14
Es hatte wieder zu schneien begonnen.
Das Licht verfiel.
In dem blauen Mercedes, der zwischen den Gruppen 73 und 74 parkte, saßen Irene Waldegg und Manuel Aranda. Der Motor lief, die Heizung war eingeschaltet, warme Luft rauschte. Knappe hundert Meter entfernt lag Clairons Leichnam. Schneeflocken sanken auf ihn, behutsam, stetig, schwerelos. Bald würden sie ihn zugedeckt haben, ihn und das viele Blut um seinen zerschmetterten Kopf.
In einem Hinterzimmer des französischen Reisebüros ›Bon Voyage‹ versuchten mehrere Männer, nun schon sehr unruhig, Sprechkontakt mit Clairon aufzunehmen. Es kam zu keiner Verständigung.
»Etwas ist passiert«, sagte Jean Mercier, im Zustand mühsam unterdrückter Panik. »Clairon hätte sich längst melden müssen. Nummer Null auch! Längst, alle beide! Etwas ist passiert …«
Ein Mann beim Sender sagte: »Nummer Drei hat doch vorhin gemeldet, daß ein Wagen vor dem ›Ritz‹ gehalten hat und drei Männer in das Hotel gegangen sind, die Kriminalbeamte gewesen sein könnten.«
»Sein könnten! Sein könnten! Vielleicht waren die drei völlig harmlos? Nummer Drei hat auch schon die Nerven verloren! Wunder ist es keines! Kriminalbeamte – wieso denn? Die Sache war todsicher. Es konnte einfach nichts schiefgehen …« Mercier begann im Raum hin und her zu eilen. »Und es ist doch etwas schiefgegangen! Aber was? Aber wie? Diese Warterei macht mich verrückt!« Er sah einen Papiersack auf einem Tisch und blickte abwesend hinein. Ein niedlicher scharlachroter Spielzeug-Fuchs mit schwarz-weißer Schnauze lag darin …
Es hatte lange gedauert, bis Irene Waldegg ihre Fassung wiederfand. An Manuel geklammert, von ihm gestützt, hatte sie an Valerie Steinfelds Grab einen schweren Weinkrampf erlitten. Manuel ließ sie weinen, er wußte, er konnte nichts anderes tun. Er hielt sie fest in den Armen und strich über ihren Rücken, und sie schluchzte und bebte, und zweimal rief sie noch den Vornamen der Toten. Endlich ließ sie sich zu dem Mercedes zurückführen. In dem hohen Schnee wäre sie dabei fast gestürzt.
»Wo ist meine Brille?« fragte Irene nun, im Wagen.
»In meiner Tasche.«
»Bitte!«
Er reichte ihr die Brille, und sie setzte sie wieder auf.
»Ich kann so nicht herumlaufen. Meine Augen sind vollkommen verquollen. Sie haben es ja gesehen.«
»Ja«, sagte Manuel. Er berührte ihre Hand. Sie blickte ihn durch die dunklen Gläser an. »Wenn Sie wollen …«
»Wenn ich was will?«
»Wenn Sie wollen … ich meine, wenn es recht ist … das heißt …« Er kam ins Stottern. »Ich … ich habe Ihnen zuerst mißtraut … Ich … ich mißtraue allen Menschen hier, das ist doch nur natürlich, nicht wahr?«
Sie nickte.
»Jetzt … jetzt mißtraue ich Ihnen nicht mehr. Ich bin sicher, Sie haben Ihre Tante so geliebt wie ich meinen Vater. Ich … ich glaube jetzt daran, daß sie beide gute Menschen waren … Ihre Tante und mein Vater. Um so größer ist das Geheimnis ihres Todes.«
Irene schwieg.
Ich muß mit dem Hofrat Groll reden, dachte Manuel. Ich will ihm alles erklären. Er wird es verstehen, da bin ich sicher. Auch wenn er sich mein Ehrenwort hat geben lassen, daß ich nicht sprechen werde darüber. Er wird mir erlauben, diese junge Frau einzuweihen. Bis dahin will ich schweigen, natürlich. Manuel sagte: »Wollen wir zusammen versuchen, die Wahrheit zu finden?«
»Ja«, sagte Irene leise.
Er strich über ihren Arm.
Sie zog ihre Hand zurück und sah in die beginnende Dämmerung hinein. Es folgte eine lange Stille. Auch Manuel blickte nach vorn. Dann, plötzlich, fühlte er zart wieder ihre Finger auf den seinen. Er wandte nicht den Kopf, und auch sie bewegte den ihren nicht.