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»Das war das letzte Mal, daß ich Heinz in meinem Leben gesehen habe«, sagte Bianca Barry, sechsundzwanzig Jahre später an derselben Stelle des Marktplatzes von Fischamend stehend. »Nie mehr, nein, nie mehr sah ich ihn wieder …«
Manuel und Irene, die neben ihr standen, schwiegen.
Endlich blickte Bianca sie wieder an.
»Da drüben war die Gendarmerie untergebracht«, sagte sie. »Dort, wo jetzt das Kolonialwarengeschäft ist. Oft kam ich hierher, schon seit den ersten Jahren nach dem Krieg. Ich bin immer zum Strom hinuntergegangen und habe zur Insel geschaut, zu unserer Insel. Dort war ich nie mehr …«
»Und Heinz hat niemals mehr versucht, mit Ihnen in Verbindung zu treten?« fragte Irene.
»Niemals, nein.« In Biancas Stimme klang seltsamer Stolz. »Ich habe alles versucht, alles! Meine Freundin hat ihm Briefe über Briefe gebracht, in denen ich um ein Rendezvous gebettelt, gefleht habe. Er ist niemals erschienen. Meine Freundin hat versucht, mit ihm vernünftig zu sprechen, ihn umzustimmen – auch vergebens. Er hat mich damals vor die Wahl gestellt. Ich habe gewählt. Das ist alles. Er hat sich an die Spielregeln gehalten.«
»Aber das ist doch …«, begann Manuel und brach ab, als er Irenes Blick bemerkte.
»Was ist das?« fragte Bianca.
»Nichts.« Manuel fröstelte plötzlich. Es wurde dämmrig.
»Damals, in jener Nacht«, sagte Bianca, »da stand ich noch zehn Minuten hier, auf diesem Fleck. Ich konnte mich nicht rühren. Dann lief ich zum Bahnhof. Immer noch mit dem Russenmantel und der Brottasche. Der letzte Zug nach Wien war abgefahren. Ich mußte zu Fuß gehen.«
»Was, von hier bis nach Wien?«
»Ja«, sagte Bianca. »Über fünf Stunden war ich unterwegs. Irgendwo hinter Schwechat habe ich den Mantel und den Beutel weggeworfen. Mutter war halbtot vor Angst, als ich endlich ankam. Ich mußte ihr die Wahrheit sagen – wenigstens, daß ich Heinz getroffen hatte. Meine Freundin konnte mir da nicht mehr helfen.«
»Und?«
»Nichts und«, sagte Bianca. »Mein Vater war ja verreist, zum Glück. Und Mutter hatte fürchterliche Angst vor ihm. Eine schwache, hilflose Person. Sie weinte bloß, und sie ließ mich schwören, daß ich Heinz nun nicht mehr sehen würde. Ich schwor. Mir war alles so egal, so egal. Ich konnte nicht mehr. Meine Füße bluteten. Ich war vollkommen erschöpft. Mein Vater hat nie etwas erfahren …«
Wieder folgte ein Schweigen.
Dann sagte Bianca: »Verstehen Sie jetzt, warum ich Sie hierher geführt habe? Daß ich Ihnen die Insel zeigen wollte, wenn ich Ihnen meine Geschichte mit Heinz erzählte?«
»Ja«, sagte Irene.
»Es war der wichtigste und der schönste und der schrecklichste Tag für mich«, sagte Bianca. »Jetzt kennen Sie mein Geheimnis. Es hat nur einen Mann gegeben, den ich ohne alle Grenzen, besinnungslos und bedingungslos liebte. Sie sollten sehen, wo es geschehen ist, damals, an jenem Sonntag im Juni, Sie sollten es sehen. Es hilft Ihnen nicht weiter, Herr Aranda, bei Ihrer Suche, nicht wahr?«
»Es hilft mir sehr weiter«, sagte er hilflos und erschüttert über diese junge Frau. »Ich verstehe jetzt alles, was damals geschah, viel besser … die Verzweiflungen … und die Glückseligkeiten …«
Bianca sagte: »Es war wundervoll, wie er sich benahm, damals, so wundervoll, nicht wahr?«
Manuel konnte nur nicken, aber Irene sagte laut: »Ja.«
»Die Wahl, vor die er mich stellte … Er war ein einzigartiger Mensch … und niemals, niemals«, sagte Bianca, »werde ich einen anderen Menschen so bewundern, so verehren, so lieben können wie ihn, nein, niemals. Heinz ist mein Vorbild und meine Sehnsucht und mein ganzer Lebensinhalt geworden, mein ewiger Geliebter …«