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»Ihr Vater war Chemiker, heißt es …?«
Irene Waldegg fuhr vorsichtig das Stück Allee zwischen den Gruppen 73 und 55 entlang. Beim letzten großen Rondell war ihr ein verlassener Wagen aufgefallen, der dort parkte.
»Chemiker, ja, und Biologe.« Manuel Aranda nickte. Sie sprachen jetzt wieder mit normalen Stimmen, leise und scheu, so, als schämten sie sich für ihr Betragen bei der Begegnung. »Er besaß eine Fabrik in Buenos Aires, die QUIMICA ARANDA.«
»Pharmazeutika?«
»Nein. Die QUIMICA ARANDA ist eine der Hauptherstellerinnen Argentiniens von Pflanzenschutz- und Insektenvernichtungsmitteln.«
»Also eine große Fabrik.«
»Sehr groß, ja. Deshalb wurde mein Vater auch als Vertreter seines Landes zu diesem Kongreß in Wien geladen. Pflanzenschutz-Experten aus der ganzen Welt trafen sich hier.«
Irene Waldegg fuhr über spiegelndes Eis. Es war nun sehr warm im Wagen.
»Sind Sie auch Chemiker?«
»Ich studiere noch. Letztes Semester. Aber ich habe natürlich schon in unseren Laboratorien gearbeitet – während der Ferien.«
Irene Waldegg bog in die Allee zwischen den Gruppen 73 und 74 ein. Sie fuhr langsam.
»Da vorne irgendwo ist es. Die Gruppe fängt hier an.«
»Der fünfte Weg, sagte der Pförtner.«
»Ja, der fünfte Weg. Schwer zu sehen bei dem Schnee. Vorgestern war wenigstens ein Pfad freigeschaufelt. Alles längst zugeweht.«
Aus der Ferne erklang ein leises Dröhnen, das rasch lauter wurde. Vom nahen Flughafen Schwechat war wieder einmal eine Maschine gestartet und schickte sich an, den Friedhof zu überfliegen.
»Das ist der zweite Weg …«
»Richtig«, sagte Aranda. »Ihre Tante – war sie einmal verheiratet?«
»Sie war es, ja. Ihr Mann ist noch während des Krieges gestorben.«
»Wo?«
»An der Front, glaube ich. Nach einer Verwundung. Ich weiß es nicht genau. Valerie hat nie gerne darüber gesprochen. Der dritte Weg …«
Das Dröhnen der anfliegenden Maschine war sehr laut geworden.
»Und Kinder hatte sie nicht?«
»Doch. Einen Sohn. Aber mit dem verstand sie sich nie. Leider. Der war bei Kriegsende noch keine zwanzig Jahre alt. Heinz hieß er, ich habe Fotos gesehen. Sieht nett aus auf den Fotos. Aber er vertrug sich nicht mit Valerie!« Irene Waldegg schrie jetzt beinahe, so laut war der Lärm des Flugzeugs geworden. »1947, als die großen Auswandererprogramme nach Kanada anliefen, hat er sich sofort gemeldet und ist fortgezogen. Ein Jahr später kam er dann bei einem Autounfall in Quebec ums Leben. Das war der vierte Weg. Und da vorne ist der fünfte!« Irene ließ den Mercedes ausrollen. Die Maschine war jetzt direkt über ihnen. Ihre Düsen röhrten, heulten und kreischten. Sie jaulten und donnerten und schienen das Flugzeug jeden Moment zur Explosion bringen zu wollen, als Irene den Wagen anhielt, die Handbremse zog und den Motor abstellte. Sie öffnete den Schlag an ihrer Seite und stieg aus.
Vater im Himmel, dachte Clairon. Er sah Irenes Kopf im Fadenkreuz der 98 k. Wer ist das Weib? Wie kommt es hierher? Da haben wir es, dachte Clairon erbittert. Verfluchte Klugscheißer! Was habt ihr jetzt für einen Salat angerichtet? Wo ist überhaupt Aranda? Der ist ja gar nicht da! Oder doch, da taucht er auf, hinter dem Wagen. Und was hat er in den Händen? »Hier müssen wir hinein«, sagte Irene. »Tatsächlich alles wieder zugeschneit. Und wie!«
Manuel hob den großen Zirkel über den Schneewall am Straßenrand, der den Eingang zum fünften Weg der Gruppe 74 versperrte, steckte ihn in den Schnee und sprang über den Wall. Er versank sofort tief, streckte die Arme aus und half Irene. Sie sprang ungeschickt, glitt aus, und einen Moment hielt er sie fest in den Armen, damit sie nicht hinfiel. Ihre Gesichter berührten einander. Hastig machte sie sich los. Er trat einen Schritt zurück.
»Ich gehe vor, und Sie treten in meine Fußstapfen«, sagte er.
»Aber Ihre Schuhe …«
»Sind hoch genug. Ihre Stiefel haben glatte Sohlen. Ich will nicht, daß Sie noch wirklich stürzen. Seien sie vorsichtig. Und sagen Sie mir, wie ich gehen soll.«
»Zuerst geradeaus bis zu der großen Fichte da vorne, dann links.«
Was ist das für ein Ding, das Aranda da schleppt? überlegte Clairon. Der Lauf der 98 k war jetzt in Bewegung, er rieb sich an der Engelszehe. Clairon verfolgte das Paar aufmerksam. Nun sah er groß Irenes Rücken im Zielfernrohr, sah den grauschwarzen Seehundmantel, sah, Sekundenbruchteile lang, die eine oder die andere Schulter Arandas, einen kleinen Teil seiner Pelzmütze.
Immer noch donnerte die Boeing 707, doch ihr Lärm wurde schnell geringer. Die Krähen begannen wieder zu schreien.
Gütiger Gott, dachte Clairon, was mache ich jetzt? Diese junge Frau, wer immer das ist, verdeckt mir dauernd diesen Aranda. Natürlich könnte ich sie zuerst erledigen. Aber das darf ich nicht. Was geschieht, wenn Aranda sich dann sofort hinwirft oder hinter einen Grabstein springt? Wenn er mir entkommt? Ich kann hier kein Schützenfest veranstalten. Ich muß unbedingt zuerst ihn treffen! Er ist mein Ziel, nicht die Frau. Die Frau erledige ich natürlich gleich hinterher, wenn es mit dem Repetieren so rasch klappt und sie sich nicht auch hinwirft oder versteckt. Ich darf kein Risiko eingehen. Junge, Junge, das ist vielleicht ein Mist. Na, es hilft nichts, ich muß Geduld haben und warten. Auch nicht unbedingt opportun, daß ich abdrücke, solange kein Flugzeug uns überfliegt und den Knall des Schusses verschluckt. Jetzt ist es – Blick auf die Armbanduhr – 14 Uhr 49. Um 15 Uhr 10 startet AIR FRANCE Flug 645 nach New York via Paris. Wollen wir warten und hoffen. Was sonst kann ich tun?
»Nach links! Ich helfe Ihnen tragen!«
»Nein, es geht sehr gut …«
»Unsinn!« Mit drei großen Schritten war Irene neben Manuel, gerade als er in einen tief verwehten Weg zwischen zwei Gräberreihen nach links einbog.
Ich werde verrückt, dachte Clairon. Nun verdeckt sie ihn wieder! Und wie! Irgend etwas für das Grab muß es sein, was sie da schleppen. Ist das eine beschissene Angelegenheit!
»Bei dem schwarzen Stein halb nach rechts«, sagte Irene. »Da vorne, zwischen den beiden Trauerweiden, da ist es.«
»Noch ein schönes Stück«, sagte er.
»Sie reden ausgezeichnet deutsch. Waren Sie schon einmal in Deutschland oder in Österreich?«
»Noch nie. Aber daheim haben wir auch immer deutsch gesprochen. Ich konnte es bereits als Kleinkind.«
»Stammen Ihre Eltern aus Deutschland?«
»Nein. Meine Mutter ist seit acht Jahren tot. Beide Eltern waren geborene Argentinier. Wie ich. Es ist drüben in vielen Familien üblich, zwei Sprachen zu sprechen. Französisch oder Deutsch meistens – oder Spanisch.« Sie stapften Seite an Seite durch den Schnee.
»Einen Weg hatten sie hier freigelegt, einen schmalen Weg … und jetzt!«
»Wer war beim Begräbnis?« fragte Manuel.
»Meine Eltern … Sie kamen aus Villach. Martin Landau und seine Schwester.« Irene sah Manuel an. »Und eine fremde Frau.«
»Was heißt das – fremde Frau?«
»Keiner von uns kannte sie.«
»Seltsam.«
»Seltsam, ja. Wir sprachen noch darüber.«
»Wie sah sie aus, diese Frau?«
»Das weiß ich nicht. Sie war verschleiert.«
»Verschleiert?«
»Tief. Und sie weinte sehr. Sie kam mit einem Wagen und war schon da, als wir eintrafen. Und sie fuhr als erste wieder fort. Es war … als ob sie nicht erkannt werden wollte …«
»Eine alte Frau? Eine junge?«
»Schwer zu schätzen – mit dem schwarzen Schleier. Anfang vierzig, würde ich meinen.« Irene Waldegg blieb stehen und holte tief Atem.
Auch er hielt an. »Nur einen Moment …«
»Vielleicht sollten wir nicht sprechen.«
»Es sind bloß meine Stiefel. Sie werden so schwer … Ja«, sagte Irene, »und dann war noch ich da, natürlich, und die drei Männer von dem Begräbnisinstitut. Wir fuhren hinter dem Totenauto her, Tilly Landau mit ihrem Bruder, ich mit meinen Eltern. Die Wagen parkten alle drüben auf der Allee …«
»Also eins, zwei … acht Menschen. Und ein Pfarrer«, sagte Manuel.
»Kein Pfarrer«, sagte Irene.
Es ist zum Jungekriegen, dachte Clairon. Da drüben steht er. Und dieses Weib dicht neben ihm. Dicht vor ihm. Verdeckt ihn völlig.
»Wieso kein Pfarrer?« fragte Manuel erstaunt.
»Selbstmord …«
»Aber da findet man immer einen Ausweg … Gemütsverwirrung … Störung der Geistestätigkeit …«
»Ja, so versuchte ich es auch. Nichts zu wollen. Sie hat doch …« Irene schluckte. »Sie hat doch vorher Ihren … vorher einen Mord begangen.«
»Natürlich«, murmelte er beklommen.
»Nur mit Schwierigkeiten erhielt ich die Erlaubnis für ein städtisches Begräbnis auf dem Zentralfriedhof.«
Sie stapften weiter durch den Schnee.
Clairon, hinter dem mächtigen Stein, unter dem großen Engel, trat von einem Fuß auf den andern. Er trug dicke Wollstrümpfe, aber nach all der Zeit begannen seine Zehen zu erstarren. Durch das Fernrohr beobachtete er das Paar, das sich immer weiter von ihm entfernte. Nichts zu machen, dachte Clairon. Die Frau verdeckt Aranda ununterbrochen. Ich muß Geduld haben. Wie oft habe ich schon Geduld haben müssen! Bekomme ich meine Chance vor 15 Uhr 10, riskiere ich es auch in der Stille. Dann heißt es eben schnell weg. Schöner wäre es natürlich, wenn ich es im Lärm der AIR FRANCE erledigen könnte. Um 15 Uhr 20 startet die SABENA. Und um 15 Uhr 30 eine SWISSAIR. Dazwischen, um 15 Uhr 25, soll eine BEA aus London landen. Ich weiß allerdings nicht, durch welchen Korridor sie kommt. Ich habe heute noch keine Maschine einfliegen gehört. Egal! Wenn es gar nicht anders geht, wenn sie schon wieder in den Wagen steigen wollen und ich habe keine Wahl, erschieße ich doch zuerst die Frau. Dann muß ich allerdings verflucht viel Glück haben, um Aranda richtig zu erwischen. Nun, dachte Clairon, wir wollen nicht gleich mit dem Ärgsten rechnen. Bisher hat Gott mir immer noch geholfen. Er wird es auch diesmal tun. Und mir vergeben. Das ist sein Beruf.
Irene Waldegg und Manuel Aranda standen vor Valerie Steinfelds Grab. Eine hohe Schneedecke hatte den Hügel zugedeckt. Sie stiegen beide auf ihn, Manuel bückte sich und zog ein schiefes, dünnes Holzkreuz aus der gefrorenen Erde. Danach steckte er die Spitzen des großen Zirkels in den knirschenden Schnee. Er fühlte, daß unter diesem große gefrorene Erdbrocken lagen, mit denen man das Grab zugeschüttet hatte.
So sieht das also aus, dachte Manuel, plötzlich ernüchtert und leidenschaftslos. Hier liegt die Frau, die meinen Vater ermordet hat. Ich wollte das Grab sehen, als erstes, unbedingt, heute noch. Ich habe mir weiß der Himmel was vorgestellt. Wie mir zumute sein, welche Empfindungen ich haben würde dabei. Ein Berg Erdschollen, vereist, unter Schnee, in einer Schneewüste. Das Grab dieser betagten Mörderin. Ich stehe auf ihm. Und was empfinde ich?
Nichts.
Nichts und nichts.
»Was immer sie getan hat – sie war der wunderbarste Mensch, den ich je gekannt habe …« Irene sprach mit dem Blick auf das Grab, für sich, nicht für ihn. Ihre Stimme war klanglos geworden. Sie redete wie in Trance. »… Valerie war so klug, nie konnte sie böse werden, alles verzieh sie immer sogleich, was man ihr auch antat. Für alles fand sie eine Entschuldigung, ein Motiv, eine Erklärung. ›Du mußt dich auch in die Lage des anderen versetzen‹ – wie oft habe ich das von ihr gehört …«
Aber auf dem Tonband, dachte Manuel, sind andere Worte dieser Frau festgehalten. Ganz andere Worte …
»Niemals hat sie gelogen. Sie war … so ehrlich. So ehrenhaft. Niemals hat sie mich im Stich gelassen. In all den Jahren, die wir zusammenlebten, gab es nie Streit, nie ein böses Wort … Die Reisen, die wir gemacht haben … an die Nordsee … nach Lugano … nach Capri … in die Normandie …«
Was für ein Nekrolog, dachte Manuel. Totenrede auf eine Mörderin.
»… Valerie … Ich … habe sie doch so geliebt …« Die Stimme sank zu einem Flüstern ab. »Mehr als alle anderen Menschen … Ja, sogar mehr als meine Mutter! Ich habe meine Mutter gerne, wirklich … Aber seit ich in Wien lebte, war Valerie meine Mutter … mehr als die wirkliche … und sie wurde es immer stärker, immer stärker …«
15 Uhr 01, dachte Clairon. Noch neun Minuten.
»Jetzt ist sie tot! Und ich bin allein, ganz allein. Was soll ich jetzt tun?« rief Irene mit der Stimme eines unglücklichen Kindes.
Manuel Aranda dachte plötzlich: Und ich? Wie war das mit mir, gestern vormittag?