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Dr. Raphaelo Aranda sprach mit angenehmer, ruhiger und tiefer Stimme. Er sprach in fast akzentfreiem Englisch. Die Stimme eines Toten ertönte, dozierend, klar, überdeutlich fast. Manuel saß reglos, die Hände auf den Knien. Schon einmal hatte er die Stimme eines Menschen vernommen, der tot war – Valerie Steinfelds Stimme. Und, wie um ihn immer und immer wieder darauf hinzuweisen, darauf hinzustoßen, daß diese beiden, sein Vater und Valerie Steinfeld, zusammengehörten, untrennbar und unlösbar, daß sie eins waren, auch noch im Tode, über den Tod hinaus eins, eins, eins, erklang nun die Stimme von Manuels Vater.
»Wir wissen«, sagte diese wohlklingende Stimme, »daß bakteriologische und chemische Waffen unendlich wirksamer sind als selbst Wasserstoffbomben. Zum einen können alle B- und C-Waffen ohne besondere Kosten hergestellt werden; zum andern bringen insbesondere B-Waffen mit einem Bruchteil des Risikos und einem Bruchteil des Aufwands eine millionen- und milliardenfach größere Erfolgsquote. Im Falle des von uns entwickelten Nervengiftes AP Sieben kann man getrost von einer trilliardenfachen Quote sprechen …«
Auf der silbernen Kinoleinwand des kleinen Vorführraums im Keller des Sicherheitsbüros erschien eine Graphik. Ein 16-Millimeter-Farbfilm lief ab. Er war mit Magnetton versehen. Die große Rolle hatte sich in dem schwarzen Karton befunden, der Groll und Manuel auf dem Westbahnhof ausgehändigt worden war.
»Wie hat mein Vater das nach Wien gebracht?« hatte Manuel gefragt, als er, noch im Wagen, die Filmrolle erblickte.
Groll hatte aus dem Fenster gesehen.
»Jemand von der argentinischen Botschaft war bei Ihnen, nicht wahr? Die Herren sind besorgt. Es gibt diplomatische Kuriere. Was sie befördern, wird nicht geöffnet und beim Zoll nicht untersucht. Ich könnte mir vorstellen, daß Ihr Vater …«
»Ach so.«
»Er wird ja wohl noch eine zweite Kopie des Films gebraucht haben.«
»Eine zweite?«
»Nun ja, für die Amerikaner und Russen«, hatte Groll gesagt.
Die Stimme des Dr. Raphaelo Aranda erklang, freundlich und bestimmt. Sie erläuterte die Graphik des Films: »Um alles menschliche, tierische und pflanzliche Leben auf der Fläche eines Quadratkilometers Erde zu vernichten, braucht man nach den Berechnungen des Mikrobiologen Professor Meselson von der Harvard-Universität rein quantitativ …« – ein Stab fuhr die Graphik ab – »… von dem amerikanischen Nervengift Sarin – zehn Tonnen. Es bildet sich da eine giftige Wolke in einer Höhe von hundert Metern …« Weiter glitt der Stab über die schwarzen Linien auf gelbem Grund. Weiter ertönte die Stimme von Manuels Vater: »Bei einer Wasserstoffbombe – ein Kilogramm. Bei giftigen Bakterien – ein Zehntelgramm. Bei giftigen Viren – ein Tausendstelgramm …« Die Stimme hob sich: »Bei unserem neuen Kampfstoff AP Sieben benötigt man – nicht mehr als ein halbes Tausendstelgramm …«
Manuel stöhnte.
Die Starre weicht, dachte Groll. Er sah den jungen Menschen besorgt an. Und ich kann dir nicht helfen, dachte er, ich kann dir nicht helfen. Niemand kann das. Die Filmapparatur stand zwischen ihnen auf einem festen Tisch. Vor dem Eingang des schalldichten Kellerraumes hatte der Hofrat zwei Beamte postiert. Weitere hielten sich im Stiegenhaus und beim Tor des Sicherheitsbüros auf. Im Widerschein der Leinwand sah Groll, daß Schweißtropfen auf Manuels Stirn traten.
Die Graphik verschwand.
Das Bild eines weiß und silbern blinkenden Laboratoriums erschien. Gestalten in orangeroten Schutzanzügen, Schutzstiefeln, Schutzhandschuhen, Kapuzen und Gasmasken bewegten sich gespenstisch darin. Mitten im Raum stand ein Zuchtstier, dessen Beine mit Ketten festgehalten wurden. Einer der Gespenstermänner preßte eine hohle Halbkugel aus Gummi mit der aufgeschnittenen Seite gegen Maul und Nüstern des Tieres. Von der Halbkugel lief ein Schlauch zu einem Gerät, an dem ein zweiter Gespenstermann einen Schalter betätigte. Im nächsten Moment brach der Stier zusammen. Aus seinem Maul, das nun wieder frei war, troff Schaum. Die Augen, weit aufgerissen, zeigten nur Weißes. Das Tier war tot.
Die Stimme von Manuels Vater kommentierte sachlich und freundlich: »Der Stier atmete fünfhundert Kubikzentimeter Luft ein, in denen sich nur zehn Moleküle AP Sieben befanden. Das Einatmen des Kampfstoffes bewirkt augenblicklichen Kreislaufstillstand und damit den sofortigen Tod …«
Ein Beben ging durch Manuels Körper.
Die Bilder auf der Leinwand wechselten. Sie zeigten Luftschleusen, Ultraviolettleuchten zum Sterilisieren der Luft, andere Laboratorien, wobei die Filmstimme des Vaters erklang: »… infolgedessen ist AP Sieben das ideale Aerosol – ein Mittel, das in staubfeiner Tröpfchenform der Größenordnung von einem Mikron, also einem Tausendstel Millimeter Durchmesser, aus Flugzeugen, Raketen oder Ballons abgesprüht werden kann. Tröpfchen von solcher Kleinheit durchdringen in Sekundenbruchteilen die Alveolen der Lunge, wie diese Sprühversuche zeigen …«
Die Aufnahmen waren gestochen scharf.
Käfige mit Hunden, Vögeln, Meerschweinchen, Kaninchen, Aquarien mit Fischen.
Kameras fuhren über diese Behausungen hin. Alle Tiere waren gesund und munter.
Die Kameras fuhren auf ihren Schienenwegen zurück.
In den Käfigen und Aquarien lagen sämtliche Tiere tot, verendet.
Die Filmstimme des Vaters: »… aber nicht nur durch Einatmen, auch durch Berührung mit der Haut tötet AP Sieben in weniger als fünf Sekunden jedes Lebewesen …«
Jetzt erschien im Bild ein Schimpanse, gleichfalls gefesselt. Ein völlig vermummter Mann ließ aus einer Pipette mit haardünner Öffnung – Großaufnahme – den kaum sichtbaren Tropfen einer farblosen Flüssigkeit auf den Rücken des Tieres fallen. Der Schimpanse zuckte zusammen, sein Körper verkrampfte sich gräßlich. Er brach in die Knie, seinen Leib schüttelten Zuckungen – ganz kurz nur. Dann war auch dieses Tier tot.
»… andere Sprühversuche beweisen, daß AP Sieben mit der gleichen Perfektion und Schnelligkeit auf alle Pflanzen wirkt …«
Neue Aufnahme.
Bäume, Gras, Blumen und Getreide in großen Glashallen.
Von einem Moment zum andern waren die leuchtenden Farben verschwunden, die Bäume entlaubt, die Blumen, das Gras und das Getreide verwelkt, in sich zusammengesunken, schwarz …
»AP Sieben ist kälte- und hitzebeständig … und deshalb unter jeder Gegebenheit einsetzbar …
Bilder immer neuer Räume erschienen auf der Leinwand, immer neuer Tiere im Augenblick ihres blitzschnellen Todes. Immer neue vermummte Gestalten und blitzende Apparaturen waren zu sehen …
Aufnahmen durch ein Mikroskop. Man sah winzige kugelförmige Gebilde.
»… das ist der Bazillus Clostridium venenatissimum. Über die Methoden seiner Zucht und der Isolierung seines Toxins soll hier nicht gesprochen werden …«
»Nein, darüber werden wir alles in dem entschlüsselten Bericht lesen«, sagte Groll. »Clostridium – das ist die Gruppe äußerst bösartiger Bakterien, zu denen die Erreger von Wundstarrkrampf und Gasbrand gehören. Und ›venenatissimum‹ sagt alles: ›der giftigste‹ Bazillus!«
»… an dieser Stelle nur soviel: Wir entdeckten den Erreger bei einer kleinen Nagetierart Argentiniens. Nach Isolierung seines Toxins testeten wir sämtliche bekannten Schutz- und Gegenmittel. Es gibt bislang kein solches Schutz- oder Gegenmittel. Alle Impfstoffe bleiben wirkungslos …«
Andere Räume, steril, blitzend, sauber, mit Affen und Ziegen gefüllt – eben noch lebend, im nächsten Moment tot.
»Dies sind Versuchstiere, die mit stärksten Antistoffen geimpft wurden. Sie sehen: Keines dieser Mittel schützt im geringsten gegen AP Sieben …«
»Wo wurden diese Aufnahmen gemacht?« fragte Groll. »Das müssen doch geheime Laboratorien sein … gewiß in einem Sperrgebiet … Haben Sie eine Ahnung, Manuel, wo dieses Gebiet liegen könnte?«
Auf der Leinwand starben Tiere, große Tiere, kleine Tiere. In kleinen Räumen. In großen Räumen. Einzeln. In Massen. Es war, als liefe ein Film über ein Auschwitz der Tiere ab.
»Ich … ich habe keine Ahnung …«
»Sie haben mir mal erzählt, Ihr Vater sei oft auf Reisen gewesen.«
»Ja, das stimmt.«
»Reisen wohin?«
»Ich weiß es nicht … zu Zweigwerken unserer Fabrik, dachte ich immer. Er blieb nie lange weg …«
Als Begleitung all des Gräßlichen ertönte weiter die Stimme von Manuels Vater: »… feste Oberfläche der Erde beträgt 149 Millionen Quadratkilometer. Für den theoretischen Fall einer Ausrottung alles menschlichen, tierischen und pflanzlichen Lebens auf dem gesamten Festland würden rund fünfundsiebzig Kilogramm des konzentrierten Kampfstoffes genügen …«
Manuel rang nach Luft.
»Könnten es Auslandsreisen gewesen sein?« fragte Groll.
Manuel sagte etwas. Groll verstand nicht.
»Wie?«
»Ich … ich glaube nicht …«
»Was haben Sie?«
Groll sah, daß Manuel plötzlich beide Hände vor das Gesicht schlug, und hörte, wie er laut aufschluchzte.
Dann stammelte er: »Unfaßbar … ein Monstrum … ein Ungeheuer … Ich bin der Sohn eines Verbrechers …« Neuerliches Schluchzen. Manuel hob das Gesicht, er starrte Groll an. Seine Stimme zitterte: »Aber wie muß mein Vater gelitten haben!«
»Was heißt das?«
»Wer hat ihn gequält? Wer hat ihn verfolgt? Wer hat ihn erpreßt zu all dem?« rief Manuel mit sich überschlagender, zuletzt versagender Stimme. Er keuchte und schluchzte, Tränen rannen über sein Gesicht, Groll sah es im Widerschein der Leinwand.
Der Junge will die Wahrheit immer noch nicht wahrhaben, dachte Groll erschüttert. Er wehrt sich gegen sie. Es ist, trotz allem, sein Vater – der ›Verbrecher‹, das ›Monstrum‹. Er hört die Stimme seines Vaters, er, der Sohn, er, bei dem ich jetzt davor zittere, daß er in einer Panikreaktion das eigene Leben aufs Spiel setzt.
All das habe ich gefürchtet. All das wollte ich verhindern. Es ist mir nicht gelungen.
Nun wären wir soweit.