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Zu dieser Zeit lag Alphonse Louis Clairon in der Abteilung L 73 auf dem Wiener Zentralfriedhof schon unter einer Schneeschicht von neun Zentimeter Höhe. Die Boeing 707 der TWA, in welcher der blonde, stichelhaarige David Parker saß, der Clairons Leben jählings zu einem gewaltsamen Ende gebracht hatte, flog bereits über den Antlantik, der Neuen Welt entgegen.
Groll war in Grinzing von seiner Mordkommission angerufen worden. Man brauchte ihn dringend.
»Was ist passiert?«
»Hören Sie einmal, Herr Hofrat«, sagte ein Kriminalbeamter, der sich offenbar in einem Vernehmungszimmer befand. Aus der Membran von Grolls Telefonhörer erklang auf einmal Gebrüll, so laut und wüst, daß der Hofrat den Hörer vom Ohr nahm und auch Manuel die tobende Stimme eines anderen Beamten vernehmen konnte.
»Das Messer hat auf dem Tisch gelegen! Und da hast du es genommen und bist los auf ihn!«
Eine weibische, hohe Männerstimme jaulte: »Es war Notwehr! Er hat doch hingefaßt und mir die Hose aufknöpfen wollen, das alte Schwein!«
»Einen Dreck hat er!« schrie der Kriminalbeamte, der gewiß nicht lauter schreien konnte. »Du, du hast was von ihm gewollt! Seine Kröten! Du hast ihn absahnen wollen, du Lump! Und weil er dir nichts gegeben hat, hast du das Messer gepackt und ihn abgestochen wie eine Sau!«
»Ich komme gleich«, sagte Groll in den Hörer und legte auf. »Sie sehen«, meinte er zu Manuel, »wir haben auch nette, einfache und klare Morde in Wien …« Er nahm seinen Mantel. »Ich muß ins Geschäft. Kommen Sie mit. Mein Wagen bringt Sie zum Hotel.«
Manuel antwortete nicht.
»Was haben Sie?«
»Seien Sie nicht böse. Ich möchte noch ein wenig hier sitzenbleiben«, antwortete Manuel. »Glauben Sie, Ihr Freund erlaubt es?«
»Natürlich. Ist Ihnen nicht gut?«
»Doch. Es war nur … alles ein bißchen viel für mich. Ich möchte nachdenken … und allein sein …«
»Das verstehe ich«, sagte der Hofrat. »Wir sehen uns morgen. Bleiben Sie, solange Sie mögen. Seelenmacher wird Ihnen ein Taxi besorgen, wenn Sie heimfahren wollen.« Er schüttelte Manuel die Hand. »Kopf hoch«, sagte er.
»Jaja.«
»Das war eine dumme Bemerkung, ich weiß«, murmelte Groll. Er sah den jungen Mann hilflos an, legte ihm kurz die Hand auf die Schulter und verließ den Raum. Gleich darauf hörte Manuel einen Wagen fortfahren. Aus der Tiefe erklangen noch immer das Zitherspiel und der leise Gesang des Weinhauers.
Manuel trank sein Glas leer und füllte es wieder. Er sah zu dem kleinen, offenen Fenster und betrachtete die Schneeflocken, die herabsanken, bis ihm wieder schwindlig wurde. So viele Flocken, dachte er. So viele Geheimnisse. Eine Frau hat meinen Vater vergiftet. Mein Vater war in eine böse Affäre verwickelt. Damit muß ich mich abfinden. Vielleicht stellt sich heraus, daß ihn trotz allem keine Schuld traf, daß er ein Opfer war und kein Täter. Aber das verschlüsselte Manuskript. Was hat es zu bedeuten? Kann es überhaupt eine gute Bedeutung haben? Ich bin Chemiker. Ich habe eine exakte Wissenschaft studiert. Mir ist es nicht gegeben, mit Unsicherheiten, Rätseln und Zweifeln zu leben. Ich brauche Tatsachen, vernünftige Tatsachen, um all dies Dunkel aufzuhellen und zu klären. Habe ich nicht genug Tatsachen? Zwei Tote. Geheime Agenten. Eine Staatsaffäre, wenn Groll recht hat. Das Manuskript. Ja, das sind Tatsachen, die man dennoch nicht versteht! Verzweifelt dachte Manuel: Unser aller Existenz ist eine Tatsache. Aber sie wäre unbegreiflich, wenn wir nicht hier wären. Wir sind hier, und sie bleibt weiter unbegreiflich. Vater, dachte er, Vater, den ich liebe, darf ich noch glauben, daß du der wunderbare Mann warst, als der du mir immer erschienen bist?
»Sie war eine wunderbare Frau …«
Das hatte Irene Waldegg von Valerie Steinfeld gesagt, heute nachmittag, vor dem verschneiten Grab.
Eine wunderbare Frau.
Und mein Vater war ein wunderbarer Mann.
Können wir beide recht haben? Täusche ich mich? Täuscht sich Irene? Irene!
Plötzlich mußte Manuel heftig an sie denken. Irene hat Nachtdienst heute, in der Apotheke. Ich will noch zu ihr fahren. Ich muß ihr erzählen, was geschehen ist. Ich muß mit ihr sprechen. Große Sehnsucht, Irene Waldegg wiederzusehen, erfüllte ihn, aber seine Glieder waren schwer wie Blei. Noch fünf Minuten, dachte er. Noch ein Glas Wein.
Als er den Krug hob, öffnete sich die Tür, und Seelenmacher kam herein.
Es war Manuel nicht aufgefallen, daß schon seit einiger Zeit kein Gesang und kein Zitherspiel mehr erklangen.
Der große Mann mit dem wettergegerbten Gesicht brachte einen Krug und Gläser mit. Er lächelte Manuel an, nickte und setzte sich zu ihm. Seelenmacher schwieg eine ganze Weile, dann sagte er: »Mein Freund hat mich gebeten, nach Ihnen zu schauen.« Er füllte die neuen Gläser aus dem neuen Krug. »Versuchen Sie einmal den«, sagte er. »Eine andere Sorte. Ich habe nur ganz wenig davon. Frühroter Veltliner.« Seelenmacher sprach langsam und einfach. »Sie haben einen großen Kummer, sagt mir mein Freund. Und großes Unglück ist Ihnen widerfahren. Sie sind verwirrt und verstört und traurig.«
Manuel nickte. Der neue Wein wärmte ihn und machte ihn benommen. Irene, dachte er, ich will zu Irene fahren. In ein paar Minuten. Noch ein paar Minuten will ich hierbleiben, im Frieden und in der Geborgenheit dieses Zimmers …
»Wolfgang – der Hofrat Groll – hat Ihnen erzählt, daß ich ein Priesterseminar besuchte und Pfarrer werden wollte, nicht wahr?«
Manuel nickte.
»Nun«, sagte Seelenmacher, »damals, vor langer Zeit, traf ich – mit Erlaubnis – immer wieder einen Rabbiner im Zweiten Bezirk. Wir diskutierten nächtelang in seiner Synagoge. Er erzählte mir eine chassidische Legende, die ich nie vergessen habe. Ich möchte sie gern Ihnen erzählen – vielleicht tröstet Sie die Geschichte. Wollen Sie sie hören?«
Manuel nickte.
Seelenmacher sagte, seine zerfurchten, großen und von schwerer Arbeit rauhen Hände betrachtend: »Nach dieser Legende gibt es, seit unsere Welt besteht, Gerechte und Ungerechte auf ihr. Manchmal mehr Gerechte, manchmal weniger. Immer aber und zu allen Zeiten gibt es mindestens sechsunddreißig von ihnen. Die muß es geben, denn sonst könnte unsere Welt keinen Tag lang weiterexistieren, sie würde untergehen in der eigenen Schuld …« Seelenmacher trank, und auch Manuel trank wieder von dem neuen Wein und sah zu dem silbernen Rieselvorhang der Flocken vor dem Fenster. »Die Sechsunddreißig sind nicht durch Rang oder Stellung gezeichnet. Sie verraten ihr Geheimnis nie. Vielleicht kennen sie es selbst nicht. Und trotzdem sind sie es, die in jeder neuen Generation unserem Leben seine Berechtigung geben und jeden Tag von neuem die Welt retten.«
Seelenmacher schwieg wie Manuel.
Nach einer langen Pause sagte er: »Die Sechsunddreißig lassen nicht zu, daß Unrecht besteht oder ungesühnt bleibt. Die Sechsunddreißig sorgen auch dafür, daß Sie wieder Frieden finden werden in der Kenntnis der Wahrheit.«
Das Telefon läutete.
Seelenmacher hob ab und meldete sich. Dann reichte er den Hörer zu Manuel.
»Für Sie. Eine Frau.«
»Wie heißt sie?«
»Sie nannte mir nicht ihren Namen. Sie sagte nur, es sei sehr dringend.« Manuel nahm den Hörer und meldete sich: »Hier ist Aranda. Mit wem spreche ich? Was ist so dringend?«
Eine dunkle Frauenstimme ertönte: »Außerordentlich dringend ist es, Herr Aranda. Man hat mir gesagt, daß Sie in Grinzing sind.«
Die Autos, die uns folgten, dachte Manuel. Also warten sie noch immer. Er fragte: »Wer hat es Ihnen gesagt?«
»Es ist weit zu mir. Und kompliziert von Grinzing aus. Sie haben einen eigenen Wagen. Er steht vor dem Hotel, höre ich. Vom Hotel aus ist es einfacher. Ich erkläre Ihnen den Weg genau. Nehmen Sie ein Taxi zum ›Ritz‹ und dann Ihren Mercedes.«
»Wer sind Sie?«
»Sie werden es nicht bereuen, wenn Sie kommen. Ich habe Ihnen das anzubieten, was Sie suchen.«
»Hören Sie nicht? Ich frage, wer Sie sind!« rief Manuel.
»Mein Name«, erwiderte die tiefe, dunkle Stimme, »ist Nora Hill. Ich bin die Frau, von der Valerie Steinfeld die Zyankali-Kapseln bekam.«