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»Dreieinhalb Millionen Juden gab es vor dem Krieg in Polen«, sagte Jakob Roszek. »Als die Vernichtungsaktionen Hitlers und der Krieg vorbei waren, lebten von diesen dreieinhalb Millionen noch fünfundzwanzigtausend. 1967, nach dem Sechstagekrieg der Israelis gegen die Araber, flammte der Antisemitismus in Polen wieder auf. Es war ein staatlich geschürter und gelenkter, systematischer Antisemitismus, mit dem Ziel der Vertreibung der letzten noch lebenden Juden. Im vergangenen Jahr haben rund zehntausend von ihnen die Heimat verlassen und sind auf dem Weg über Österreich nach Israel ausgewandert. Heuer werden es bestimmt mindestens wieder so viele sein. Wir haben das Ende der fast tausendjährigen Geschichte des polnischen Judentums erreicht.« Jakob Roszek rauchte hastig eine amerikanische Zigarette, die Aranda ihm angeboten hatte. Es war schon die vierte. Die fremde Zigarette, die Möglichkeit, frei zu reden, wirkten wie Rauschgift auf den großen Mann mit der starken Brille und dem sehr breiten, sehr blassen Gesicht.

Seine Frau saß still und in sich zusammengesunken neben ihm. Sie hatte in der letzten halben Stunde kaum zehn Worte gesprochen. Ihre Tochter, ein schönes junges Mädchen mit blondem Haar und blauen Augen, war die einzige an dem Tisch im Restaurant des Wiener Ostbahnhofs, eines riesigen grauen Betonbaus, die aufgeregt und hungrig ein großes Mittagessen verzehrte. Mit staunenden Blicken nahm sie das Bild der fremden Menschen, der fremden Welt, in die sie geraten war, auf. Roszek bemerkte, daß Manuel das junge Mädchen betrachtete. Er sagte: »Für Ljuba ist das alles etwas Neues. Meine Frau und ich kennen es schon. Für uns ist es das zweite Mal.«

»Sie sprechen deutsch wie ein Wiener«, sagte Irene.

»Ich stamme aus Wien! Meine Frau auch. Wir flüchteten nach Prag, als Hitler kam. Von Prag flüchteten wir nach Polen. In Polen landeten wir in derselben Untergrundbewegung. Da lernten wir uns kennen. Später waren wir bei den Partisanen. Da trafen wir Daniel Steinfeld. Auch er war über Prag nach Polen gekommen. Wir hatten unglaubliches Glück, alle drei. Wir überlebten«, sagte Roszek nach einer Pause.

Es war 14 Uhr 20, und es schneite immer noch.

Etwas mehr als sechs Stunden verspätet, hatte der ›Chopin-Expreß‹ endlich den Ostbahnhof erreicht – mit vereisten Fenstern, mächtige Eiszapfen an den Wagendächern und den Unterseiten der Waggons.

Eine Gruppe von rund dreißig Juden, meist älteren Leuten, war aus einem Waggon gestiegen und von zwei wartenden Männern in Empfang genommen worden.

Irene und Manuel erkannten Jakob Roszek sofort nach der Beschreibung, die Daniel Steinfeld von ihm gegeben hatte, und an dem dicken Buch, das er unter dem Arm hielt – Shakespeares Gesammelte Werke in polnischer Sprache. Mutter und Tochter trugen, wie von Daniel Steinfeld angekündigt, Pelzmäntel und weiße Seidenschals um das Haar …

»Herr Roszek!« Manuel eilte auf den Mann mit der dicken Brille zu, der inmitten der Gruppe von Juden stand, die hilflos und überwältigt von dem, was ihnen widerfuhr, in dem nun wieder heftigen Flockentreiben verharrten, Koffer, Aktentaschen und Bündel vor sich im Schnee.

Einer der beiden Männer, welche die Ankommenden erwartet hatten, stieß Manuel zurück.

»Was wollen Sie?«

»Was wollen Sie?« Manuel war wütend. »Wer sind Sie überhaupt?«

»Wir sind von der ›Jewish Agency‹«, sagte der zweite Mann.

»Wir tun nur unsere Pflicht. Bitte stören Sie uns nicht.«

»Ich muß mit Herrn Roszek sprechen!«

»Das geht nicht«, sagte der erste Mann gereizt.

»Wieso nicht?«

»Weil die ganze Gruppe von uns geschlossen sofort in ein Sammellager gebracht wird. Wien ist nur die Transit-Station. Es geht weiter nach Italien, und von Italien nach Israel.«

»Da! Sehen Sie, was Sie anrichten!« sagte der zweite Mann. »Die Leute sind doch halb zu Tode geängstigt.«

Tatsächlich hatten Kinder und ein paar alte Frauen zu weinen begonnen, Familienangehörige drängten sich zusammen, viele Menschen sprachen auf einmal, wichen vor Irene und Manuel zurück, riefen laut und angstvoll in deutscher und polnischer Sprache nach Hilfe und der Polizei.

»Mein Gott, ich hatte doch keine Ahnung …«, stammelte Manuel.

»Natürlich. Sie hatten keine Ahnung. Kein Mensch hat eine Ahnung«, sagte der erste Vertreter der ›Jewish Agency‹, während der zweite sich bemühte, die Aufgeregten zu beruhigen.

Jakob Roszek drängte sich vor. Auf einmal stand er dicht vor Manuel und Irene.

»Wer sind Sie?«

»Sie sollen doch hier erwartet werden, Herr Roszek«, sagte Irene.

»Ja, aber nicht von zwei jungen Leuten, sondern von einer älteren Frau! Valerie Steinfeld heißt sie.«

»Valerie Steinfeld konnte nicht kommen«, antwortete Irene, erstaunlich gefaßt. »Ich bin ihre Nichte. Wir erhielten den Brief von Daniel Steinfeld.«

»Was ist geschehen?«

»Das wollen wir Ihnen ja erzählen.«

»Sie stören. Sie halten uns auf. Gehen Sie doch, bitte! Sie können Herrn Roszek später besuchen. Im Lager. Geben Sie ihm Ihre Adresse und Telefonnummer«, sagte der zweite Mann von der ›Jewish Agency‹, jetzt freundlicher, aber sehr nervös.

»Wir wollen Herrn Roszek gleich sprechen«, beharrte Manuel.

»Unmöglich! Ein Bus wartet draußen. Wir müssen alle gemeinsam ins Lager bringen. Herr Roszek hat doch keine Personalpapiere und kein Geld.«

»Wieso keine Personalpapiere?«

»Die haben ihm österreichische Beamte an der Grenze abgenommen und uns hier zu treuen Händen überreicht. Damit kein Emigrant sich selbständig macht und etwa schwarz in Österreich zu bleiben versucht«, sagte der erste Mann von der ›Jewish Agency‹ bitter.

Manuel zog seinen Paß aus der Tasche.

»Hier, nehmen Sie das. Lassen Sie Herrn Roszek und seine Familie mit uns sprechen. Es ist wirklich dringend! Ich habe einen Wagen. Ich verspreche Ihnen, ich bringe die Familie ins Lager. Sie werden keine Schwierigkeiten haben.«

»Nein, das geht … Sie sind ja Argentinier!«

»Haben Sie nicht den Namen der Frau verstanden, die Herr Roszek hier erwartete?«

»Stein – irgendwas.«

»Steinfeld. Valerie Steinfeld! Sie leben doch in Wien – oder? Sagt Ihnen der Name nichts? Lesen Sie keine Zeitungen?«

»Zeitungen? Was ist los?« rief Roszek.

»Die Valerie Steinfeld?« fragte der erste Mann von der ›Jewish Agency‹, plötzlich alarmiert.

»Ja, die Valerie Steinfeld!« sagte Manuel. »Telefonieren Sie mit dem Hofrat Groll vom Sicherheitsbüro! Er kennt mich, und er kennt den Fall. Er wird Ihnen alles erklären. Er wird in Ihrem Auffanglager anrufen …«

»Was ist mit Valerie Steinfeld?« rief Roszek.

»Sie ist tot«, sagte Manuel, während eine heftige Bö die Gruppe in Schneestaub hüllte. »Sie hat meinen Vater vergiftet und danach Selbstmord begangen.«

»Gütiger Gott im Himmel«, stammelte Roszek. »Aber wieso … aber warum …«

Der erste Mann von der ›Jewish Agency‹ nahm Manuel am Arm.

»Kommen Sie«, sagte er, »wir telefonieren.« Er wandte sich an seinen Kollegen. »Geh du mit den anderen und dem ganzen Gepäck schon zum Bus.«

Zehn Minuten später saß die Familie Roszek vor Irene und Manuel im Restaurant des Bahnhofs. Sie hatte die Erlaubnis erhalten, zurückzubleiben unter der Voraussetzung, daß Manuel sie in das Lager brachte.

Irene und Manuel berichteten abwechselnd, was sich ereignet hatte. Roszek und seine Frau waren sehr erschrocken. Sie konnten nichts essen, sie bestellten bloß Kaffee. Das junge Mädchen hatte Appetit. Es verzehrte ein großes Menu. Ljuba sprach schlecht Deutsch und verstand nur einen kleinen Teil der Konversation. Sie stellte keine Fragen. Sie aß und sah staunend immer wieder um sich, als wäre sie auf einem anderen Planeten gelandet …

Und Jimmy ging zum Regenbogen
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