5

Die Krähen schrien, die Krähen kreischten, die Krähen krächzten.

»Nichts«, sagte Irene Waldegg, den Wagen langsam und vorsichtig lenkend. »Nichts, nichts gibt es! Man kann den Verstand verlieren, wenn man immer wieder daran denkt. Ich finde keine Erklärung, kein Motiv. Nicht das abwegigste, nicht das unwahrscheinlichste. Es ist alles ganz unwirklich …«

»Aber Valerie Steinfeld ist tot«, sagte Manuel Aranda. »Und mein Vater ist tot. Das ist nicht unwirklich. Das ist die Wirklichkeit! Valerie Steinfeld hat meinen Vater vergiftet. Dann hat sie selber Gift genommen. Nach Ansicht der Polizei gibt es darüber keinen noch so geringen Zweifel.«

Irene Waldegg sagte: »Der Hofrat Groll ist ein kluger, erfahrener Mann. Und es sind ausgesuchte Spezialisten, die mit ihm arbeiten. Hat Groll Ihnen ein Motiv nennen können? Einen Grund? Ach, Grund! Den kleinsten Anhaltspunkt nur?«

Vorsicht, dachte Aranda. Ich habe dem Hofrat mein Ehrenwort gegeben, darüber zu schweigen.

Aranda hatte sich in der kurzen Zeit seines Wiener Aufenthalts lange und mehrmals mit dem hohen Polizeibeamten unterhalten. Er wußte vieles über viele Menschen.

Ich weiß eine Menge, wovon du nichts ahnst, dachte Aranda, die junge Frau von der Seite betrachtend. Aber ich werde dir nichts davon verraten. Ich wäre ein Schuft, wenn ich es täte, denn der Hofrat vertraut mir. Ich vertraue dir nicht, ich wäre verrückt, wenn ich einem von euch vertraute!

»Nein, nicht den kleinsten Anhaltspunkt«, log Manuel Aranda.

Irene Waldegg fuhr um den runden Platz vor der Kirche. Vom tiefverschneiten Dach und von allen Mauervorsprüngen hingen schwere Eiszapfen herab. Die junge Frau bog in eine Allee ein, die nach Südwesten führte.

»Seit wann kennen Sie den Hofrat Groll?« fragte Aranda.

»Seit … jenem Abend. Er ließ mich von seinen Männern holen und in die Buchhandlung bringen – damit ich meine Tante identifizierte, und zu einem ersten Verhör.« Irene Waldegg hob die Schultern. Sie schauderte. »Es war furchtbar. Die beiden sahen entsetzlich aus. Das Gift hatte …«

»Schon gut«, sagte er. »Aber Sie konnten Ihre Tante identifizieren.«

»Sofort.«

»Und meinen Vater?«

»Ich habe Ihren Vater nicht gekannt, Herr Aranda!«

»Sind Sie sicher?«

»Vollkommen sicher.« Wenn sie log, war sie die geborene Lügnerin.

»Hat Ihre Tante jemals seinen Namen erwähnt?«

»Niemals. Da bin ich auch ganz sicher. Ich sage Ihnen ja, es ist zum Verrücktwerden!« Ja, du sagst es, dachte er. Ein wenig zu häufig sagst du es.

»Sie haben mit Frau Steinfeld zusammengelebt?« Aranda sah Irene Waldegg noch immer an. Ein schönes Gesicht. Ein offenes Gesicht. Aber ich kann die Augen nicht sehen, dachte er. Was für Augen hat diese Frau? »Ich glaube, ich hätte doch ein Taxi nehmen sollen«, sagte diese Frau ruhig.

»Was heißt das?«

»Das heißt, daß ich genug von diesen Fragen habe. Sie wissen doch genau Bescheid! Der Hofrat hat Ihnen doch alles gesagt! Meinen Sie, Sie könnten mich bei einer Lüge ertappen? Sie halten mich für schuldig, immer noch. Ich nahm Ihre Entschuldigung vorhin ernst – leider.«

So geht das nicht, dachte er. Diese Frau ist keine Idiotin. Ich, ich bin es, der sich wie ein Idiot benimmt. Er sagte: »Die Entschuldigung war ernst gemeint, wirklich. Ich bin nur völlig kopflos und ratlos. Ich … ich werde Ihnen sagen, was ich weiß, was der Hofrat mir erzählt hat! Sie haben mit Frau Steinfeld zusammengewohnt, Ihrer Tante, ja! In der Wohnung von Frau Steinfeld in der … den Straßennamen habe ich vergessen.«

»Gentzgasse.«

»Gentzgasse, richtig. Sie sind Apothekerin. Die Möven-Apotheke in der Lazarettgasse gehört Ihnen. Sie haben da zuerst bei Ihrem Onkel gearbeitet, und als der vor drei Jahren starb, erbten Sie das Geschäft.« Das ist der bessere Weg, dachte Aranda. Sie darf nicht von vornherein meine Feindin sein. Sonst komme ich niemals weiter. Sie sitzt schon nicht mehr so verkrampft da, ihr Gesicht ist schon etwas weicher geworden.

»Sie haben Spikes an den Rädern, nicht wahr?« fragte Irene Waldegg.

»Ja.« Er runzelte irritiert die Brauen und fuhr fort. »Frau Steinfeld war nicht Ihre einzige Verwandte. Das weiß ich auch. Ihre Eltern leben im Süden Österreichs, in …«

»Villach«, sagte sie. »Das liegt in Kärnten. Ich bin nach Wien gekommen, um hier zu studieren.«

»Ja, das hat mir der Hofrat erzählt. Und Frau Steinfeld hat in dieser Buchhandlung Landau in der Seilergasse gearbeitet.«

»Waren Sie schon dort?«

»Ich war noch bei niemandem. Keine Zeit, das sagte ich doch. Ich wollte heute noch hingehen. Aber zu allererst wollte ich das Grab von Frau Steinfeld sehen.«

Irene Waldegg sagte: »Den Buchhändler Martin Landau und seine Schwester hat der Hofrat auch gleich noch am Abend rufen lassen. Auch die beiden hatten Ihren Vater niemals zuvor gesehen und seinen Namen niemals zuvor von meiner Tante oder sonst jemandem gehört. Das ist Ihnen bekannt, nicht wahr?«

»Ja, das ist mir bekannt. Können wir … können wir nicht ein wenig freundlicher miteinander sprechen, Fräulein Waldegg? Sie sehen doch, ich gebe mir Mühe, mich zu beherrschen, gerecht zu sein, freundlich …« Sie antwortete nicht. Aber sie nickte kurz.

»Ich weiß, daß Ihre Tante schon lange in dieser Buchhandlung gearbeitet hat. Wie lange? Das weiß ich nicht, wirklich nicht.«

»Eine Ewigkeit.« Zum erstenmal klang ihre Stimme weicher. »Sie war dort schon angestellt, als ich geboren wurde. Ich bin einunddreißig. Seit 1938 hat Valerie da gearbeitet.«

»Valerie?«

»Ich nannte sie nur Valerie. Sie hatte das lieber. Sie meinte, es macht sie jünger.« Irene Waldegg bog in eine neue Allee ein. Hier war kein Mensch mehr zu erblicken. Die neue Allee lief geradeaus. »Zuerst war Valerie als Verkäuferin angestellt, glaube ich, dann, nach dem Krieg, als Erste Verkäuferin, und seit zwölf Jahren als Prokuristin.«

»Und an dem Tag, an dem es passierte, was war da?«

Irene Waldegg schaltete einen Gang zurück, denn eine große Fläche Glatteis lag vor ihnen. Die junge Frau schwieg, und sofort flackerte wieder Mißtrauen, Argwohn in Aranda auf. Legte sie sich eine gute Lüge zurecht, endlich eine Lüge, wie?

»Nun!«

»An dem Tag, an dem es passierte …« Irene Waldegg brach ab.

»Ja! Heute vor einer Woche!«

Sie sprach mit Mühe ruhig: »Wir gingen am Morgen gemeinsam aus dem Haus, Valerie und ich. Wir sind immer gemeinsam gegangen. Ich brachte sie mit dem Wagen in die Buchhandlung, bevor ich zur Apotheke fuhr.« Sie bemerkte nicht, wie sie plötzlich in der Gegenwart sprach: »Das geht schon so, seit ich den Wagen besitze, jahrelang. Nur immer dann nicht, wenn ich Nachtdienst habe. Morgen zum Beispiel.«

»Morgen was?«

»Heute habe ich Nachtdienst. Da kann ich Valerie morgen früh nicht in die Buch …« Irene Waldegg brach ab. »Schrecklich«, sagte sie. »Ich habe mich noch nicht daran gewöhnt, daß sie tot ist.« Sie fuhr sich mit einer Hand über die Stirn. Die Geste rührte Aranda. Diese Frau hat einen Menschen verloren – genau wie ich, dachte er. Sie ist verzweifelt – genau wie ich. Ratlos, verwirrt, angsterfüllt, zornerfüllt – wie ich. Nein, das ist kein Theater, das sie mir vorspielt. Vielleicht habe ich einen Menschen gefunden in dieser Stadt des Zwielichts, die eine der schönsten Städte der Welt ist, einen Menschen unter Millionen, dem ich doch vertrauen darf?

»Valerie war so lustig an dem Morgen«, sagte jener Mensch.

»Warum?«

»Sie hatte einen Farbfernseher gewonnen. Beim Preisausschreiben einer Zeitung. Sie machte immer alle Preisausschreiben mit – solange ich zurückdenken kann. Sie sagte: Einmal hat jeder Mensch Glück.«

»Einmal hat jeder Mensch Glück«, wiederholte er laut. »Das hat Frau Steinfeld bei einer anderen Gelegenheit auch gesagt. Bei einer ganz anderen Gelegenheit.«

Wieder schauderte sie.

»Ja, ich weiß.«

»Weiter«, sagte er. »Erzählen Sie weiter.«

Sie begann leise: »Niemals gewann sie etwas. Aber an diesem Tag – ich meine, am Abend vorher, als sie heimkam – lag ein Brief von dieser Zeitung da. Eine Benachrichtigung, daß sie gewonnen hätte. Valerie sah so gern fern …« Irene Waldegg sagte verloren: »Inzwischen ist der Apparat gekommen. Ein sehr schönes Modell …« Wieder bog sie ab. Die Landschaft wurde immer gespenstischer, die Schneeberge zu beiden Seiten der Allee wuchsen höher und höher an.

Aranda sagte: »Ihre Tante ist nicht mehr heimgekommen an jenem Abend. Hat Sie das nicht beunruhigt?«

»Zuerst nicht. Sie kam häufig später – es war oft noch viel zu tun nach Geschäftsschluß. Natürlich, als es neun wurde, machte ich mir Sorgen. Das Wetter war so schlecht. Schneesturm. Ich dachte an einen Unfall. Und ich wollte eben in der Buchhandlung anrufen, da klingelte es … Die Kriminalbeamten kamen, um mich zu holen.«

»Sie haben also nicht mehr mit Ihrer Tante telefoniert.«

»Nein.«

»Aber Valerie Steinfeld, die hat telefoniert.«

»Ja«, antwortete Irene Waldegg leise. »Ich habe das Gespräch gehört.«

»Ich auch«, sagte Manuel Aranda. »Dreimal.«

Und Jimmy ging zum Regenbogen
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