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»Carl Flemming hatte sein Appartement auf der anderen Seite des Hauses«, sagte Nora Hill. »Nach dem Kriege wurde hier alles umgebaut.«
Die Frau in dem leuchtend bunten Hosenanzug erhob sich geschmeidig und schwang auf ihren Krücken behende zu dem Fernsehapparat. Sie drückte zwei Knöpfe.
»Ich zeige Ihnen einmal, wie sein früheres Arbeitszimmer heute aussieht. Muß ohnedies einmal nachschauen, was die Trauergemeinde macht.« Harmoniumspiel ertönte, während die Mattscheibe sich langsam erhellte. »Na, Gott sei Dank, alles in Ordnung, keine Nervenzusammenbrüche, keine hysterischen Anfälle.«
Manuel erblickte den großen, völlig in Schwarz gehaltenen Raum, den Nora ihm bei dem Rundgang anläßlich seines ersten Besuches kurz präsentiert hatte. Silberne Kandelaber mit hohen, brennenden Kerzen standen in diesem Zimmer, große Vasen mit weißen Lilien. An einer Seitenwand erblickte Manuel ein liebevoll aufgebautes kaltes Buffet.
Ungefähr ein Dutzend Frauen saßen auf schwarzen Stühlen. Sie trugen alle Trauer – schwarze Kleider, Schuhe, Strümpfe, lange Handschuhe, kleine Hütchen, manche mit kurzen Schleiern. Einige hatten dunkle Sonnenbrillen aufgesetzt. Schmerzerfüllt waren die Gesichter der eleganten Versammlung. Eine sehr dicke Dame saß vor einem kleinen Harmonium und ließ die erstaunlich schlanken Finger über die Tasten gleiten.
»Merci, chérie, für die Stunden, chérie«, sagte Nora Hill ernst.
»Bitte?«
»Das war sein Lieblingslied«, erklärte Nora überschattet, während die dicke Dame am Harmonium weiterspielte und eine andere Dame laut zu schluchzen begann.
»Lieblingslied von wem?« fragte Manuel.
»Von Zigaretten-Wolfi.«
»Zigaretten-Wolfi?«
»Er war bei mir angestellt. Nicht nur als Zigarettenboy. Er half den Mixern, er half in der Küche, er war unerhört fleißig. Sie haben ihn nicht mehr gesehen. Er lag schon seit ein paar Wochen in der Klinik, als Sie zum erstenmal kamen. Gestorben, der arme Kerl. Heute war das Begräbnis auf dem Hietzinger Friedhof. Georg ging hin – für mich. In diesem Schnee kann ich mich nur schwer bewegen. Georg sagt, es war unerhört feierlich. Blumen und Kränze zu Bergen. Auch einen Knabenchor gab es. Der sang: ›So nimm denn meine Hände‹ …« Nora wies auf die Mattscheibe. »Das da sind die erschütterten Hinterbliebenen. Waren alle beim Begräbnis. Jetzt gedenken sie hier noch einmal des Verblichenen.«
»Das sind nur Frauen«, sagte Manuel erstaunt.
»Das sind nur Männer«, sagte Nora.
»Wie?«
»Nur Männer. Alles anständige Transvestiten. Zigaretten-Wolfis intimste Freunde. Ich sage doch, er war unendlich fleißig. Mit einundzwanzig mußte er sterben. Schrecklich. Schweres Unterleibsleiden …«
»Das sind Männer?«
»Aber gewiß. Der am Harmonium, der Dicke, ist ›Fette Ente‹. So wird er genannt.«
»Warum?«
»Er läuft sonst immer mit grünen Filzhüten herum. Und Enteriche haben doch grüne Köpfe. Ein ausgezeichneter Gynäkologe …«
Fette Ente begann ein neues Musikstück – ›Ave Maria‹.
Das Schluchzen wurde lauter. Ein als Frau verkleideter Mann gebärdete sich wie von Sinnen. Er weinte so laut, daß er manchmal das Spiel der Fetten Ente übertönte, wand sich wie in Krämpfen und drohte zusammenzusinken. Andere Trauergäste bemühten sich zärtlich um ihn, stützten seine Schultern, streichelten sein tränenverheertes Gesicht.
»Chinchilla«, sagte Nora. »Hat Zigaretten-Wolfi am meisten geliebt. Leidet entsetzlich unter dem Verlust.«
»Chinchilla?«
»Ein sehr bekannter Pelzhändler.«
Chinchilla war nicht zu beruhigen.
»Der arme Kerl«, sagte Nora. Chinchillas Gesicht war verwüstet, Maskara und Schminke vermischten sich mit Puder.
»Oh!« rief Chinchilla, »oh, Wolfi, Wolfi, mein Wolfi …«
Die Damen, die alle Herren waren, zeigten Erschütterung.
Mit tiefer Inbrunst spielte Fette Ente weiter ›Ave Maria‹ …
»Das also war damals Carl Flemmings Arbeitszimmer in seinem Appartement«, sagte Nora, den Apparat abschaltend.