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Am Montag, dem 4. Oktober 1942, kurz nach neun Uhr vormittags, betrat Nora Hill, vom Neuen Markt und dem Opernring her kommend, das obere Ende der stillen Seilergasse. Es war ein kalter, düsterer Tag, an dem es nicht richtig hell wurde. Nora Hill, eben aus dem Süden eingetroffen, fror, obwohl sie über einem maisfarbenen Wollkleid mit schwarzem Wildledergürtel einen Baby-Leopardenmantel und einen schwarzen Turban auf dem Kopf trug. Die Füße der schönen Beine steckten in italienischen Schuhen aus schwarzem Wildleder mit Keilabsätzen, eine schwarze Krokodillederhandtasche hing am rechten Unterarm. In der Tasche lag die Pistole, die Jack Cardiff ihr gegeben hatte. Am 24. Mai war Nora Hill siebenundzwanzig Jahre alt geworden.

Ihr Gang wirkte provozierend erotisch. Durch heftiges Make-up sah sie wie eine Ausländerin aus. (›Die deutsche Frau schminkt sich nicht!‹ predigte unablässig die Propaganda der Partei.) Nora Hill hatte sehr große, dunkle Augen mit langen Wimpern, einen großen Mund, den ein Lippenstift noch größer erscheinen ließ, und schwarzes, seidiges Haar, das unter dem Turban hervorlugte. Ihre Wildlederhandschuhe hatte sie vor kurzem ausgezogen. Die langen Fingernägel waren, wie der überzeichnete Mund, grellrot angestrichen. Am rechten Handgelenk trug Nora Hill ein breites Platinarmband mit großen Brillanten im Baguettenschnitt und, am zweiten äußeren Finger, einen ungewöhnlichen Ring, lückenlos mit roten, grünen, blauen und weißen Steinen besetzt. Alle Frauen, die Nora Hill begegneten, musterten sie feindselig, alle Männer gierig, alle drehten sich nach ihr um.

Glotzt nicht so! Die Aufforderung, mich derart zu kleiden und zu schminken, geht von Deutschen aus, dachte Nora Hill. Das hatte man ihr gleich zu Beginn, noch in Berlin, befohlen. Die Überlegung dahinter schien gar nicht so idiotisch: Im Ausland fiel eine elegante, schöne und mondän gekleidete Frau nicht übermäßig auf, und das war gut, in Deutschland fiel sie um so mehr auf, und das war noch besser, denn auf diese Weise konnte man einen Menschen wie Nora Hill sehr leicht beschatten und sehr schwer aus den Augen verlieren. Deshalb auch der Schmuck. Nora Hill hatte ihn aus Deutschland geschafft und in einem Lissabonner Banksafe deponiert, wo noch sehr viel mehr Schmuck lag. Nun waren das Armband und der Ring wieder in Deutschland, weil Jack Cardiff gesagt hatte: »Wenn du zu dieser Valerie Steinfeld gehst, dann mußt du so auffallend aussehen wie möglich! Damit du auch dem dämlichsten Gestapomann, der dich etwa verfolgen sollte, klarmachen kannst, daß du nicht eine solche Kriegsbemalung gewählt hättest, falls du an einem Verbrechen gegen das Regime beteiligt wärest …«

Zur Hölle mit dieser Valerie Steinfeld, dachte Nora Hill erbittert. Ich kenne sie nicht. Ich interessiere mich nicht für sie. Sie geht mich nichts an. Ich habe genug zu tun, um selber heil davonzukommen. Und da sagt Jack: »Du mußt zu ihr gehen. Du mußt ihr helfen. Ich bitte dich darum.«

Das ist ja das Niederträchtigste, dachte Nora Hill, daß ich natürlich alles tun würde, worum Jack mich bittet. Ich liebe ihn. Man sieht, wohin die Liebe führt …

Die Menschen, die Nora begegneten, seit sie in Wien gelandet war, erschienen ihr allesamt krank, traurig und mutlos. Das war jedesmal so, wenn sie aus dem Ausland zurückkam. Nach einigen Tagen verlor der Eindruck sich zum Teil. Unmittelbar nach einer Heimkehr deprimierte er Nora Hill besonders.

Die Häuser der Seilergasse zeigten an den Mauern, in Brusthöhe mit weißer oder gelber Ölfarbe hingeschmiert, Pfeile und Aufschriften wie RICHTUNG KAI oder RICHTUNG OPER, in Kniehöhe Abkürzungen LSR und NA, was ›Luftschutzraum‹ beziehungsweise ›Notausstieg‹ bedeutete. Die Wegweiser sollten im Katastrophenfall den über Trümmer dahinirrenden Menschen ungefähre Orientierung verschaffen und Rettungsarbeiten ermöglichen. Voraussetzung für die Wirksamkeit all dieser Hinweise war natürlich, daß sie nach einem Luftangriff noch existierten. Bisher war Wien nicht bombardiert worden.

ABSTIEG ZU DEN KATAKOMBEN stand neben einem Hauseingang. Die Katakomben, ein viele Jahrhunderte altes Labyrinth von Gängen, die fast den ganzen 1. Bezirk unterhöhlen, waren an manchen Stellen als Luftschutzräume freigegeben worden. Rechts vom Eingang befand sich ein Lederwarengeschäft, in dessen Auslage wenige billige Schaustücke aus schlechtem Material standen, und neben diesem Geschäft lag jenes, das Nora suchte. Über den halbhoch mit Holz verschalten Schaufenstern war eine lange, verwitterte Metalltafel angebracht, einstmals wohl hellgrün, jetzt schmutzig und dunkel, auf der in altmodischen, schadhaften Buchstaben stand:

BUCHHANDLUNG UND ANTIQUARIAT LANDAU, GEGRÜNDET 1811

Die Klinke der Eingangstür ließ sich nur schwer bewegen, sie war verrostet. Nora Hill drehte sich schnell um und musterte aufmerksam die Menschen in der kurzen Straße. Frauen. Kinder. Soldaten, wenige Zivilisten. Ein Mann auf einem Fahrrad keuchte vorbei, es war hinten hoch mit festgebundenen Kartons beladen. Nein, entschied Nora, niemand ist mir gefolgt. Der Mann mit Homburg und blauem Mantel, welcher der jungen Frau seit ihrer Ankunft auf dem Fliegerhorst Langenlebarn bei Wien gefolgt war, fuhr eben noch rechtzeitig hinter das Hauseck am Ende der Seilergasse zurück und sah auf die große Normaluhr in der Mitte des Neuen Marktes.

9 Uhr 06. Der Mann mit dem Homburg zündete eine Zigarette an. Er hatte das Gefühl, daß es länger dauern werde, was immer Nora Hill in dieser Buchhandlung zu erledigen hatte. Er war ein Mann, den seine Gefühle fast nie trogen.

›Freut euch des Lebens, weil noch das Lämpchen glüht …‹ erklang silberhell die Glockenmelodie des alten Liedes, als Nora die Eingangstür öffnete und den Laden betrat. In der Buchhandlung brannte elektrisches Licht. An langen Messingstäben hingen Milchglaskugeln von der Decke herab. Soweit sie erleuchtet waren, sah man am Grund jeder Kugel Schatten – Schmutz, der sich da angesammelt hatte. Die Messingstäbe waren fleckig. Ein mächtiger Kachelofen stand im Verkaufsraum. Das Marienglas seiner Feuertür leuchtete rot.

Nora Hill schloß die in den Angeln quietschende und widerstrebende Tür – das Glockenspiel ertönte wieder –, wandte sich nach links und erblickte einen mindestens zwei Meter großen, hoch aufgerichteten schwarzen Bären, ausgestopft, mit abgeschabtem Fell. Es war ein Baribal-Bär der Art, die in Nordamerika lebt. Das prompte Rendezvous ließ Nora Hill zum erstenmal an diesem Morgen etwas besserer Stimmung werden.

Und Jimmy ging zum Regenbogen
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