Reisebüros ›Bon Voyage‹ in Wien, sich schnell erhebend und zu ihr tretend, »ich bin entzückt, Sie zu sehen.« Er verneigte sich tief und küßte ihre Hand. »Ist er fort?«

»Ja.«

»Ich sagte Georg, daß ich ihn nicht sehen will. Er soll nicht wissen, wie ich ausschaue …«

»Das ist doch ganz klar. Sie können gehen, Georg.«

»Sehr wohl, Madame.« Der Diener verschwand.

Sofort fragte Mercier: »De Brakeleer ist gekommen?«

Nora nickte.

»Und?«

»Alles in bester Ordnung. Die Filmaufzeichnung muß tadellos geworden sein.«

»Wunderbar.« Mercier rieb sich die Hände.

»Die Aufzeichnung liegt in einer Recorder-Kassette. Ihre Kollegen erwarten Sie übrigens schon«, sagte Nora Hill.

»Mein Citroën steht direkt hinter der alten Kastanie, Madame. Hier sind die Schlüssel. Bitte legen Sie die Kassette in das Handschuhfach, sperren Sie ab und geben Sie mir die Schlüssel später zurück, wenn – oh!« Mercier hatte endlich Noras ironischen Blick bemerkt. »Wie konnte ich das vergessen.« Er entnahm seiner Brieftasche einen Scheck, den er ihr überreichte. Nora steckte ihn in den Ausschnitt des Kleides.

»Ich bin nur eine hilflose Frau«, sagte sie. »Ich darf kein Risiko eingehen. Das verstehen Sie doch, nicht wahr?«

»Gewiß.«

»Und deshalb werde ich mir erlauben, diesen Barscheck morgen vormittag erst einzulösen, bevor ich Ihnen die Aufzeichnung gebe. Am Nachmittag können Sie die Kassette holen.«

»Aber Madame …«

»Manche Leute kommen auf die seltsamsten Ideen. Zum Beispiel auf die, Schecks sperren zu lassen. Stellen Sie sich vor, so etwas gibt es. Ich muß wirklich achtgeben. Hier, Ihre Autoschlüssel, cher ami …«

Zu dieser Zeit fuhr Manuel Aranda schon durch eine stille, verschneite Villenstraße ostwärts, der Stadt entgegen. Es war kein Mensch zu erblicken. Manuel hielt und nahm aus der Tasche seiner Jacke den Zettel, den Yvonne dorthin gesteckt hatte. Er knipste die Lampe über dem Armaturenbrett an. In der nervösen, phantasievollen Schrift einer Intellektuellen waren diese Worte gekritzelt:

›Ich kann Ihnen vielleicht helfen. Habe bis Sonntag in der Villa Dienst, danach frei. Rufen Sie Sonntag gegen Mittag an. 86 57 41. Kommen Sie dann zu mir. Ihr Vater ist auch zu mir gekommen. Yvonne Werra.‹

Und Jimmy ging zum Regenbogen
cover.html
haupttitel.html
navigation.html
chapter1.html
chapter2.html
chapter3.html
chapter4.html
chapter5.html
chapter6.html
chapter7.html
chapter8.html
chapter9.html
chapter10.html
chapter11.html
chapter12.html
chapter13.html
chapter14.html
chapter15.html
chapter16.html
chapter17.html
chapter18.html
chapter19.html
chapter20.html
chapter21.html
chapter22.html
chapter23.html
chapter24.html
chapter25.html
chapter26.html
chapter27.html
chapter28.html
chapter29.html
chapter30.html
chapter31.html
chapter32.html
chapter33.html
chapter34.html
chapter35.html
chapter36.html
chapter37.html
chapter38.html
chapter39.html
chapter40.html
chapter41.html
chapter42.html
chapter43.html
chapter44.html
chapter45.html
chapter46.html
chapter47.html
chapter48.html
chapter49.html
chapter50.html
chapter51.html
chapter52.html
chapter53.html
chapter54.html
chapter55.html
chapter56.html
chapter57.html
chapter58.html
chapter59.html
chapter60.html
chapter61.html
chapter62.html
chapter63.html
chapter64.html
chapter65.html
chapter66.html
chapter67.html
chapter68.html
chapter69.html
chapter70.html
chapter71.html
chapter72.html
chapter73.html
chapter74.html
chapter75.html
chapter76.html
chapter77.html
chapter78.html
chapter79.html
chapter80.html
chapter81.html
chapter82.html
chapter83.html
chapter84.html
chapter85.html
chapter86.html
chapter87.html
chapter88.html
chapter89.html
chapter90.html
chapter91.html
chapter92.html
chapter93.html
chapter94.html
chapter95.html
chapter96.html
chapter97.html
chapter98.html
chapter99.html
chapter100.html
chapter101.html
chapter102.html
chapter103.html
chapter104.html
chapter105.html
chapter106.html
chapter107.html
chapter108.html
chapter109.html
chapter110.html
chapter111.html
chapter112.html
chapter113.html
chapter114.html
chapter115.html
chapter116.html
chapter117.html
chapter118.html
chapter119.html
chapter120.html
chapter121.html
chapter122.html
chapter123.html
chapter124.html
chapter125.html
chapter126.html
chapter127.html
chapter128.html
chapter129.html
chapter130.html
chapter131.html
chapter132.html
chapter133.html
chapter134.html
chapter135.html
chapter136.html
chapter137.html
chapter138.html
chapter139.html
chapter140.html
chapter141.html
chapter142.html
chapter143.html
chapter144.html
chapter145.html
chapter146.html
chapter147.html
chapter148.html
chapter149.html
chapter150.html
chapter151.html
chapter152.html
chapter153.html
chapter154.html
chapter155.html
chapter156.html
chapter157.html
chapter158.html
chapter159.html
chapter160.html
chapter161.html
chapter162.html
chapter163.html
chapter164.html
chapter165.html
chapter166.html
chapter167.html
chapter168.html
chapter169.html
chapter170.html
chapter171.html
chapter172.html
chapter173.html
chapter174.html
chapter175.html
chapter176.html
chapter177.html
chapter178.html
chapter179.html
chapter180.html
chapter181.html
chapter182.html
chapter183.html
chapter184.html
chapter185.html
chapter186.html
chapter187.html
chapter188.html
chapter189.html
chapter190.html
chapter191.html
chapter192.html
chapter193.html
chapter194.html
chapter195.html
chapter196.html
chapter197.html
chapter198.html
chapter199.html
chapter200.html
chapter201.html
chapter202.html
chapter203.html
chapter204.html
chapter205.html
chapter206.html
chapter207.html
chapter208.html
chapter209.html
chapter210.html
footnotes.html
info_autor.html
info_buch.html
impressum.html
hinweise.html