18
Valerie ging, den Brief in der Hand Iangsam durch das Zimmer zu einem Fenster. Sie wandte allen den Rücken, während sie abwesend den Vorhang berührte. Hinter diesem war eine schwarze Papierrolle herabgelassen – die Verdunkelungsvorrichtung, wie an allen Fenstern der Stadt. Verdunkelt wegen feindlicher Flugzeuge war ganz Wien, war ganz Deutschland. Valerie hob die schwarze Papierrolle seitlich etwas an. Im Hof war es so finster, daß sie nicht einmal die nächsten Äste der drei großen, alten Kastanienbäume erblicken konnte. Dennoch starrte sie in diese Finsternis, mindestens eine Minute lang. Hinter ihr blieb es still, absolut still. Tief Atem holte Valerie, bevor sie sich umdrehte und mit fester Stimme sagte: »Nun gut, wenn es also keinen anderen Weg gibt! Du brauchst keine Angst zu haben, Heinz. Gar keine.« Sie mußte schlucken, bevor sie weitersprechen konnte. »Es wird nichts geschehen, überhaupt nichts.«
»Aber der Friedjung schreibt doch, daß er schon den Schirach verständigt hat!« Jetzt schrie Heinz nicht mehr. Jetzt saß er, klein, angsterfüllt und bleich, auf einer Truhe.
Valerie mußte wieder schlucken, sie mußte es nun dauernd.
»Schirach wird nichts unternehmen. Denn du bist kein Mischling.«
»Was?« flüsterte Heinz. »Was bin ich nicht?«
»Du bist kein jüdischer Mischling Ersten Grades.« Jedes Wort bereitete Valerie Mühe. Sie stemmte die Hände hinter sich auf das Fensterbrett, um Halt zu haben. Nun ist es soweit, daß ich es tun muß, dachte sie. Ja, nun muß ich es tun, und schnell.
»Aber wenn mein Vater doch Jude ist …«
»Der Mann, mit dem ich verheiratet bin, ist Jude«, sagte Valerie Steinfeld langsam, leicht würgend, mit jedem Wort ringend, »aber dieser Mann ist nicht dein Vater.«
»Jesus, Maria und Josef!« rief die Agnes.
Martin Landau ballte in ohnmächtigem Zorn die Fäuste. Sie hat mich überrumpelt, dachte er. Hereingelegt hat sie mich, betrogen! Das also schwebte ihr vor, als sie mich überredete, hierher zu kommen. Ist das eine Niedertracht, nein, ist das eine Gemeinheit!
Landau tat Valerie Unrecht: Sie hatte ihn nicht mit dieser Absicht hergebracht, sie hatte wirklich nur gewünscht, einen Mann zur Seite zu haben, wenn sie mit ihrem Sohn sprach. Der Ausschlag, das zu tun, was sie nie tun wollte, war durch den Brief gekommen, diesen furchtbaren Brief des Direktors Friedjung.
Heinz hatte sich erhoben. Er starrte seine Mutter an. Er stotterte: »Nicht mein Vater … aber wieso … aber was heißt … aber das gibt es doch nicht!«
»Das gibt es«, sagte Valerie, und nun kam ihre Stimme plötzlich ruhig und ohne Mühe über die Lippen, flach jedoch, fremd und kalt, unmenschlich fast, so wie ihr Gesicht plötzlich kalt, fremd und unmenschlich wirkte in seiner Starrheit. »Natürlich gibt es das, Heinz. Ich habe nie darüber gesprochen, weil es alles andere als angenehm für mich ist, darüber zu sprechen … Jetzt muß es sein. Ich habe meinen Mann betrogen.«
»Also immerhin …«, begann Landau erbittert.
»Sei still, Martin, ja?« Valerie sah ihn an. Er schwieg. Die Agnes bekreuzigte sich. »Ich habe mich nie sehr gut mit meinem Mann verstanden. Ich habe ihn schon bald nach der Heirat mit einem andern betrogen. Dieser andere ist dein Vater, Heinz, nicht mein Mann. Und dieser andere ist Arier.« Valeries Worte kamen wie von einer Schallplatte. »Und darum bist du kein Mischling, darum bist auch du Arier, reiner Arier!« Nun mußte Valerie doch tief Luft holen, mühsam ging es, weh tat es in der Brust. »Und das werde ich jetzt öffentlich erklären. Vor Gericht. Du kannst dir denken, daß ich es vermeiden wollte, solange ich konnte. Aber nun tue ich es.«
Die drei Menschen vor ihr rührten sich nicht. Die Gesichter der Erwachsenen waren verstört oder verzerrt vor Schreck. In dem Gesicht des Jungen zuckte es. Er fragte atemlos: »Ist das auch wirklich wahr, Mami?«
»Das ist wirklich wahr, Heinz.«
»Aber … aber … aber wer ist dann mein Vater, mein wirklicher Vater?«
Eine Sekunde verstrich, zwei Sekunden verstrichen, drei Sekunden verstrichen. Heinz’ Blick irrte hin und her.
»Wer, Mami, wer?«
»Kannst du es dir nicht denken?«
Der Junge stammelte: »Der … der Onkel Martin?«
Valerie nickte.
Heinz lief zu Landau. Er atmete schnell, in seinem Gesicht begann sich eine unendliche Glückseligkeit zu verbreiten.
»Wirklich? Wirklich, Onkel Martin?«
Das ist die größte Infamie, die man sich denken kann, dachte Landau. Er zitterte vor Wut und Schwäche, hin und her gerissen zwischen grenzenlosem Zorn, aber auch grenzenlosem Mitleid, als er diese feuchten, bittenden, fragenden Kinderaugen sah. Die allergrößte Infamie von der Welt! Wenigstens noch einmal reden mit mir hätte Valerie müssen vorher, mich fragen, ob ich auch einverstanden bin. Herrgott, was wird Tilly sagen, entsetzlich. Und wenn Valerie jetzt diesen Prozeß beginnt … Furchtbar, ganz furchtbar ist das! Warum muß mir das passieren? Womit habe ich so etwas verdient?
»Onkel Martin, wirklich?«
Und in dem Moment, da er wiederum die flehende Stimme des Jungen hörte, ging eine große Verwandlung mit dem ewig geduckten, verschreckten Martin Landau vor sich. Er reckte sich. Sein Gesicht wurde entschlossen und ernst. Seine Stimme klang fest und freundlich: »Ja, mein Junge, es ist wahr.«
»Lieber Gott im Himmel, steh uns bei!« murmelte die Agnes.
Plötzlich fühlte Landau sich von Heinz umarmt und auf beide Wangen geküßt. Er haßte es, wenn man ihn umarmte, er haßte es, wenn man ihn küßte, oh, was für eine Situation!
»Ich bin ja so froh!« rief Heinz. »So froh! Ich habe es gewußt! Immer, immer habe ich es gewußt!«
»Was?« fragte Martin Landau, zurückweichend, während Heinz ihn losließ.
»Daß da etwas nicht stimmen kann! Daß ich kein Halbjud sein kann! Daß ich ein Arier sein muß!« Heinz rannte zu Valerie. Er umarmte sie und küßte auch sie, viele Male. Dazu stammelte er: »Verzeih mir, Mami, bitte, verzeih mir, daß ich so geschrien hab … alles, was ich gesagt hab … Ich konnte doch nicht wissen … Oh, Mami, Mami, das ist der schönste Tag in meinem Leben! Ich danke dir, daß du es nun doch gesagt hast, daß du es jetzt vor Gericht sagen willst …«
Valerie war in Rage gekommen, ihr Atem ging schnell, die Worte überstürzten sich, es war, als wollte sie alles, was ihr das Herz zusammenpreßte, aussprechen, schnell, schnell, bevor sie es sich anders überlegte, auf daß ihre Handlung unwiderrufbar werde: »Und nicht nur dem Gericht werde ich es sagen, Heinz, auch diesem blödsinnigen Friedjung! Der soll sich wundern, der Idiot!«
»Der Idiot!« wiederholte Heinz, glücklich lachend. »Agnes, hörst du das alles, hörst du das? Ich bin kein Halbjud! Ich bin ein Arier! Und der Onkel Martin ist mein wirklicher Vater, nicht der Jude! Oh, Mami, Mami …«
Die Agnes betete leise.
»Das war also eine schlechte Ehe, die du geführt hast …«
Die Stimme Nora Hills klang in Valeries Ohren: »Ihr Mann hat geschrien, Sie sollen alles, alles, alles tun, um den Jungen zu schützen!«
»Eine schlechte Ehe, ja«, sagte Valerie.
»Ich habe es mir gedacht! Oft habe ich es gespürt. Nein, wirklich, Kinder spüren das! Und darum habe ich ihn ja auch nicht mögen, darum habe ich einen solchen Haß auf ihn, nicht? Weil er doch gar nicht mein Vater ist!«
Valerie hörte plötzlich geisterhaft ihre eigene Stimme: »… seinen Vater, den haßt er wie die Pest! Ist das nicht schrecklich?«
Und Nora Hills Stimme antwortete geisterhaft in Valeries Ohren:
»Schrecklich? Wunderbar ist das!«
»Was hast du gesagt, Mami?«
Sie fuhr auf. Dicht, ganz dicht vor ihr waren Heinz’ fragende Augen, sein befreites, seliges Gesicht.
»Ich … ich habe … Ja, das wird so sein, wie du sagst, Heinz. Natürlich, du hast ihn nie mögen, das hast du mir oft genug erzählt in den letzten Jahren …« In den letzten Jahren, dachte Valerie. Früher, da hatte er seinen Vater geliebt. »Das ist die Erklärung, freilich.«
»Und weiß er es?«
»Nein. Niemand hat es bis zu diesem Moment gewußt, nur Martin und ich.«
Heinz begann wieder zu lachen.
»Was hast du?«
»Er weiß es nicht!« Heinz lachte immer lauter. »Nie hat er es gewußt, der dumme Jud, und jetzt sitzt er in England und weiß nicht, daß ich es jetzt weiß! Gar nichts weiß er! Gar nichts! Ist das komisch! Ist das …«
Er brach jäh ab. »Mir ist schlecht«, sagte er stammelnd. »Ich muß mich hinlegen …«
»Warte, ich bringe dich …«
»Nein, es geht schon! Ich hab dich lieb, Mami, so lieb!« Heinz stolperte von ihr fort zur Tür. Er kam an Landau vorbei. »… und dich, Onkel Martin …« Ein Schluchzen: »… Vater!« Er verschwand. Gleich darauf hörten die drei Zurückbleibenden die Tür seines Zimmers zufallen.
Valerie hielt den Blicken Landaus und der Agnes stand. Der schmächtige Buchhändler biß sich auf die Lippe, er sah aus, als wolle er jeden Moment in Tränen ausbrechen. Aber er schwieg. Nur die Fäuste hielt er wieder geballt.
Das Schweigen dauerte an.
»Agnes!« sagt Valerie schließlich.
»Ja, gnä’ Frau?«
»Was haben Sie dazu zu sagen?«
Die Agnes zögerte. Dann sank ihre Stimme zu einem Flüstern herab.
»Das ist doch alles nicht wahr, gnä’ Frau! Herr Landau, es ist nicht wahr, gelt? Ich sag’s immer, wie’s ist, das wissen gnä’ Frau. Und so sag ich jetzt: Was die gnä’ Frau da dem Heinz erzählt hat, das kann nicht wahr sein! Die gnä’ Frau und der gnä’ Herr haben die beste Ehe von der Welt geführt, ich weiß das, ich war doch dabei all die Jahr’! Nie werd ich das glauben! Nie! Und es ist auch nicht wahr!«
»Nein«, antwortete Valerie, gleichfalls flüsternd, »nein, Agnes. Natürlich ist es nicht wahr.«